1. Dezember 2004 Björn Harmening

Harte Runde

Insgesamt sieben Verhandlungsrunden waren nötig, um am 3. November 2004 zu einem Tarifabschluss bei VW zu kommen. Die sechste und siebte Runde wurden zu einem regelrechten Marathon von 48 Stunden. Das zeigt, wie hart man an der Grenze eines eskalierenden Konflikts war, aber auch auf beiden Seiten unter Druck stand, ein akzeptables Ergebnis zu erzielen.

Schon im Vorfeld versuchte Volkswagen, über die Presse Ressentiments in der Öffentlichkeit zu erzeugen. "Was verdient ein VW-Arbeiter?", fragte der SPIEGEL in einer Mai-Ausgabe (19/04) und stellte in einer Graphik mehrere Entgeltstufen vor. Dieselbe Graphik und Frage wurde am 10. Mai von der regionalen Presse übernommen (Braunschweiger/Salzgitter Zeitung) und mit mehreren Artikeln begleitet. Die verhältnismäßig guten Löhne bei Volkswagen sollten Neid und eine negative Grundstimmung gegen die "gierigen" VW-Arbeiter und die IG Metall erzeugen, wozu vor allem BILD mit einem angeblichen Durchschnittslohn von 4000 Euro, den die VW-Beschäftigten hätten, beitrug.

Auch der sich hervorragend auf öffentliche Auftritte verstehende Personalvorstand Peter Hartz hatte schon vor Beginn der eigentlichen Verhandlungen deutlich gemacht, in welche Richtung es diesmal gehen sollte: "Wer Kuchen backen will, der muss auch Eier zerschlagen!" war eine seiner medienwirksamen Aussagen. Volkswagen will seine Gewinn-, nicht seine Absatzprobleme in den Griff bekommen, und dafür sollen die Personalkosten um 30% verringert werden. Es ist dabei unerheblich, dass diese Kosten nur etwa 15% der gesamten Herstellungssumme ausmachen – an dieser Stelle kann man am einfachsten und schnellsten sparen.

Wie ernst es dem Vorstand mit seinem Vorhaben war, zeigte sich im weiteren Verlauf der Verhandlungen. Volkswagen drohte damit, im Falle einer Nichteinigung die sechs westdeutschen AG-Standorte nicht mehr mit neuen Produkten zu belegen, keine Auszubildenden mehr einzustellen und den unter dem Stichwort "4-Tage-Woche" berühmt gewordenen Tarifvertrag zur Beschäftigungssicherung zu kündigen. Dies geschah nicht nur intern, sondern öffentlich und beweist, dass es sich nicht um die üblichen Drohgebärden einer zum Ritual verkommenen Tarifauseinandersetzungen handelte. Vielmehr hätte dies die Gefährdung von mindestens 15.000 Arbeitsplätzen und das schnelle Ausbluten vor allem der kleinen Standorte bedeutet. Finanzvorstand Hans Dieter Pötsch sprach in der Presse sogar von 30.000 Arbeitsplätzen, die gefährdet wären (Wall Street Journal, 9.10.04), und setzte damit auch noch auf den Faktor Angst bei den Beschäftigten.

Einzigartig war vor allem auch, dass es zum ersten Mal in der Geschichte der Tarifverhandlungen bei VW das Unternehmen war, das Forderungen aufstellte – und zwar solche, die mit dem eigentlichen Grund der anstehenden Runde nichts zu tun hatten. Ausgelaufen und gekündigt war lediglich der Tarifvertrag über das Entgelt und die Ausbildungsvergütung. Alles andere waren im Grunde nur Nebenkriegsschauplätze, die nach und nach zur Hauptverhandlungsmasse mutierten und das Thema der von der IG Metall geforderten Entgelterhöhung um 4% in den Hintergrund drängten.

Durch den Vorstand legitimiert, stellte Peter Hartz am 23. August ein mehrere Punkte umfassendes Forderungspaket vor, das vor allem wieder durch die für ihn typischen Schlagworte auffiel: Co-Investment, Job-Familys und Demographische Arbeitszeit kamen darin ebenso vor wie die angebliche Beschäftigungssicherung für 176.000 MitarbeiterInnen. Die Grundforderungen bestanden aus:

  Nullrunde bei der Entgelterhöhung;

  demographische Arbeitszeit – hier sollten zunächst auf Basis der 35 Stunden die jüngeren ArbeitnehmerInnen länger arbeiten, die älteren dafür später kürzer;

  ein variables Plus/Minus Stundenkonto von 400 Stunden ohne Mehrarbeitszuschläge;

  Co-Investment – unentgeltliche Überstunden für die Belegung der Standorte, die das Unternehmen nach Bedarf abrufen könne;

  unbezahlte Mehrarbeit, um damit die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall zu finanzieren – dabei Sachleistungen aus einem so genannten Gesundheitskatalog;

  eine nur noch auf den Bedarf orientierte Zahl der zu übernehmenden Auszubildenden mit Leistungskriterien;

  begrenzte Bezahlung von Pausen- und Qualifizierungszeiten;

  Job-Familys – ein neues Einstufungssystem in Entgeltstufen, welches drei Klassen von Tätigkeiten (Kern-, Pool-, und Top-Jobs) unterschieden hätte.

Viele dieser Forderungen relativierten sich im Zuge der Verhandlungen, was teilweise auch an der Unmöglichkeit ihrer Umsetzung lag. So beinhaltete die als Beschäftigungssicherung ausgegebene "freiwillige Verpflichtung" zur Sicherung von 176.000 Arbeitsplätzen z.B. auch die KollegInnen bei Audi und der Volkswagen GmbH Sachsen – doch die befinden sich in anderen Tarifgebieten, über die der IG Metall Bezirk Niedersachsen/Sachsen Anhalt nicht zu befinden hat. Zudem trug die Tatsache, dass Volkswagen nicht nur klassische Industriearbeit, sondern offensichtlich auch die nicht unter Metall-Tarif stehenden Bereiche seiner Tochterunternehmen (z.B. die Kartenabreißer im Wolfsburger Fußballstadion), die Volkswagen Bank und verschiedene Regionsunternehmen zu den 176.000 zu sichernden Arbeitsplätzen zählte, nicht zur Begeisterung auf Seiten der IG Metall bei.

Ziel der Forderungspalette war, die Arbeitskosten durch unbezahlte Mehrarbeit und Absenkung des Lohnniveaus nach unten zu schrauben. Nach außen hin stellte sich das Unternehmen weiterhin als konstruktiv dar – schließlich würde man die Arbeitsplätze sichern und sogar noch die Zahl der Auszubildenden erhöhen wollen. Das alles stand zu einer Zeit zur Diskussion, in der die Ausbildung durch den so genannten Ausbildungspakt im Vordergrund des öffentlichen Interesses stand und die Beschäftigten von Karstadt, Siemens, Daimler und Opel um ihre Arbeitsplätze bangten. Doch so sozial, wie man scheinen wollte, war man nicht. Die Mär von der kooperativen Konfliktbewältigung bei Volkswagen wich auch hier einem entfesselten Kapitalismus, der sich nicht mehr an einem alternativen System messen muss und seit mehr als zehn Jahren immer stärker und offensiver auslotet, wie weit er gehen kann.

Die einzelnen Verhandlungsrunden waren nach Aussage der Kommissionsmitglieder ein ständiges Auf und Ab zwischen scheinbaren Annäherungen und echten Entfernungen voneinander. An den ersten beiden Terminen am 15. September und am 5. Oktober gab es keinerlei Einigungspotenzial. Bei der dritten Runde am 12. Oktober, die von sehr lebhaften Protesten der Auszubildenden vor dem Verhandlungsort begleitet wurde, schien hingegen eine erste Annäherung möglich. Nachdem VW offensichtlich eingesehen hatte, dass das Konzept der 176.000 nicht aufging, war man grundsätzlich bereit, einen Tarifvertrag über eine Beschäftigungssicherung abzuschließen. Doch nun waren es eben keine 176.000 mehr, sondern 99.000 Beschäftigte, über die man aus Sicht des Unternehmens bereit war, zu verhandeln – die Auszubildenden sollten außen vor bleiben.

"Endlich: VW bewegt sich!" titelten die "metall nachrichten" des Bezirks am 14. Oktober. Doch dieser Schluss war trügerisch, denn bei der nächsten Verhandlungsrunde am 21. Oktober verhärteten sich die Fronten wieder. Volkswagen war immer noch nicht bereit, über eine wirkliche Arbeitsplatzsicherung unter Einbeziehung der Auszubildenden zu sprechen und wollte zudem einen auf niedersächsische Fläche abgesenkten neuen Haustarif, wobei VW von einem "Besitzstand" für die heute Beschäftigten sprach, was einem Einfrieren der Löhne für mindestens zehn Jahre und einen enormen Verlust an Kaufkraft in der Region zwischen Wolfsburg, Braunschweig und Salzgitter bedeutet hätte.

Doch auch die fünfte Runde am 28. Oktober, kurz vor Ablauf der Friedenspflicht, brachte keine Einigung. Einige Mitglieder der Verhandlungskommission äußerten mittlerweile den Verdacht, dass Volkswagen die Verhandlungen absichtlich vor die Wand fahren wollte, um einen Konflikt zu provozieren. Parallelen zum Arbeitskampf um die 35 Stunden im Osten Deutschlands im letzten Jahr wurden gezogen – vielleicht wollte das Unternehmen ein ähnliches Scheitern der IG Metall erreichen.

Die KollegInnen waren inzwischen durch verschiedene Protestaktionen und die ständige Information über den Verlauf der Verhandlungen mehr als motiviert, es zu einem richtigen Arbeitskampf kommen zu lassen – obwohl sich so gut wie keiner mehr an einen echten Konflikt bei Volkswagen erinnern konnte. Die Grundstimmung war jedoch in vielen Gesprächen die, dass man sehr wohl nicht mehr mit einer Lohnerhöhung von 4% rechnete, jedoch die Absicherung der Arbeitsplätze und die weiterhin vollständige Übernahme der Auszubildenden als absolute Priorität betrachtete und auch bereit war, dafür vor die Werkstore zu gehen. Kurz nach Mitternacht vom 28. auf den 29. Oktober kam es somit auch in Hannover, Braunschweig und Kassel in den Nachtschichten zu ersten Warnstreiks. Salzgitter legte am 1. November bei einer "Fünf vor 12"-Aktion die Arbeit bis zum Feierabend der Frühschicht nieder und in Wolfsburg versammelten sich mehrere Zehntausend vor dem Verwaltungshochhaus, in dem auch der Vorstand seinen Sitz hat.

Ob diese Aktionen letztendlich einen Eindruck auf die Verhandlungsführung des Unternehmens machten, ist natürlich nicht nachzuweisen. Aber offenkundig wollte Volkswagen testen, inwieweit die Beschäftigten zu einem Kampf bereit waren. In einem internen Schreiben an alle Personalabteilungen wurde kurz nach Beendigung der Friedenspflicht festgelegt, dass die Fehlzeiten während der Warnstreiks nur noch durch Abzug von Entgelt, nicht mehr von Zeitguthaben abzurechnen seien. Wenn das tatsächlich ein Test der Kampfbereitschaft gewesen sein sollte, dann hatten die Beschäftigten ihn mit einer enorm hohen Beteiligung an den Aktionen in allen Werken mehr als deutlich beantwortet.

Fakt ist, dass auch beim Verhandlungsmarathon der letzten Runde vom 2. auf den 3. November die Stimmung wieder von einer anfänglichen Annäherung zu einem vollkommenen Scheitern zu kippen drohte. Volkswagen blieb bei seiner Salami-Taktik und holte immer neue Forderungen nach weiteren Einsparmöglichkeiten hervor. So kamen plötzlich die Abschaffung der traditionell bei VW als arbeitsfreie Tage eingestuften 24. und 31. Dezember, der Entfall des Jubiläumsgeldes bei 25-jähriger Betriebszugehörigkeit, die Abschaffung einer 3-Schicht-Pause, gewährte Kontoführungsgebühren und andere Sonderregelungen des Tarifvertrages auf den Tisch, mit denen man die eine oder andere Million einzusparen gedachte. Die Taktik ging aus Sicht des Unternehmens auf, denn mit dem Wegfall all dieser Forderungen "erkaufte" man sich schließlich die 400 Plus/Minus Stunden des so genannten Flexikontos für die Arbeitszeit. Schließlich kam man nach offensichtlich zermürbenden langen Stunden in wechselnder Besetzung der Verhandlungsgruppen am Mittag des 3. November doch zu einer Einigung, die in groben Zügen folgende Punkte umfasst:

  Beschäftigungssicherung mit Ausschluss von betriebsbedingten Kündigungen bis in das Jahr 2011;

  werksspezifische Regelungen für die Auslastung unter Mitbestimmungsverfahren für neue Produkte;

  Übernahme aller Auszubildenden in ein unbefristetes Arbeitsverhältnis – allerdings zukünftig nur noch zu 85% in der AG und zu 15% in der VW Tochter Autovision; die Ausbildungsvergütung sinkt auf Flächenniveau Baden-Württemberg, dafür werden ca. 185 zusätzliche Ausbildungsplätze bei der Autovision geschaffen;

  Einführung eines Flexikontos mit 400 Plus/Minus Stunden;

  ein neu zu gestaltendes Arbeitssystem "Demographie" ohne Arbeitszeitverlängerung, jedoch mit einem Arbeitszeitkonto, in das jeder Beschäftigte Mehrarbeitsstunden oder Entgelt freiwillig einzahlen kann;

  ein Entgeltstufensystem, das sich an ERA (Entgelt-Rahmen-Tarifvertrag) anlehnt und tarifliche Trennungen zwischen Arbeitern und Angestellten aufhebt;

  für Neueingestellte ein neuer Haustarif mit Bezugspunkt auf die Ecklohngruppe Baden-Württemberg auf Basis 28,8 bis 35 Stunden.

Kann man – sozusagen mit dem Herz eines Gewerkschafters – einer solchen Einigung zustimmen? Die Antwort ist: Ja, man kann! Angesichts der Ausgangslage ist das Ergebnis tarifpolitisch noch immer ein Erfolg. Aus der inzwischen langen Reihe von extrem ökonomisch orientierten Abschlüssen in Großunternehmen, die uns alle in der letzten Zeit beschäftigten, ragt die Einigung bei Volkswagen trotzdem heraus. Die IG Metall hat hier einen mehrjährigen Ausschluss betriebsbedingter Kündigungen erreicht, die Volkswagen angesichts der jährlichen Kündbarkeit des ursprünglichen Tarifvertrages zur Beschäftigungssicherung so gar nicht haben wollte.

Auch die Tatsache einer so genannten Gewitterklausel ändert daran nichts; auch wenn wieder der SPIEGEL (46/04) diese Klausel als Beleg dafür nimmt, dass die gesamte Einigung eigentlich "vage" sei, weil VW sie jederzeit mit dem Argument der wirtschaftlich schlechten Lage kündigen könne. Im Fall der Kündigung der neuen Beschäftigungssicherung würde jedoch automatisch der so genannte Schattentarifvertrag aus dem Jahr 1994 wieder wirksam werden – mit allen tariflichen Leistungen die dort vereinbart waren. Das sollte Hürde genug sein.

Gesellschaftspolitisch reiht sich der neue Abschluss natürlich in die vielen, teilweise katastrophalen Rückschritte der letzten Zeit ein. Es gibt einen realen Verlust an Kaufkraft mit all den bekannten negativen Folgen. Über das Ziel, endlich einmal wieder Neueinstellungen zu den bisherigen Bedingungen des Haustarifvertrags hinzubekommen, muss man sich jedenfalls keine Illusionen mehr machen, und die Auszubildenden haben den größten Brocken der Verschlechterungen zu tragen.

Das alles muss zudem vor dem Hintergrund betrachtet werden, dass der Volkswagen Konzern in seinem Zwischenbericht Januar-September 2004 (Wolfsburg, 28.10.04) ein operatives Ergebnis von insgesamt 1,9 Mrd. Euro erwartet und in vielen Bereichen des Automobilmarktes noch immer oder wieder führend ist. Die Produktion von Fahrzeugen ist allein in Deutschland um über 5% gewachsen, die weltweite Auslieferung an Kunden ebenfalls. Dennoch gibt es aufgrund der anhaltenden Rabattkriege, der Währungsschwankungen und der Verluste im Luxusbereich Gewinnprobleme.

Fast schon Realsatire ist die Aussage des Konzerns zur Lage der Binnenwirtschaft. "Die erhoffte Belebung des privaten Konsums blieb bisher aus", heißt es in dem Bericht. Gründe hierfür wären demnach vor allem "die anhaltend schlechte Arbeitsmarktlage und der Entzug von Kaufkraft". Der Kapitalismus entzieht sich selbst die Grundlage.

Dass es zu keinem besseren Ergebnis kam, liegt nicht an einer schwachen IG Metall, einem zu geringen Organisationsgrad oder einer Funktionärsebene, die einer Konfrontation lieber aus dem Weg geht, als sie zu führen. Schuld ist schlicht die Tatsache , dass man auf Betriebsebene nicht die Fehler der Politik und der gesellschaftlichen Entwicklung mit tariflichen Ankern wettmachen kann. Die Art und Weise, wie Volkswagen verhandelt und agiert hat, verdeutlicht ein weiteres Mal, auf welchem Niveau sich das Kapital inzwischen auf der Waage des Interessensausgleiches befindet. Jedem Kritiker des Ergebnisses der Tarifverhandlungen sei aber gesagt: Wenn wir solche Rückschritte zukünftig nicht mehr wollen, dann müssen wir versuchen, das Ruder zunächst gesellschaftlich und politisch wieder herumzureißen. Wir müssen die Trägen aufwecken, die Ängstlichen ermutigen und die Ahnungslosen aufklären, denn die Meinung einer breiten Öffentlichkeit hat viel mit dem Verlauf von Verhandlungen zu tun. Das darf nicht nur bei Volkswagen und in der umliegenden Region geschehen, sondern überall und ständig; aber das dauert sicher noch etwas länger als bis 2011.

Björn Harmening ist Mitglied der IG Metall Vertrauenskörperleitung bei VW Salzgitter und Redakteur von "der motor".

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