1. Februar 2010 Klaus Ernst / Alexander Fischer

Hartz IV für die Gesundheit

Spätestens nach den Landtagswahlen in Nordrhein-Westfalen wird die Gesundheitspolitik in das Zentrum der Auseinandersetzung rücken. Schwarz-Gelb strebt hier eine zentrale Machtprobe an. Der Koalitionsvertrag ist gesundheitspolitisch tatsächlich die "Ankündigung eines Systemwechsels" (Gerlinger/Urban 2010, S. 52).

Die Konsequenzen auf der Leistungsseite, vor allem die weitere Einschränkung und Rationierung von Leistungen und die Verschärfung der Tendenz zur Basisversorgung mit privaten Zusatzversicherungen sowie die geplante Privatisierung der Pflege, sind bereits von Hans-Jürgen Urban und Thomas Gerlinger beschrieben worden (ebd.). Die Konzentration der negativen Verteilungswirkungen durch die Einführung einer einkommensunabhängigen Kopfpauschale auf den Bereich der niedrigen und unterdurchschnittlichen Einkommen ist ebenfalls unumstritten (vgl. aktuell: IG Metall 2009).

Hier soll herausgearbeitet werden, dass die schwarz-gelben Pläne für einen Umbau der Finanzierung der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) eine konsequente Anwendung der bei den Hartz-Reformen und der Zerstörung der gesetzlichen Rente erprobten Prinzipien auf die Gesundheitsversorgung sind: die Ablösung der organisierten Solidarität in den Sozialversicherungen durch Grundversorgungssysteme mit Bedarfsprüfungen und die Auslieferung der durch Sozialversicherungen abgesicherten Risiken an den Finanzmarktkapitalismus.

Es handelt sich um einen Angriff auf die Bevölkerungsmehrheit. Die schwarz-gelben Pläne sind antizivilisatorisch, weil sie die Errungenschaft der "Krankenversicherung als Solidargemeinschaft" (§ 1 SGB V) in Frage stellen. Alle Menschen mit mittleren und unteren Einkommen wären im Lauf ihres Lebens von den negativen Auswirkungen betroffen. Für eine breite Mobilisierung muss der Widerstand an das Alltagsbewusstsein dieser Mitte der Gesellschaft anknüpfen.

Vom Abbau zum Abbruch

Allen Angriffen zum Trotz ist die GKV nach wie vor ein im Kern intaktes Sozialversicherungssystem. Intakt heißt nicht unbeschädigt. Aber das Grundprinzip der anteilig durch Arbeitnehmer und Arbeitgeber aufgebrachten einkommensbezogenen Beiträge ist nach wie vor erkennbar und steht für eine begrenzte Solidarität der abhängig Beschäftigten und eine Beteiligung der Arbeitgeber an den Gesundheitskosten. Genauso ist der Charakter des durch die GKV finanzierten Leistungssystems als weitgehende Vollversorgung, die allen Mitgliedern des Systems ohne Bedürftigkeitsprüfung und mit begrenzten Zuzahlungen zur Verfügung steht, nach wie vor als Zielvorstellung präsent. Vielfältige Angriffe haben bereits zu einer Deformierung der GKV geführt, die nicht irreparabel ist. Die Praxisgebühr war ein dramatischer Einschnitt und wird von den Patienten als "Eintrittsgeld" beim Arztbesuch empfunden. Die steigenden Zuzahlungen belasten die Versicherten erheblich. Die Rationierung und Vorenthaltung von Leistungen höhlt das Vertrauen in das Gesundheitssystem aus.

In der GKV wird das Verhältnis zwischen Beitragszahlung und Risikoabsicherung traditionell in kurzen Fristen hergestellt. Niemand fragt Versicherte im Krankenhaus, wie lange sie versichert sind und wie hoch der Beitrag im gesetzlichen System ist. Wer versichert ist, erhält die gesetzliche Leistung, egal wie lange und wie viel eingezahlt wurde. Das ist anerkannt und bedarf keiner Legitimation. Soziale Reformen wären in der GKV deshalb relativ schnell umzusetzen, wenn Leistungsverbesserungen (Abschaffung von Zuzahlungen, Praxisgebühr, Leistungsrationierungen und -einschränkungen) mit einer Verbesserung der Finanzierungsbasis einhergehen würden (durch Wiederherstellung der Beitragsparität zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern, Verbreiterung der Einnahmebasis durch Anhebung oder Abschaffung der Beitragsbemessungsgrenze und schrittweise Ersetzung des dualen Systems aus gesetzlichen und privaten Kassen durch eine solidarische Bürgerversicherung, in der auf alle Einkommen ein prozentualer Beitrag erhoben wird). Die soziale Reform wäre auch jetzt noch kein Systembruch, sondern eine Weiterentwicklung.

Im Bereich der Renten- und Arbeitslosenversicherung sind die Schäden bereits irreversibler. In der gesetzlichen Rente wurde mit Riester-Faktor (inklusive der zeitweisen Aussetzung), Nachhaltigkeitsfaktor, Rente ab 67, Sicherungsklausel und Rentengarantie bereits mit vielen Neben- und Nachwirkungen herumgemurkst. Die Rückabwicklung ist nur als tatsächlicher Neuanfang mit einem gesamtgesellschaftlichen Legitimations- und Mobilisierungsprozess denkbar. Ähnlich sieht es in der Arbeitslosenversicherung aus. Dort wurden mit der Abschaffung der Arbeitslosenhilfe und der Einführung der Grundsicherung Fakten geschaffen. Auch hier wäre statt einer Rückabwicklung ein von einer langfristigen und breiten gesellschaftlichen Mobilisierung getragener Neubeginn notwendig.

Das Schicksal der GKV ist offen. Der gegenwärtige Zustand und Charakter des Systems bieten Ansatzpunkte für organische soziale Reformen und für einen neoliberalen Zerstörungsangriff. Auch die geschwächte GKV dieser Tage ist im Alltagsbewusstsein eine Bastion der solidarisch finanzierten Risikoabsicherung. Genau das macht die GKV für neo­liberale Sozialstaatsverächter zu einem Hauptangriffsziel. Gesundheitsminister Philipp Rösler formulierte es im Bundestag unverblümt: Im Gesundheitswesen hieße Solidarität, dass die Gesunden den Kranken helfen. Der Ausgleich zwischen Arm und Reich aber sei im Gesundheitswesen "wenig treffsicher und deswegen … sozial ungerecht" (Deutscher Bundestag, Plenarprotokolle 17. WP, 5. Sitzung, 12.11.2009, S. 274). Damit hat Rösler die Grundrichtung vorgegeben. Gerade weil in der GKV noch keine irreparablen Schäden hervorgerufen wurden, muss das aus Sicht von Rösler dringend nachgeholt werden.

Von der organisierten Solidarität zur Vollprivatisierung

Das deutsche Gesundheitswesen ist ein Zwitter mit privaten und öffentlichen Elementen. Auf der Leistungserbringungsseite gibt es einen regulierten Gesundheitsmarkt, auf dem sich verschiedene Akteure tummeln, die um Einnahmen durch die Versorgung oder Belieferung von Patienten konkurrieren. Auch die GKV steht seit Jahren unter Finanzierungsdruck. Die "deutsche Krankheit" (Lohnsenkungen, Abbau von gesicherten Vollzeitarbeitsplätzen, Zunahme von befristeter, niedrig entlohnter und nicht abgesicherter Teilzeitarbeit; kampagnenartiger Legitimationsdruck auf die Erhebung von direkten Steuern und Sozialversicherungsbeiträgen) hat dafür gesorgt, dass die Einnahmen nicht mehr mit dem Ausgabenzuwachs (Preissteigerungen, medizinischer Fortschritt) Schritt hielten. Alle Leistungserbringer zusammen müssen mit immer restriktiver bewirtschafteten Etats kämpfen.

Aus der Perspektive der Überschussmaximierung bringt dieser Kostensenkungsdruck eine Verweigerung und Rationierung von Leistungen hervor. Auf der Einnahmeseite dominieren im Gesundheitswesen nach wie vor öffentliche Elemente. 68% der gesamten Gesundheitsausgaben wurden 2007 durch Beitragsgelder aus den Sozialversicherungszweigen aufgebracht, weitere 5% durch die öffentlichen Haushalte. Alle Sozialversicherungsträger zusammen finanzierten Gesundheitsausgaben in Höhe von knapp 171,5 Mrd. Euro. Lediglich ein reichliches Viertel der Gesundheitsausgaben wird demnach durch die private Krankenversicherung sowie durch Zuzahlungen und privat finanzierte Leistungen gedeckt.

Der Kern der schwarz-gelben Reformpläne zielt nicht zufällig auf die Veränderung der Finanzierungsbasis der GKV. Für abhängig Beschäftigte und Rentner, die in der GKV immer noch die Mehrheit der Versicherten stellen, soll die individuelle Beitragshöhe nicht länger als Prozentsatz vom individuellen Einkommen abhängen, der anteilig vom Versicherten (Arbeitnehmer oder Rentner) und seinem Arbeitgeber (bei Rentnern dem Rentenversicherungsträger) aufgebracht wird. Stattdessen soll für alle Zukunft der Arbeitgeberbeitrag für jeden Versicherten bei 7% des Bruttoeinkommens eingefroren werden. Der Arbeitnehmerbeitrag soll in Zukunft als einkommensunabhängige "Kopfpauschale" erhoben werden. Für jeden und jede Versicherte würde dann derselbe Beitrag fällig (Koalitionsvertrag 17. Legislaturperiode, S. 86).

Dieser Systembruch wäre für die Mehrheit der Versicherten unmittelbar mit erheblichen Zumutungen verbunden. Die Umstellung der Finanzierung auf eine Kopfpauschale bei Einfrierung des Arbeitgeberbeitrags würde zu einer Verschärfung der Unterfinanzierung des Gesundheitswesens führen. Wenn die Pauschale zu niedrig ist, fehlt das Geld für eine ordentliche Gesundheitsversorgung. Leistungen müssen gestrichen oder rationiert werden. Ist die Kopfpauschale zu hoch, können mehr Menschen den Beitrag nicht mehr zahlen und müssen entweder staatlich alimentiert werden oder fallen ganz aus dem System. Die Konsequenz wäre, dass das heutige System der eingeschränkten Vollversorgung zu einer Basisversorgung für rein gesetzlich Versicherte geschrumpft würde, während alle zusätzlichen Leistungen auch zusätzlich bezahlt oder privat abgesichert werden müssen (umfassend: Gerlinger/Urban 2010).

Die schwarz-gelben Pläne laufen, wenn sie konsequent zu Ende gedacht werden, auf eine Vollprivatisierung des Gesundheitswesens und auf eine Auslieferung der heute kollektiv abgesicherten Gesundheitsrisiken an den Finanzmarktkapitalismus hinaus. Es darf durchaus als Hinweis verstanden werden, wenn im Koalitionsvertrag der "Wettbewerb" zwischen den Krankenversicherungen als "ordnendes Prinzip" bezeichnet wird (Koalitionsvertrag 17. Legislaturperiode, S. 85). Man wolle, "dass das allgemeine Wettbewerbsrecht als Ordnungsrahmen grundsätzlich auch im Bereich der gesetzlichen Krankenversicherung Anwendung" finde, heißt es an anderer Stelle (ebd., S. 87).

In diesem Zusammenhang sei auf die bereits im Kontext der letzten Gesundheitsreform aufgekommenen Bedenken hingewiesen, ob die immer stärkere Aufweichung des Solidarprinzips in der GKV aus der Perspektive des europäischen Wettbewerbsrechts nicht zum Verlust der Legitimation der obligatorischen Krankenversicherung und des Krankenversicherungsmonopols führe (Kingreen 2007). Mit anderen Worten: Es ist denkbar und wahrscheinlich, dass die immer stärkere Assimilierung von privatwirtschaftlichen Elementen in der GKV an irgendeinem Punkt die rechtliche Legitimation und Existenz des gesamten Systems in Frage stellt. Wenn die gesetzlichen Krankenversicherungen den privaten Krankenversicherungen immer ähnlicher sind, warum sollen sie dann das Monopol auf die Versicherung von rund 70 Millionen Menschen haben?

Aus dieser Perspektive gäbe es nach Umsetzung der schwarz-gelben Pläne kaum noch unüberwindliche Gründe für die Aufrechterhaltung der Trennung von privaten und gesetzlichen Krankenkassen. Es wäre eine Dynamik in Gang gesetzt, die letztlich zu einer Öffnung des "Marktes" der gesetzlichen Krankenversicherungen für private Versicherungen führen würde. Denkbar wäre beispielsweise ein System, in dem alle Arbeitgeberbeiträge an den ja bereits bestehenden Gesundheitsfonds abgeführt werden, während um die "Kopfpauschalen" der Arbeitnehmer ein freier Wettbewerb privater und gesetzlicher Kassen tobt, zwischen denen dann die Versicherten "wählen" können. Die Krankenversicherung, die von einem Versicherten "gewählt" wird, bekäme dann als Einnahme die Kopfpauschale des Arbeitnehmers und die für den Versicherten zur Verfügung stehende Pauschale aus dem Gesundheitsfonds aus Arbeitgebermitteln. Damit wäre der "Versicherungsmarkt" im Bereich der Gesundheitsversorgung vollständig für private Anbieter geöffnet.

Die Kritik des Verbands der Privaten Krankenversicherungen an der Einführung der Kopfpauschale inklusive der Drohung des Rückzugs der Versicherungskonzerne aus dem Krankenversicherungsgeschäft ist dementsprechend auch nicht sehr ernst zu nehmen, vielmehr die Drohung, dass die privaten Versicherungen noch lange nicht das Ende der Deregulierungen sehen (anders dazu: Reiners 2010, S. 21). In diesem Kontext dürfte es auch von Interesse sein, dass mit Christian Weber ausgerechnet der stellvertretende Direktor des Verbands der privaten Krankenkassen als Abteilungsleiter für Grundsatzfragen in das Gesundheitsministerium einzieht (Ärzteblatt, 12.1.2010). Von dem beschriebenen Modell ist es ja nur ein kleiner Schritt zur faktischen Freigabe des Krankenversicherungsbeitrags für die Arbeitnehmer. Die Höhe der Kopfpauschale hätte dann in erster Linie die Funktion einer Rechengröße für den Sozialausgleich und wäre an die Definition eines minimalen Leistungskatalogs gebunden. Wer mehr Leistung will, muss eben mehr zahlen, bei welcher Kasse auch immer.

Um es noch einmal in Erinnerung zu rufen: Wir sprechen von Sozialversicherungsmitteln in Höhe von über 150 Mrd. Euro jährlich, mit denen die private Versicherungswirtschaft in den Gesundheitssektor hinein expandieren könnte. Über 70 Millionen Menschen sind heute gesetzlich versichert und damit potenzielle Kunden. Hinzu käme der immer lukrativer werdende Markt der Zusatzversicherungen für Leistungen, die die reguläre Krankenversicherung dann mangels Einnahmen u.U. nicht mehr anbieten kann. Eine Goldgrube für die wiedererstarkten Spekulanten in der Finanzbranche wäre erschlossen.

Von der kollektiven Risikoabsicherung zur Bedarfsprüfung

Unzureichend gewürdigt wurde bislang die praktische Konsequenz aus einer weiteren Worthülse, die im Kontext der schwarz-gelben Gesundheitspläne immer wieder auftaucht: der steuerfinanzierte Sozialausgleich. Damit soll suggeriert werden, dass sich durch den beabsichtigten Systemwechsel bei der Finanzierung des Gesundheitswesens für sozial Schwache keine Änderung ergeben wird. Hinter dieser Worthülse verbirgt sich ein bürokratisches Ungetüm, das hinsichtlich der Erfassung breiter Bevölkerungsschichten durch eine entwürdigende Bedarfsprüfungspraxis Hartz IV weit in den Schatten stellen könnte. Praktisch heißt steuerfinanzierter Sozialausgleich ja nichts anderes als, dass alle, die ein Einkommen unterhalb einer Grenze haben, Anspruch auf einen staatlichen Zuschuss haben. Dieser Zuschuss muss dann entweder individuell oder für den gesamten Haushalt beantragt und nach bestimmten Regeln bewilligt werden.

Die DGB-Vizechefin Annelie Buntenbach spricht denn auch von einer "Art Hartz-IV-System für die Krankenversicherung", das "bis weit in die Mittelschichten" reiche (DGB, Pressemeldung, 30.11.2009). Die Chefin der Krankenkasse Barmer-GEK, Birgit Fischer, geht davon aus, dass der Sozialausgleich mindestens 20 Mrd. Euro jährlich umfasse und 60% der Beitragszahler zu Ausgleichsempfängern mache (Barmer-GEK, Pressemeldung, 6.1.2010).

Versuchen wir uns zunächst die Dimensionen dieses Sozialausgleichs zu verdeutlichen. Im Jahr 2007 nahmen die gesetzlichen Krankenkassen insgesamt rund 156 Mrd. Euro an Beitragsmitteln ein (Quelle: Gesundheitsberichterstattung des Bundes). Wenn wir davon ausgehen, dass mit den gedeckelten Beiträgen der Arbeitgeber und der Rentenversicherungsträger zunächst rund 45% der Einnahmen erzielt werden sollen, dann blieben rund 86 Mrd. Euro durch die Kopfpauschale aufzubringen. Wenn die Kopfpauschale allein von den rund 50 Millionen selbst Versicherten aufgebracht werden soll (das hieße, dass die bisherigen Regelungen zur Familienmitversicherung beibehalten werden), dann müsste die Kopfpauschale bei rund 143 Euro pro Monat liegen (vgl. dazu die detaillierteren Berechnungen von Lauterbach/Lüngen/Büscher 2009, die ausgehend von den für 2011 geplanten Zuweisungen aus dem Gesundheitsfonds für die Kopfpauschale ein aufzubringendes Volumen von 88 Mrd. Euro und eine Kopfpauschale von 145 Euro für alle heute Selbstversicherten errechnen).

Wenn wir von diesem zweiten Szenario ausgehen und gleichzeitig annehmen, dass die Regierung sich bemühen wird, auf dem Papier niemanden schlechter zu stellen, dann müsste sie allen, die im bestehenden System einen Arbeitnehmeranteil von unter 143 Euro zahlen, Anspruch auf den "steuerfinanzierten Sozialausgleich" einräumen. Das beträfe alle, die heute ein Bruttoarbeitseinkommen von unter 1.800 Euro haben. Allein das wären Millionen. Ein Blick auf die Arbeitseinkommensverteilung zeigt, dass vor allem Frauen, Teilzeitbeschäftigte und der Dienstleistungssektor massenhaft betroffen wären. Es beträfe auch alle Rentner mit einer Bruttorente unterhalb dieser Grenze (Nettorente unterhalb von ca. 1.650 Euro). Legen wir die Schichtung der Rentenzahlbeträge zum 1.7.2008 zugrunde, dann würden von den 20,3 Mio. deutschen Rentnern rund 19,7 Mio. auf einen Schlag potenzielle Sozialfälle (Rentenversicherungsbericht 2008, S. 92). Lauterbach/Lüngen/Büscher haben auf der Basis der SOEP-Daten für den Fall einer Prämienhöhe von 145 Euro errechnet, dass knapp 36 Mio. Menschen auf einen Sozialausgleich angewiesen wären. Bei einer Prämienhöhe von 125 Euro, die aber einen Wegfall der Familienmitversicherung für Ehepartner voraussetzen würde, wären sogar ca. 40 Mio. Menschen betroffen (Lauterbach/Lüngen/Büscher 2009, S. 6f.). Dadurch wird klar: Die Konstruktion des steuerfinanzierten Sozialausgleichs macht praktisch das halbe Land zu Opfern der schwarz-gelben Gesundheitsreform.

Die Zahl der Betroffenen würde davon abhängen, welche konkreten Modalitäten der Bedarfsprüfung gewählt werden. Handelt es sich um eine individuelle Bedarfsprüfung oder wird das Bedarfsgemeinschaftskonzept von Hartz IV zugrunde gelegt? Werden Vermögen und/oder Vermögenseinkommen berücksichtigt oder nicht? Welche Bedarfsgrenzen gelten auf mittlere Sicht? Wie soll eigentlich bei Haushalten mit schwankenden Einkommen verfahren werden? All diese scheinbaren Detailfragen sind noch weit außerhalb der Wahrnehmung der breiten Bevölkerung, werden aber den Charakter der Reform und ihre praktischen Folgen entscheidend prägen. Es gehört wenig Phantasie dazu, sich vorzustellen, wie verlockend unter den Bedingungen einer prekären Haushaltslage eine restriktivere Ausgestaltung des Sozialausgleichs wird.

Ebenso wenig darf es in Zukunft überraschen, wenn die Auseinandersetzungen um die Lastenverteilung im Gesundheitssystem nur noch unter den Versicherten geführt werden, weil sich die Arbeitgeber ja durch die Deckelung ihres Anteils heraushalten können. Dann gibt es nur noch Debatten darüber, ob die Arbeitnehmer mit durchschnittlichen und hohen Einkommen über eine höhere Kopfpauschale oder die Rentner und sozial Schwachen durch einen restriktiveren Sozialausgleich zur Kasse gebeten werden.

In Zukunft würden die Grenzen bei der Verteilung der Lasten für die Gesundheitsversorgung zwischen den Versicherten verlaufen. Versicherte mit höheren und durchschnittlichen Einkommen wären versucht, für niedrigere Kopfpauschalen bei einem geringeren Leistungskatalog zu plädieren, weil sich für sie die private Absicherung der zusätzlichen Leistungen mehr lohnt. Wo heute in den Krankenhäusern Menschen aus den verschiedenen Schichten gemeinsam behandelt werden, würde es eine stärkere Segregation nach der Reichweite des Versicherungsschutzes geben. Ein Strukturbruch mit weitreichenden Konsequenzen wäre vollbracht.

Den Kampf gegen die Zwei-Klassen-Medizin organisieren!

Bislang steht der Systembruch nur auf dem Papier. In der Gesundheitspolitik steht, falls die Bundesregierung ihre Pläne tatsächlich in die Tat umsetzt, eine Großauseinandersetzung bevor. Der Widerstand lohnt, weil das Thema ein hohes Mobilisierungspotenzial in der Bevölkerung hat. Man muss sich dazu klarmachen, dass die Folgen der Reform für die Mehrheit der Menschen verheerend sein werden, weil sie mehr für Gesundheit als vorher bezahlen müssen, weil sie ohne eigene Schuld zu staatlichen Bedarfsprüfungen gezwungen werden, oder weil sie schließlich statt einer Vollversorgung nur noch eine Grundversorgung erhalten.

Der Widerstand ist dann aussichtsreich, wenn er sich am Alltagsbewusstsein der Versicherten orientiert und aus diesem Erfahrungshorizont heraus mobilisierungsfähige Bilder und Forderungen entwickelt. Wir müssen uns darüber klar werden, dass der bevorstehende Kampf in erster Linie ein Verteidigungskampf wird, der uns vor die schwierige Herausforderung stellt, aus der Verteidigung des Status Quo Perspektiven für soziale Reformen stark zu machen. Es ist sogar so, dass die Verteidigung des Status Quo geradezu eine Voraussetzung für die Erfolgsaussichten künftiger sozialer Reformprojekte im Gesundheitswesen ist. Es geht um die Entwicklung von Parolen und entsprechenden bildhaften Übersetzungen, die den Widerstand gegen Schwarz-Gelb auf den Punkt bringen: Nein zur Zwei-Klassen-Medizin! Nein zur Rationierung von Gesundheitsleistungen! Nein zu Hartz IV im Gesundheitswesen! Nein zur Privatisierung der Gesundheitsversorgung! Die Bündnisse, in denen der Widerstand organisiert wird, werden größer sein können, als wir sie bislang kennen und (für linke Aktivisten/innen) neue Partner (z.B. die gesetzlichen Krankenversicherungen, Hausärzteverbände) umfassen. Eine Bewegung, die den Weg zu einer linken Volkspartei beschreiten will, muss Ja zu einem breiten Widerstandskonsens und Ja zu breiten Bündnissen sagen. Die Radikalität des bevorstehenden Angriffs bestimmt den Charakter der Auseinandersetzung und wird alle Beteiligten zu Kompromissen zwingen.

Literatur
T. Gerlinger/H.-J. Urban (2010): Auf dem Weg zum Systemwechsel: Gesundheitspolitik schwarz-gelb, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, Heft 1, S. 56-63.
IG Metall FB Sozialpolitik (2009): Verteilungspolitische Auswirkungen neoliberal-konservativer Gesundheitspolitik, Arbeitspapier vom 14. Dezember.
T. Kingreen (2007): Europarechtliche Implikationen des Entwurfs eines Gesetzes zur Stärkung des Wettbewerbs der in der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetz – GKV-WSG). Rechtsgutachten im Auftrag für den Deutschen Gewerkschaftsbund und die Hans-Böckler-Stiftung, Januar (download unter: www.boeckler.de, Januar 2009).
K. Lauterbach/M. Lüngen/G. Büscher (2009): Anmerkungen zur geplanten Einführung von einkommensunabhängigen Arbeitnehmerbeiträgen in der Krankenversicherung, Köln (= Studien zur Gesundheit, Medizin und Gesellschaft 7).
H. Reiners (2010): Unsinn mit Methode: Anmerkungen zur Gesundheitspolitik der schwarz-gelben Koalition, in: Sozialismus 1/2010, S. 19-22.

Klaus Ernst ist 1. Bevollmächtigter der IG Metall, Verwaltungsstelle Schweinfurt, und stellvertretender Vorsitzender von Partei und Bundestagsfraktion DIE LINKE. Alexander Fischer ist Mitarbeiter der Bundesgeschäftsstelle der Partei DIE LINKE.

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