1. Dezember 2001 Redaktion Sozialismus und Forum Gewerkschaften

Helmut Schauer:
Aus den Trümmern Bausteine der Zukunft klauben

Helmut Schauer ist bereits in jungen Jahren Sozialist geworden – als junger Mechaniker, aktiv bei den Naturfreunden. Fritz Lamm war sein politischer Lehrer. [1] »Ich bin 1954 zusammen mit einem Freund aus unserer Naturfreunde-Jugendgruppe als unpolitischer Blümchen-Pflücker auf das Steinknickle-Haus der Heilbronner Naturfreunde zu einem Jugendleiter-Seminar gefahren, bei dem ich ihn als Referent und Genossen kennenlernte. Nach einer Woche kamen wir beide – mein Freund und ich –, nicht zuletzt seinetwegen, als überzeugte Revolutionäre nach Hause. Und das in einer Zeit, in der schon einer schlichten Marx-Broschüre der Hauch des Verbotenen, Illegalen anhaftete.« [2] Bei den Falken und der Naturfreundejugend organisierte Lamm einen marxistischen Arbeitskreis. Helmut Schauers politische Sozialisation erfolgte in dem spezifischen Milieu der baden-württembergischen Arbeiterbewegung, in den Auseinandersetzungen um Restauration, Militarisierung und die Anpassung der Sozialdemokratie an das kapitalistische Nachkriegsdeutschland.

Zum Stuttgarter Kreis gehörte auch Fritz Opel, der Lamm schließlich bewegen konnte, den Thomas-Münzer-Brief und die »Funken – Aussprachehefte für internationale sozialistische Politik« herauszugeben. »Die ›Funken‹ sind ein Versuch versprengter Sozialisten, unter widrigen Umständen gemeinsam an einer sozialistischen Zukunft festzuhalten, die für sie ›Inhalt und Sinn‹ ihres Lebens war. Zu dieser Überzeugung hatte man gestanden, für sie hatte man gekämpft und gelitten. Mit klarem Blick durchschaute man deshalb leere Formeln, Revolutionspathos und das sich Festklammern am Dogmatismus. Es kam – so glaubte man – jetzt nicht auf Parolen an. Es ging darum, die Zeit zu analysieren und auf dieser Grundlage Theorie neu zu entwickeln. Dazu suchte man das Gespräch und den Austausch... Die Aussprache war wichtig, um den Frust zu ertragen. Denn die Organisation, deren Mitgliedsbuch man erworben hatte, war schwerfällig und orientiert auf das Pragmatische.« (Jürgen Seifert) Schauer hatte das SPD-Parteibuch bis zum Ausschluss wegen Mitgliedschaft im SDS 1961. Und er wurde – für sein Leben – Mitglied einer anderen schwerfälligen Organisation: der Gewerkschaft. Immerhin bot damals die Gewerkschaftsbewegung im Stuttgarter Raum ein Aktionsfeld, in dem antimilitaristische, antifaschistische und antikapitalistische Auffassungen »eine Heimat« hatten.

Die Zeit des MAK (Marxistischer Arbeitskreis) aus der Stuttgarter Zeit blieb für den weiteren Lebensweg von Helmut Schauer bestimmend. Es ging darum, die Krise des Marxismus ernst zu nehmen, sich den dramatischen Veränderungen des modernen Kapitalismus zu stellen und nach neuen Formen der gesellschaftlichen Kontrolle durch Gewerkschaften und eine sozialistische Bewegung zu suchen, die diesen Namen auch einlöst. »Es geht ... darum, ... mittels der Marxschen Methoden unsere Zeit zu erklären und danach unsere Politik zu formulieren. Es ist ein schweres Stück geistiger Arbeit, würdig eines Marx und Lenin; leider haben wir keine Lenins und Luxemburgs. Wir müssen daher versuchen, in einer Gemeinschaftsarbeit die Probleme zu lösen.« Fritz Lamm sagte dies 1949 – es hätte ebenso gut aus Helmut Schauers Mund und Feder stammen können.

Helmut Schauer ging an die HWP nach Hamburg, wurde dort Landesvorsitzender des SDS und war danach von 1964 bis 1966 dessen Bundesvorsitzender in Frankfurt. Der Aufbruch der Schüler-, Lehrlings- und Studentenbewegung politisierte auch die Gewerkschaften. Nicht nur in der IG Metall unter Otto Brenner – zu dessen berühmtem Beraterkreis Fritz Opel gehörte – fanden Debatten über neue Entwicklungstendenzen im Kapitalismus statt, die in wichtigen gesellschaftspolitischen Aktionen mündeten. Die Anti-Notstandskampagne versammelte nicht nur einen Teil der Aktivisten der »heimatlosen Linken« und führte zu einer beispielhaften Kooperation von Gewerkschaft und demokratischer Linker. Für eine kurze Zeit glimmten die Funken nicht nur, sondern entfachten Fackeln. »In den 60er Jahren«, bilanziert Schauer, »sah es ja manchmal so aus, als sei ... die Generation der kritischen Erneuerung des Sozialismus herangewachsen, an die Fritz und seine wenigen Mitstreiter die Idee hatten weitergeben wollen. Ihre Arbeit hat Früchte getragen. Im SDS und unseren anderen Gliederungen war wenigstens ein, obgleich schmaler und, wie sich dann zeigte, immer noch zu schmaler Kern da, der einer Jugend einigermaßen Richtung und Ziel vermitteln konnte, die gegen den unbewältigten Faschismus der Väter und gegen die überständige politische Kultur der Nachkriegsära rebellierte.« Auch hier markiert der Bezug auf Fritz Lamm den Kern der politisch-programmatischen Herausforderung: die »Erneuerung der Theorie und Praxis des Sozialismus, die das Individuum in den Mittelpunkt« rückt. Angesichts der weitreichenden Dogmatisierung und Verknöcherung der politischen Linken kam es auf die Einzelnen an, die Zeit zu analysieren, Gedanken und Theorien im Meinungsaustausch unter Freunden zu entwickeln, um dann, wenn Massen in Bewegung geraten, zum Bewusstsein des gesellschaftlichen Handelns beizutragen.

Helmut Schauer verkörperte, er lebte diese Einstellung bis in die letzten Tage. Auf ihn trifft zu, was Jürgen Seifert einmal über Fritz Lamm gesagt hat: Er war keiner, der einer Zeitschrift oder einem Arbeits- oder Diskussionskreis seinen Stil aufprägte. [3] Aber überall, wo er mitwirkte, war man mit seiner Offenheit, seinem Widerspruch, seiner radikalen Kritik und Selbstkritik konfrontiert. Er wirkte durch seine Person und die Art seines Zugriffs. Er war da, präsent, wenn ihn etwas umtrieb. Und das war nahezu immer der Fall: als Sekretär des bei der IG Metall akkreditierten Komitees »Notstand der Demokratie«, als Dramaturgieberater beim Theater am Turm, im SOFI in Göttingen, in der Tarifabteilung der IG Metall.

Nach dem offenen Ausbruch der Krise des Marxismus und der Arbeiterbewegung, dem schließlich mit der Implosion des osteuropäischen Staatssozialismus die Auflösung der Systemkonfrontation folgte, sind die Aufgaben, denen sich die »heimatlose Linke« Anfang der 50er Jahre konfrontiert sah, die gleichen geblieben. Gerade Helmut hat uns immer wieder angetrieben, über der Organisation des alltäglichen Widerstandes, beim mehr oder minder offenen Guerillakrieg zwischen Lohnarbeit und Kapital, beim Kampf um Bürgerrechte, Verfassungspositionen oder gegen den gefährlichen Hang zu militärischen Lösungen, die Erneuerung der sozialistischen Theorie nicht zu vernachlässigen. Zwar vermissen wir immer noch den Ort, an dem radikale Gesellschaftskritik, demokratische Selbstbestimmung und entwickelte Subjektivität zur zweiten Natur oder Selbstverständlichkeit geworden ist, aber als »heimatlose Linke« würden wir uns nicht mehr ausweisen. Der von Helmut Schauer über Jahrzehnte mitgestaltete Kampf für soziale Emanzipation, Gerechtigkeit und demokratische Alltagskultur hat nicht nur Niederlagen beschert. Wir haben einige Bausteine aufgelesen und bearbeitet, die für eine sozialistische Zukunft tauglich sein könnten. Um nicht in dem berüchtigten Bermudadreieck zwischen einem real existierenden Kapitalismus, einer oberflächlich modernisierten Gewerkschaftsbewegung und einer vom »sozialistischen Ballast« befreiten Linken unterzugehen, sei an drei Arbeitsfelder erinnert, deren »Bestellung« Helmut angemahnt und die er uns nun übertragen hat:

  »Die erste Aufgabe besteht in der kritischen Verteidigung der linken Tradition. Unsere gegenwärtige Krise beruht nicht zuletzt auf einem massiven kollektiven Gedächtnisverlust der Linken.«

  »Die zweite Aufgabe möchte ich überschreiben: Erneuerung des sozialistischen Programms... Wir müssen epochale Ziele definieren, auf die hin unsere einzelnen aktuellen Schritte ausgerichtet werden müssten. Es ist eben nicht realistisch, es verändert kein Denken und keine Bilder, wenn wir an die Stelle der Idee, der konkreten Utopie, die ihrer Wahrheit erst sicher sein kann, wenn sie gesiegt hat, die falsche Bescheidenheit des Machbaren setzen.«

  »Die dritte Aufgabe ... möchte ich nennen: die gesellschaftlichen Dimensionen und Konsequenzen des neuen Kulturkampfes offen legen. Die Linke ist dabei, nicht nur ihre Traditionen, sondern auch ihren Kernbegriff – den der Gesellschaft – aus den Augen zu verlieren. Die Emanzipation des Menschen in einer freien, von der Zwangsgewalt des Staates befreiten Gesellschaft, war einmal ihr Ziel.«

Wir haben einen Freund und Weggefährten verloren; die von ihm gelebte Idee soll von uns weiter geführt werden.

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