26. September 2012 Onur Ocak/Andreas Fisahn:

Im Bann neoliberaler Austeritätspolitik

Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) hat in seinem Urteil vom 12. September 2012 sowohl das Gesetz zur Ratifikation des Vertrages zur Einrichtung des Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM) als auch das Gesetz zum Vertrag über Stabilität, Koordinierung und Steuerung in der Wirtschafts- und Währungsunion (Fiskalpakt) durchgewunken. Gegenstand waren also die – aus Sicht der Bundesregierung – zentralen Instrumente der Europäischen Union zur Bekämpfung der so genannten Staatsschuldenkrise.

Die Kläger – von der LINKEN und Demokratie e.V. bis zum CSU-Abgeordneten Gauweiler – hatten beantragt, dem Bundespräsidenten zu verbieten, die völkerrechtlichen Verträge zu ratifizieren, mit denen die Regelwerke in Kraft gesetzt werden. Obwohl es sich bei dem Urteil um eine Eilentscheidung – die das Hauptsacheverfahren eigentlich nicht vorwegnehmen soll – handelt, kommt ihm zentrale Bedeutung zu. Deutschland ist eines der letzten Länder, das den ESM-Vertrag bis dahin nicht unterschrieben hatte. Ein Nein des Gerichts hätte die Europapolitik von Angela Merkel mit einem Schlag auf Eis gelegt. Die Entscheidung zeigt, wie sehr selbst das höchste Gericht in der herrschenden Deutung der Krise als Schuldenkrise und nicht als eine Krise der europäischen Finanz- und Wirtschaftsordnung gefangen ist. Das ist keine Überraschung, denn Richter arbeiten innerhalb des hegemonialen Diskurses und können sich nur begrenzt über diesen stellen. Dreißig Jahre neoliberale Hegemonie haben ihre Wirkung hinterlassen.

Überraschend war dennoch, wie »ängstlich« (Prantl, SZ vom 12.9.2012) das Urteil ausfiel. Nur äußerst zurückhaltend hat das Verfassungsgericht Auflagen hinsichtlich der Begleitgesetze zum ESM formuliert und die Verträge zum Fiskalpakt sogar unbeanstandet gelassen. Das ist ein unerfreuliches Ergebnis für die Kläger, insbesondere für die LINKE, die sich erhofft hatte, den Fiskalpakt zu stoppen.

Das BVerfG konzentrierte sich im Wesentlichen auf den ESM und stellte zwei Bedingungen auf. Die Begleitgesetze zum ESM sind verfassungskonform, wenn erstens gewährleistet wird, dass die Regelungen zum Rettungsschirm so ausgelegt werden, dass keine Erhöhung der Haftungssumme (bisher: 190 Mrd. Euro) ohne Zustimmung des deutschen Vertreters möglich ist. Zweitens soll völkerrechtlich sichergestellt werden, dass die Geheimhaltungspflichten des ESM einer Unterrichtung des Bundestages und Bundesrates nicht entgegenstehen.

Mit diesen Leitsätzen bleibt das BVerfG seiner bisherigen Rechtsprechung treu, die darauf bedacht ist, das demokratische Defizit der europäischen Ebene durch eine Stärkung des Bundestages auszugleichen. Andererseits deutet sich in diesem Urteil auch eine neue Qualität an. Es hat nämlich nicht nur Auswirkungen auf der politischen Ebene, sondern schlägt auch auf die ökonomische Ebene durch. Das Gericht flankiert mit seinem Urteil die Austeritätspolitik von Merkel auf rechtlicher Ebene. Es erteilt ihrer Politik ein »Ja, aber« (Prantl), wobei das »aber« sehr schwach ausfällt.

Dreh- und Angelpunkt der juristischen Auseinandersetzung ist das Demokratieprinzip und die Frage, inwieweit durch den ESM-Vertrag und den Vertrag zum Fiskalpakt die haushaltspolitische Gesamtverantwortung des Bundestages verletzt wird. Schon im Urteil zur »Griechenland-Hilfe« im September letzten Jahres stellte das BVerfG Leitlinien auf, die zur Wahrung des Budgetrechts eingehalten werden müssen, auf die das Gericht sich im aktuellen Urteil beruft. Demnach müsse das finanzielle Engagement Deutschlands der Höhe nach begrenzt sein. Der Bundestag müsse jeder Hilfsmaßnahme größeren Umfangs im Einzelnen zustimmen, ihm solle die Kontrolle über die Konditionalität der Hilfen zustehen und diese Hilfen müssten zeitlich begrenzt sein.1 Mit Blick auf den ESM hatte das Gericht insbesondere Zweifel an der Begrenzung der Höhe der deutschen Einlagen. Es befürchtete einen Haftungsautomatismus, wenn beispielsweise andere Staaten als Gläubiger ausfallen. Die Normen des Vertrages sind hier uneindeutig. Das Gericht kam zu dem Ergebnis, dass eine verfassungskonforme Auslegung die »Unebenheiten des Vertrages« glätten könne, forderte aber juristisch, dass die deutsche Auslegung des Vertrages völkervertraglich durch eine verbindliche Vereinbarung abgesichert werden muss. Es forderte »faktisch« eine Beschränkung der Haftung auf die festgeschriebene Summe von ca. 190 Mrd. Euro, solange der Bundestag nicht ausdrücklich beschließt, die Haftungssumme zu erhöhen. Dabei ist die Stärkung des Parlaments nur die eine Seite der Medaille. Die ursprünglichen Planungen, den ESM mit einer so genannten Banklizenz auszustatten, um die »Feuerkraft« des Rettungsschirms zu erhöhen, kann nun ad acta gelegt werden. Das BVerfG sieht darin einen Verstoß gegen das im Unions­recht verankerte Verbot monetärer Haushaltsfinanzierung und folgert daraus: »Da eine Aufnahme von Kapital durch den Europäischen Stabilitätsmechanismus bei der Europäischen Zentralbank allein oder in Verbindung mit der Hinterlegung von Staatsanleihen mit Unionsrecht nicht vereinbar wäre, kann der Vertrag nur so verstanden werden, dass er derartige Anleiheoperationen nicht zulässt.«2

Somit schrumpft der eh schon begrenzte Werkzeugkasten zur Bekämpfung der Krise um ein weiteres Instrument. Der Ankündigung von EZB-Chef Draghi, dass die EZB künftig Staatsanleihen von »Krisenstaaten« kaufen werde, kommt im Kontext dieses Urteils eine besondere Bedeutung zu. Es ist das letzte Instrument der EU, um die Staaten zu »retten«. Problematisch ist, dass dies bisher nur auf den Sekundärmarkt möglich ist, da Art. 123 I AEUV einen direkten Ankauf von Schuldtiteln verbietet und so die notwendig dazwischen geschalteten Banken massiv bereichert werden.

Neben der Haftungsbeschränkung sieht das Gericht die Suspendierung von Stimmrechten im ESM-Vertrag als »nicht unproblematisch«.3 So steht in Art. 4 VIII: »Versäumt es ein ESM-Mitglied, den Betrag, […] in voller Höhe zu begleichen, so werden sämtliche Stimmrechte dieses ESM-Mitglieds so lange ausgesetzt, bis die Zahlung erfolgt ist.« Es ist laut Vertrag also möglich, dass der Gouverneursrat und das Direktorium des ESM ohne Deutschland entsprechende Beschlüsse fassen können, wenn nämlich die Bundesrepublik ihren Zahlungspflichten nicht nachkommen sollte. Dies könnte ebenfalls gegen das Budgetrecht des Bundestages und somit gegen das Demokratieprinzip verstoßen. Das BVerfG sieht das Problem, stellt jedoch fest, dass der Bundestag schlicht sicherstellen muss, dass er seine Verpflichtungen erfüllen kann. Wenn Deutschland stets die Zahlung im Haushalt sicherstellt, dann könne eine Aussetzung der Stimmrechte »praktisch ausgeschlossen«4 werden.

Solch eine schlichte Feststellung kann das Gericht nur vor dem Hintergrund treffen, dass Deutschland momentan noch keine großen Refinanzierungsschwierigkeiten hat und bisher gut durch die Krise gekommen ist. In diesem Kontext erscheint es möglich, einfach frei nach §275 I BGB »Geld hat man zu haben« zu urteilen. Eine Garantie dafür, dass Deutschland auch weiterhin von der Krise verschont bleibt und immer zahlungsfähig ist, gibt es jedoch nicht, und spätestens dann wird solch ein Urteil zu einem demokratischen Legitimationsproblem.

Unberücksichtigt bleibt auch eine Kollision zwischen Schuldenbremse und Zahlungsverpflichtung des ESM. Einerseits wird der Bundestag verpflichtet, dem ESM das Geld bereitzustellen, andererseits verbieten die Schuldenbremse und der Fiskalpakt, das Geld über Kredite zu beschaffen. Insbesondere in Krisensituationen birgt diese Passage des Urteils fast schon eine Sozialabbaugarantie.

In Anbetracht dieser schweren Folgen wiegt die Tatsache, dass das BVerfG die Informationsrechte des Bundestages ausgeweitet hat, nicht sonderlich stark. Nach dem Wortlaut des ESM unterliegen sämtliche amtlichen Schriftstücke und Unterlagen der Geheimhaltung und die Mitglieder des ESM unterliegen einer beruflichen Schweigepflicht. Sinn und Zweck dieser Regelung sei, die Effektivität der Maßnahmen des ESM zu gewährleisten, insbesondere bei Ankäufen von Staatsanleihen sei eine besondere Diskretion angebracht. Da eine Ausnahme zugunsten von Parlamenten nicht vorgesehen ist, zeigt sich hier ein rein strategisches Demokratieverständnis. Die Effektivität der Maßnahme steht über der demokratischen Kontrolle derselben. Zu Recht bestimmt das BVerfG, dass eine solche Regelung nicht dem Demokratieprinzip genügt und so ausgelegt werden muss, dass eine Unterrichtung des Bundestages möglich ist.

Wirkliche Auswirkungen wird dies jedoch nicht haben. Die Geschwindigkeit, mit der die Märkte Entscheidungen »erzwingen« und die Komplexität der Materie ändern – unabhängig von der Unterrichtung – nicht allzu viel an der passiven und bloß nachvollziehenden Rolle des Bundestags. Es gilt auch hier, dass das europäische Demokratiedefizit sich nicht national lösen lässt.

Umso erstaunlicher ist es, dass sich das BVerfG kaum mit dem Fiskalpakt beschäftigt hat. In wenigen Seiten winkt es die Regelungen durch. Bemerkenswert ist dabei die Begründung. Zunächst stellt das Gericht fest, dass die Regelungen des Fiskalpakts im Wesentlichen identisch mit denen der Schuldenbremse seien und diese nur näher konkretisieren würden. Völlig vernachlässigt wird dabei, dass der Fiskalpakt im Gegensatz zur Schuldenbremse auch für Kommunen und Sozialversicherungsträger Wirkung entfaltet. Dies wird aber nicht als ein qualitativer Unterschied wahrgenommen, sondern lediglich als Modifikation.

Zwar erkennt das BVerfG an, dass der Fiskalpakt die demokratischen Spielräume auch in der Gegenwart beschränke, jedoch »dient sie doch zugleich deren Sicherung für die Zukunft«.5 Hier wird die neoliberale Grundhaltung des Gerichts deutlich, frei nach dem Motto: Erst müssen Schulden abgebaut werden, damit Handlungsspielräume für Politik bestehen. Die umgekehrte Argumentation, dass die Demokratie zu einer inhaltsleeren Hülle verkommt, wenn es nur noch darum geht, welches Bein man zuerst abhackt, scheint beim Gericht nicht auf fruchtbaren Boden zu stoßen.

Ebenso wenig hielt das Gericht Art. 5 des Fiskalvertrags für rügenswert: »(1) Eine Vertragspartei, die […] Gegenstand eines Defizitverfahrens ist, legt ein Haushalts- und Wirtschaftspartnerschaftsprogramm auf, das eine detaillierte Beschreibung der Struktur­reformen enthält, die zur Gewährleistung einer wirksamen und dauerhaften Korrektur ihres übermäßigen Defizits zu beschließen und umzusetzen sind. Inhalt und Form dieser Programme werden im Recht der Europäischen Union festgelegt. Sie werden dem Rat der Europäischen Union und der Europäischen Kommission im Rahmen der bestehenden Überwachungsverfahren des Stabilitäts- und Wachstumspakts zur Genehmigung vorgelegt werden und auch innerhalb dieses Rahmens überwacht werden.«

Demnach müssen Länder mit hohem Defizit ihre Wirtschafts- und Haushaltsprogramme der Kommission und dem Rat der EU zur Genehmigung vorlegen. Eine Genehmigung ist üblicherweise als ein Vetorecht zu verstehen. Aus der Sicht der Kläger ist es naheliegend, darin einen Verstoß gegen die Haushaltshoheit des Bundestages anzunehmen, der in einem solchen Verfahren nicht mehr »Herr seiner Entschlüsse«6 ist.

Das Verfassungsgericht setzte sich jedoch über den klaren Wortlaut des Vertrages hinweg und stellt fest, dass kein »unmittelbarer ›Durchgriff‹ der Organe auf die nationale Haushaltsgesetzgebung in Art. 5« vorgesehen ist. Das stimmt insofern, als nur die Programme genehmigt werden müssen. Aber diese Programme haben ja gerade die Funktion, künftige Gesetze entsprechend zu strukturieren und auszugestalten, sodass es bei einem Vetorecht bleibt, das eben auch materielle Wirkung entfaltet. Das BVerfG argumentiert hier äußerst formalistisch und verkennt die faktische Wirkung der Genehmigung von Programmen. Oder soll man davon ausgehen, dass das von der EU in seiner Höhe genehmigte Haushaltsprogramm für den vom Bundestag zu verabschiedenden Etat völlig irrelevant ist, er also beispielsweise erheblich höhere Ausgaben veranschlagen kann. So dürfte die Vorschrift nicht gemeint sein. Zumindest wäre also wieder eine verfassungskonforme Auslegung nötig gewesen.

Von Seiten der Kläger wird auch die Unkündbarkeit des Fiskalvertrages gerügt. So steht in Art. 3 II des Vertrages: »Die Regelungen nach Absatz 1 werden im einzelstaatlichen Recht der Vertragsparteien in Form von Bestimmungen, die verbindlicher und dauerhafter Art sind, vorzugsweise mit Verfassungsrang, oder deren vollständige Einhaltung und Befolgung im gesamten nationalen Haushaltsverfahren auf andere Weise garantiert ist […] wirksam«. Der Fiskalvertrag soll also gerade nicht durch politisch wechselnde Mehrheiten infrage gestellt, sondern aus dem politischen Diskurs herausgenommen werden.

Für das BVerfG stellt das jedoch kein Problem dar. Nach der Wiener Vertragsrechtkonvention könne man stets einvernehmlich mit den Vertragsparteien auch ohne ausdrücklichem Recht kündigen und einseitig zumindest »bei einer grundlegenden Veränderung der bei Vertragsschluss maßgeblichen Umstände«.7 Was solche Umstände sind, lässt das Gericht offen. Konkreter wird es, wenn es feststellt, dass der Fiskalpakt seine Wirkung verliere, wenn die Bundesrepublik aus der Europäischen Union austrete. Die Leitlinie ist klar: entweder Europäische Union oder Fiskalpakt. Ein Mittelweg, bei dem das Parlament die wirtschaftspolitische Entscheidungsfreiheit beibehält, scheint das Verfassungsgericht nicht vorzusehen. 

Das Urteil steht im Bann der neoliberalen Austeritätspolitik. Die Richter können sich scheinbar keine Lösung jenseits des rigiden Schuldenabbaus vorstellen. Mit dem Haftungsausschluss und der Festschreibung der Stabilitätsunion geben sie der Merkelschen Europapolitik den nötigen rechtlichen Segen. Eine Korrektur im eigentlichen Hauptsacheverfahren ist illusorisch, die Segel wurden gesetzt. Die Bundesrepublik wird weiter eine autoritäre Krisenlösung durch rigide Kürzungsprogramme forcieren und damit die Probleme in der Europäischen Union verstärken.


Andreas Fisahn ist Hochschullehrer an der Universität Bielefeld und lehrt öffentliches Recht sowie Rechtstheorie. Onur Ocak ist studentischer Mitarbeiter an diesem Lehrstuhl.

 1 BVerfG, 2 BvR 987/10 vom 7.9.2011,
Absatz-Nr. (179 f.).

2 BVerfG, 2 BvR 1390/12 vom 12.9.2012,
Absatz-Nr. (276).

3 BVerfG, 2 BvR 1390/12 vom 12.9.2012,
Absatz-Nr. (261).

4 BVerfG, 2 BvR 1390/12 vom 12.9.2012,
Absatz-Nr. (268).

5 BVerfG, 2 BvR 1390/12 vom 12.9.2012,
Absatz-Nr. (224).

6 BVerfG, 2 BvR 987/10 vom 7.9.2011,
Absatz-Nr. (179 f.).

7 BVerfG, 2 BvR 1390/12 vom 12.9.2012,
Absatz-Nr. (319).

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