1. März 2005 Redaktion Sozialismus

In der politischen Sackgasse

Die rot-grüne Regierungskoalition hat in den zurückliegenden Monaten auf Optimismus gemacht. Das Jahr 2005 wurde zum Jahr der Entschiedenheit ausgerufen. In der Tat sind die Träume der bürgerlichen Opposition auf einen unvermeidlichen Regierungswechsel geplatzt. Die Opposition konnte ihr Saubermann-Image nicht konservieren. Zu viele Affären belegen, dass die christ- und freidemokratischen Mandatsträger sehr eng mit der wirtschaftlichen Elite verbunden sind.

Zugleich haben die Parolen für Spar- und Konsolidierungspolitik durch beständige Wiederholung ihren Charme verbraucht. Am Projekt "Gesundheitsprämie" wurde größeren Teilen der Wahlbevölkerung deutlich, dass die christlichen Parteien keinen Königsweg für eine Rückkehr zur sozialen Marktwirtschaft weisen können und wollen. Angesichts des vorherrschenden Drucks nach immer höheren Unternehmensrenditen ist für die Lohnabhängigen kein akzeptabler Platz mehr in der Shareholder-Ökonomie.

In den demoskopischen Umfragen konnte Rot-Grün das Stimmungstief schrittweise verlassen. Bundeskanzler Schröder philosophierte über eine dritte Legislaturperiode. Aber dieser Optimismus erhält laufend Dämpfer wie zuletzt bei den Landtagswahlen in Schleswig-Holstein. Dies liegt nicht daran, dass auch viele Abgeordnete der Regierungskoalition in unappetitliche Affären verstrickt sind. Auch die Verwicklung des immer sehr beliebten Außenministers Fischer in ein dubioses Geschäftsfeld von Visa-Erteilung und Schutzpässen wird wenig zur weiteren Eintrübung der politischen Stimmung zuungunsten der rot-grünen Regierungskoalition beitragen.

Die dunklen Wolken über dem Regierungshimmel hängen mit dem weiteren Anstieg der Arbeitslosenzahlen und der unübersehbaren Eintrübung der konjunkturellen Großwetterlage zusammen. Von den in den letzten Jahren auf den Weg gebrachten "Modernen Dienstleistungen am Arbeitsmarkt« konnte man sich beim besten Willen keine deutliche Verminderung der Arbeitslosigkeit versprechen. Aber immer deutlicher tritt zu Tage, dass alle von der Politik gerühmten Instrumente (Personalserviceagenturen, Leiharbeit, Minijobs, Ich-AGs) kaum Effekte gebracht haben. Die registrierte Arbeitslosigkeit ist wegen der Integration der arbeitsfähigen Sozialhilfebezieher deutlich über die Fünf-Millionengrenze geklettert. Entscheidend für die Sozialkassen ist der anhaltende Niedergang der sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnisse, weil der Anstieg der Minijobs die angegriffenen finanziellen Fundamente nicht stabilisieren kann.

Noch mehr Beunruhigung löst der Niedergang des Wirtschaftswachstums in der Bundesrepublik (Negativwachstum im 4. Quartal 2005 und damit drohende Rezession) wie in einigen anderen europäischen Ländern, aber auch in Japan aus. Die Bundesregierung hatte in den letzten Monaten eine Verstetigung der Konjunktur in Aussicht gestellt, die im Jahr 2006 endlich auch positive Auswirkungen auf dem Arbeitsmarkt zeigen sollte. Selbst wenn die USA im laufenden Jahr 2005 erneut eine Zuwachsrate des Bruttoinlandsprodukts (BIP) zwischen drei und vier Prozent erreichen sollten, bleibt die wirtschaftliche Entwicklung im Euroraum doch durchwachsen. Japan laboriert nach wie vor an deflationären Tendenzen. In Deutschland hat die schwächelnde Binnenkonjunktur eine deutliche Drosselung der Akkumulationsdynamik bewirkt.

Der Anteil der Arbeitseinkommen am Sozialprodukt sinkt, die Kapital- und Vermögenseinkommen steigen entsprechend. Die Sozialkassen sind im chronischen Defizit, weil der Sozialstaat überwiegend lohnbezogen ist und bei geringeren Einnahmen höhere Ausgaben anfallen. Stagnierende oder rückläufige Arbeitseinkommen führen zusammen mit tendenziell rückläufigen Sozialeinkommen zu Rückgängen bei der Massenkaufkraft, die nun einmal für die Binnenkonjunktur ausschlagendgebend ist. Umgekehrt boomen Gewinn- und Vermögenseinkommen. Es gibt anlagesuchendes Kapital im Überfluss. Kredite sind extrem preiswert, aber die Engagements für eine produktive Kapitalanlage bleiben begrenzt. Das anlagesuchende Kapital drängt in Anleihen und Staatspapiere, die eine minimale Verzinsung bei geringem Risiko versprechen.

Die Antwort der sozialdemokratisch geführten Regierung auf diese Konstellation von explodierenden Gewinnen, gedrückten Zinsen und zu geringer Massenkaufkraft: eine neue Runde im Steuersenkungswettbewerb für Körperschaftssteuern. Der Finanzminister protestiert müde. Noch weitere Steuersenkungen mögen die Wettbewerbsfähigkeit des bundesdeutschen Kapitals erhöhen, allerdings sind die sozialen Kehrseiten auch durch eine Flexibilisierung des europäischen Stabilitätspaktes nicht mehr zu kompensieren. Nur eine weltwirtschaftliche Sonderkonjunktur könnte das totale Desaster dieser Koalition aufhalten. Die politische Leisetreterei gegenüber dem Kapital und den Vermögenden hat den öffentlichen Sektor und die Massenkaufkraft in wenigen Jahren weitgehend entwertet. Wer auf die erneute Drehung der deflationären Abwärtsspirale mit neuen Steuersenkungen oder Kürzungen von Sozialleistungen setzt, der hat den Kontakt zum gesellschaftlichen Boden wohl vollends verloren. Eine Veränderung ist nur durch politische Intervention und eine offensive Politik gegenüber den Besitzenden und Reichen durchzusetzen.

Die relative Verselbständigung der politischen Klasse hat einmal mehr die Landtagswahl in Schleswig-Holstein dokumentiert. Dass für den grünen Koalitionspartner die drückende Massenarbeitslosigkeit und die schlechte wirtschaftliche Performance des Landes nur sehr begrenzte Bedeutung hat, ist durch die Wahlforschung seit längerem belegt, die die Grünen als Partei der saturierten "Neuen Mitte« ausweist. Entgegen aller Schönrednerei des SPD-Vorsitzenden Müntefering gelang es aber auch der SPD nicht, verlorengegangene (Nicht)Wähler zu reaktivieren und politisches Vertrauen als Anwalt der sozialen Frage zurückzugewinnen.

Vom einst linken Landesverband der SPD ist nur die jeglichen Inhalts beraubte Symbolik der roten Farbe der KandidatInnen-Schals übrig geblieben. Demonstrativ stellte sich die Partei hinter den Kanzler der Agenda 2010 und dichtete dessen Politik des "Förderns und Forderns« in Arbeitsmarktpolitik nach skandinavischem Modell um. Mit einem auf die Ministerpräsidentin zugeschnittenen Wahlkampf nach US-amerikanischem Muster war die Wahl in Schleswig-Holstein der misslungene Probelauf für die Inszenierung der Bundestagswahl 2006. Man dankt dem Parteivolk für Engagement und Mobilisierung, weil es ganz ohne Straßen- und Marktstände noch nicht geht – aber die Parteiorganisation hat als Willensbildungsorgan und Machtsicherungsinstrument an Bedeutung verloren.

Im März werden die registrierten Arbeitslosenzahlen auf über 5,1 Millionen steigen und Superminister Clement bittet um Geduld, bis alle Hartz-Instrumente zum Jahresende ihre Wirkung entfaltet haben. Gleichwohl wird die Regierung sich in die Endrunde der Legislaturperiode schleppen. Die bürgerliche Opposition ist machtpolitisch keine Herausforderung. Gewerkschaften, Kirchen und Sozialverbände dosieren ihre Proteste. Sie sind alle durch Mitgliederverluste, rückläufige Einnahmen und wachsende Anforderungen tief verunsichert, wenn nicht massiv geschwächt. Nüchtern konstatiert der DGB-Vorsitzende Sommer zwar den Niedergang des Sozialstaates. Für eine Umstellung der Finanzierung der sozialen Sicherungssysteme auf Arbeits- wie Kapital- und Vermögenseinkommen mag er nicht mehr kämpfen, insofern sollen künftig die öffentlichen Finanzen die soziale Sicherheit gewährleisten. Ein solcher Ausbund an Konzeptionslosigkeit hat sicherlich die massiven Mitglieder- und Einnahmeverluste zum Hintergrund. Gleichwohl ist die Verweigerung, sich für einen radikalen Politikwechsel einzusetzen, kein Ausdruck souveränen gewerkschaftlichen Strategiedenkens.

Während die Parteien mit der Verwaltung ihrer diversen Formen von Korruption und Selbstbereicherung beschäftigt sind, okkupiert der Rechtsextremismus mehr und mehr die Logik des politischen Handelns. Basis für die größere Aufmerksamkeit ist die parlamentarische Präsenz in einigen Landtagen, nach dem eine geringere Wahlbeteiligung ihre Aufwertung ermöglicht hat. Zugleich lässt sich konstatieren, dass die rechtsextremen Parteien ihre Programmatik in Richtung auf national-soziale Politikangebote ausrichten und eine Bündelung ihrer organisatorischen Kräfte vorantreiben.

Mit rund 5.000 rechtsradikalen Demonstranten forderten diese Parteien die Berliner Republik am 60. Jahrestag des Flächenbombardements von Dresden heraus. Die Regierungskoalition stolpert von der Einschränkung des Versammlungsrechtes zu einer Erwägung eines erneuten Verbotsverfahrens für die rechtsradikale Partei und beschädigt so unter der Hand das Recht auf Demonstrationsfreiheit. Mit einer Verschärfung der Strafen in Sachen Volksverhetzung kann keine politisch-intellektuelle Auseinandersetzung gewonnen werden.

Niemals war der Mangel an einer Zielvorstellung über eine sozialverträgliche Gestaltung der Republik so offenkundig wie in diesen Tagen. Die Hoffnung auf einen von der Globalökonomie ausgelösten Wachstumsschub ist zu wenig. Wer die Zukunft gewinnen will, der muss intellektuelle und praktische Handlungsperspektiven bieten. Nur so kann einer weiteren Zunahme politischer Passivität und der Aushöhlung der Demokratie entgegengesteuert werden.

Zurück