1. Mai 2002 Lennart Laberenz

In Deutschland ist die Mitte preußisch

Im Februar 2002 hat Brandenburgs Sozialminister Alwin Ziel (SPD) für sonst Unterbeschäftige einen wirklich interessanten Vorschlag gemacht.

Nach einer möglichen Vereinigung Berlins und Brandenburgs solle der alte Name Preußen für das neue Konstrukt wiederbelebt werden. So spannend war der Vorschlag, dass die FAZ dem gleich eine ganze Seite der Berliner Seiten, voller Kurzkommentare historisch Berufener, widmete. Die Debatte verlief – kaum erstaunlich angesichts altaristokratischer Stimmen wie der von Graf Carl-Eduard, von Prinz Ferdinand, von Berufsrevisionisten wie Wolf Jobst Siedler, rechtskonservativen Dummschwätzern wie Peter Gauweiler oder Christoph Stölzl – einigermaßen ausgewogen. Das reichte der FAZ nicht, und von nun an streckt sich die Plastikdebatte ins Feuilleton. Aus lauter Langeweile wurden dann das von Fachwissen recht unbelastete eigene Personal (Florian Illies) und sogar erprobte Historiker wie Hans-Ulrich Wehler zur Diskussion gebeten.

Im Rekurs auf den späten Staat europäischer Dimension zeigt sich Interessantes: Sebastian Haffner, der als Toter sich nicht mehr gegen die Vereinnahmung etwa durch einen Gauweiler wehren kann, hatte Preußen längst gestorben gesehen, Wiedergeburt unerreichbar. Wehler nennt zu Recht den »irrlichternden Vorschlag« Alwin Ziels abartige Nekrophilie. Dabei schießt Wehler jedoch übers Ziel hinaus, mit der These, dass »zu den unschätzbaren vorteilhaften Startbedingungen der Bundesrepublik gehört, dass Preußen nirgendwo mehr Pate stand.« (Wehler 2002) Denn tatsächlich, hier verbirgt sich unerkannt von der FAZ die interessante Debatte: Preußen lebt!

Zunächst aber ein historischer Durchlauf: Mit der Vorgeschichte der Belehnung Markgraf Albrechts des Bären mit der damaligen Nordmark (1134) beginnt, was sich bei Friedrich I (1415) in noch unscheinbarer territorialer Größe um die Alt-, Mittel- und Uckermark, sowie Priegnitz und das Burggraftum Nürnberg erstreckt. 1640 wird »der Große Kurfürst« Friedrich Wilhelm bereits Hinterpommern, das Herzogtum Preußen um Königsberg, das Bistum Minden, Ländereien um Kleve und Kolonien an der »Goldküste Oberguineas« ererbt, gekauft und erobert haben.

Hundert Jahre später hat Friedrich II trotz Erbfolge- und Schlesienkriegen mit viel Glück und militärischer Macht Schlesien, ganz »polnisch Westpreußen« an der Danziger Küste bis Thorn an der Weichsel erobert. Nun geriert sich Preußen bei Religionsfragen liberal, die Folter wird abgeschafft; Voltaire bleibt auf drei Jahre, die Emanzipation der Juden wird vorangetrieben; Kant verlässt Königsberg nie; Friedrich Wilhelm II regiert nur kurz (1786-1797) und lässt unter anderem das Brandenburger Tor bauen. Doch von diesem Moment an ist die Gesellschaft, in Militär, Verwaltungs- und Bildungsapparate gepresst, durch den Expansionsdrang formiert und in ihrer Dynamik erstarrt. Friedrich Wilhelms Sohn tritt dem Rheinbund nicht bei, Napoleon besetzt und zieht Richtung Moskau; Freiherr vom Stein reformiert liberal, Clausewitz, Scharnhorst und Gneisenau die Armee, Humboldt die Bildung. Dennoch, erst durch den Wiener Kongress gelingt es, das schon im Niedergang begriffene Gebilde wieder zu stärken. Disziplin und Ordnung und ein von den liberalen Kräften des Bürgertums propagierter Nationalgedanke sollen gegen territoriale Zersplitterung des rückwärtsgewandten Junkertums helfen – nebenbei stellen die ständeübergreifende »Nationalerziehung« und der Gedanke der territorialen Geschlossenheit auf der Basis der rasch um sich greifenden Industrialisierung eine gesellschaftliche Modernisierung, der Verwaltungsreformen etc. entsprechen müssen, dar. Dennoch wird aus der ständischen Teilung der Gesellschaft unter dem Einfluss des Bürgertums wirtschaftliche Segregation. Das Judentum wird erst emanzipiert und dann zum Sündenbock für wirtschaftlich Zurückgebliebene und kulturelle Antisemiten. 1871 wird der Preuße Wilhelm I deutscher Kaiser, Bismarck Reichskanzler. Jetzt wird mit Preußen auch das junge deutsche Reich stark reaktionär und antisemitisch. Haffner beurteilt die Geschichte Preußens gegenüber der des deutschen Reiches nur noch als »Abgesang«. Verschwunden die Liberalität, die Fortschrittlichkeit – von den Werten der Französischen Revolution abgewandt geht es in den Krieg. Prinz Max von Baden wird 1918 Reichskanzler und verkündet die Abdankung Kaiser Wilhelms II. [1]

Es gibt entlang dieser Historie nun mehrere Varianten, das Ende Preußens zu messen. Ereignisgeschichtlich, also an den Daten des Jahres 1871, als Preußen seine Außenpolitik an das Reich abgab; 1890, als eben jenes Außenamt von einem Nichtpreußen übernommen wurde; 1894, als ein bayrischer Fürst preußischer Ministerpräsident wurde, mit der Abdankung des Kaisers 1918, mit dem Auflösen der preußischen Armee in der Reichswehr 1920; 1932, als die preußische Regierung abgesetzt wurde – oder schließlich 1945, als durch nationalsozialistischen Krieg, Vertreibung und Ermordung die wichtigen Kernprovinzen Preußens entvölkert und zerstört waren und zudem der territoriale Zusammenhang Preußens aufgeteilt wurde. Anders könnte Preußen prozessgeschichtlich analysiert werden, dann ergeben sich ganz andere Spektren.

Geblieben ist sehr viel, genug, um Preußen noch bis heute als Taufpaten vieler politischer Debatten der Bundesrepublik zu erkennen. Vom reaktionären »Funktionswandel des Nationalismus« der Jahre 1878/79 (Winkler 1979: 40ff.) hat sich Deutschland kaum erholt. Zudem stehen die »Sekundärtugenden« bei fast jedem Bildungsredner auf dem Manuskript; nicht Inhalt, sondern Form zählt, Disziplin und Ordnung – die aus dem Militarismus abgeleitete Formierung der Gesellschaft, semantisch anhand bildungsbürgerlicher Wissens-Normen ist als verdeckte Praxis weitverbreitet. Edelgard Bulmahns Gerede über »Bummelstudenten« muss als gründliche intellektuelle Kapitulation vor den »deutschen Tugenden« verstanden werden. Nicht etwa »französischer Geist«, sondern deutsche Bürokratie nimmt entscheidende Wichtigkeit an. [2] Wer etwa heute an der Humboldt-Universität studieren will, muss sich durch Sprechzeitenbarrieren, formale Vorschriften, professorale Standesethik und innerinstitutionäre Intrigen kämpfen. Aber auch die sozialstaatliche Grundlage wurde ausgebaut, und erst mit Strauss, Kohl, Flick und den Kölner Genossen ist die preußische Achtung des Ethos der korrekt verwalteten Macht vollends zu einer Vorstufe des korrupten Selbstbedienungsladens verkommen.

Aber es kann nicht verborgen bleiben, dass sich gerade unter der rot-grünen Bundesregierung wieder ein Militarismus zunehmend der Straßen bemächtigt. Bedenkenlos führt Groß-Deutschland nun auch (Angriffs-)Kriege in allen möglichen Ländern, geloben Rekruten an historischen Orten – so etwa auf dem Platz, an dem einst das Berliner Stadtschloss prunkte – Ehre und Treue dem Vaterland. Und nur wegen extremen Geldmangels wird eben dieses Stadtschloss nicht wieder aufgebaut. Der Antisemitismus ist nach wie vor sichtbares Moment der deutschen Gesellschaft; die autoritären, xenophoben, patriarchalischen Eigenschaften gar Aspekte des kulturellen Codes.

Und dabei hat sich Konstruktion von Realpolitik wie ein Schleier über das Land gelegt, Lähmung, Verunsicherung und politische Beliebigkeit sitzen fest an der Macht.

Der Geist des autoritären Machtstaates ist der heutigen Zeit aufdringlich erhalten geblieben. So wird gerade in der Person Gerhard Schröders der weitgehend konzeptlose Machtanspruch überdeutlich. Indem es wesentlich um Kommunikation von Politik geht (Machnig 2002), haben Politiker Anleihen bei dem Machttechniker Machiavelli gemacht; es gilt die Stabilität des eigenen Machtanspruches zu sichern – Gewalt, moralisches Handeln, Ehrlichkeit, programmatische Transparenz oder Prinzipien werden dem notwendigerweise untergeordnet.

Eine Politik, die sich nach Überschriften der Springerpresse orientiert, die eine farblose »Balance« zwischen politischem Rechts und Links exekutieren will, kann sich nur aus einer übergeordneten Legitimation der langen Dauer speisen. Die vielfach porträtierte Person Otto Schilys muss als Exempel für Staatsgläubigkeit und Autoritarismus gelesen werden. Dieses ist als Wirkungsform der Regierung Sinnbild einer nicht aufgeklärten Gesellschaft.

Wenn nun demnächst Arbeitslosengeld und Sozialhilfe zu einer gleichniedrigen Summe zusammengelegt werden, sind die disziplinatorischen Rahmenbedingungen der Clintonschen from welfare to workfare Programmatik endgültig auch hierzulande durchgesetzt: Wer keinen Job hat, ist selber Schuld und muss zur schlecht bezahlten Arbeit gezwungen werden. Ironischerweise ist es die Sozialdemokratie, die mit der Einführung sozialstaatlicher Regelungen in Preußen verboten wurde, die sich nun europaweit an eben jene Abschaffung macht. Die Produktion von Humankapital, verwertungsgerecht für Markttendenzen vorbereitet, erfährt ihre Vollendung in der Markt- und Kundenlogik, die den Bildungsinstitutionen aufgezwängt werden.

Preußen liegt tief im deutschen Reich, oder um es mit Alwin Ziels Parteimotto zu formulieren: In der Mitte ist Deutschland preußisch. Egal, was da für eine Farbe sichtbar wird. Die Idee ist also gut. Nur die Welt noch nicht bereit.

Literatur
Berding, Helmut (1988): Moderner Antisemitismus in Deutschland. Frankfurt: Suhrkamp.
Bourdieu, Pierre (2001): Wie die Kultur zum Bauern kommt. Über Bildung, Schule und Politik. (Schriften zu Politik & Kultur 4) Hamburg: VSA.
Haffner, Sebastian (1979): Preußen ohne Legende. Hamburg: Gruner und Jahr.
Machnig, Mathias (2002): Politische Kommunikation 2002. Herausforderung für Parteien. In: spw 124, Ausgabe 2, März/April 2002, S. 5-7.
Nolte, Paul (2002): Der Geist flieht links. Rot-Grün verprellt Wissenschaftler und Intellektuelle. In: FAZ, Nr. 48 (26.02), S. 46.
Ullmann, Hans Peter (1995): Das Deutsche Kaiserreich 1871-1918. Frankfurt: Suhrkamp.
Wehler, Ulrich (1995): Deutsche Gesellschaftsgeschichte. Dritter Band: Von der »Deutschen Doppelrevolution« bis zum Beginn des Ersten Weltkrieges 1849-1914. Frankfurt am Main: Büchergilde Gutenberg.
Wehler, Ulrich (2002): Preußen vergiftet uns. Ein Glück, daß es vorbei ist. In: FAZ, Nr. 46 (23.02), S. 41.
Winkler, Heinrich August (1979): Liberalismus und Antiliberalismus. Studien zur politischen Sozialgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.
»Wollen wir unser Preußen wiederhaben?« Eine abendliche Umfrage der »Berliner Seiten«. In: FAZ, Nr. 39 (15.02) S. BS 1.

Lennart Laberenz ist Student der Geschichte, Philosophie und Sozialwissenschaften.

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