1. Januar 2002 Theodor Bergmann

Israel: Eskalation – aber kein Lösungskonzept

Die Auseinandersetzungen zwischen Israel und der Palästinenserverwaltung – so die offizielle Bezeichnung von Jassir Arafats Behörde (Englisch: Palestine Authority, PA) – nehmen an Schärfe und Erbitterung zu. Keine Seite hat eine realitätsnahe Konzeption für eine Lösung des Jahrhundertkonflikts. Zwei Völker ringen miteinander fast im gleichen Raum, können sich aber noch immer nicht zu der Erkenntnis durchringen, dass sie beide dazu verurteilt sind, erst neben-, dann miteinander hier zu leben. Es stimmt zwar, dass die Palästinenser erst durch die zionistische Besiedlung das Bewusstsein einer Nation erlangt haben; jetzt sind sie aber eine, die ebenso anzuerkennen ist wie die Existenz Israels.

Die seit fast 15 Monaten tobende Intifada hat in den letzten Wochen des Jahres 2001 blutige »Erfolge« erzielt. In drei spektakulären Aktionen haben Selbstmordattentäter der radikal-islamistischen Organisationen 35 Israelis töten können und weit über 200 mehr oder weniger schwer verwundet. »Erfolg« Nummer eins bestand in der Tötung von 15 jungen Menschen, die das Wochenende des 1. Dezember friedlich in der Jerusalemer Fußgängerzone begehen wollten, durch einen Selbstmordattentäter. »Erfolg« Nummer zwei bestand in der Tötung von zehn alten Menschen in einem Haifaer Autobus am 2. Dezember. »Erfolg« Nummer drei zählte zehn getötete Siedler in der Westbank am 12.12. Bei den Toten handelte es sich um Zivilisten. Die Bomben enthielten außer dem Sprengstoff einige kg Nägel, Schrauben und andere Metallteile, die die Verwundungen verstärken und eine maximale Zerstörung bewirken. Der einzige verantwortliche Politiker, den die Attentäter getroffen haben, war R. Zeevi, ein Rechtsaußen, der den »Bevölkerungstransfer« nach Jordanien propagiert hatte. Das sei gesagt, nicht um moralische Anklagen zu erheben, sondern um die Bedingungen der Auseinandersetzungen und die Taktik der Hamas und des Jihad zu zeigen. Die radikalen islamistischen Bewegungen, die den Familien der Attentäter sofort großzügig Geld übergeben, wollen Israel noch immer nicht anerkennen, sondern fordern »das ganze Palästina« für sich; für die Juden gebe es keinen Platz, keine Dortseinsberechtigung. Die zahlreichen misslungenen Attentate, bei denen nur die Attentäter umkamen, seien nur am Rande erwähnt.

Ariel Scharon, Israels Ministerpräsident, hatte noch einige Tage vor dem 1. Dezember, als er sich gerade auf den Weg zu seinem Gesinnungsgenossen George W. Bush jr. begab, seine Zufriedenheit geäußert: Er habe Israel Sicherheit und Ruhe gebracht und könne sich nun den drängenden sozialen und ökonomischen Nöten der Bevölkerung zuwenden – großmäuliges Eigenlob ohne Realitätsbezug. Seine Antwort auf die Attentate war die übliche: Bombardement von Einrichtungen der Palästinenserbehörde, von Polizeistationen, von Arafats Helikoptern, Militäreinmärsche in Autonomiestädte (der Zone A – eigentlich fremdes Staatsgebiet) und dort Verhaftungen, dann wieder Rückzug, Zerstörung von Häusern, gezielte Vernichtung von Hamas-Verantwortlichen und von anderen, die man der Terrorplanung verdächtigte. Aber auch bei diesen zielgenauen (Helikopter-)Angriffen gibt es viele »Kollateralschäden«, junge und alte Zivilisten kommen um. Bisher führte die Intifada zu viel mehr palästinensischen als israelischen Toten – das Verhältnis ist etwa 800 zu 200. Der bewaffnete Kampf findet auf zwei verschiedenen Ebenen, mit unterschiedlichen Waffen statt, kann also keine militärische Entscheidung bringen, sondern nur zu einem Patt führen.

Das Ergebnis: auf beiden Seiten Eskalation von Rache und Hass, Verstärkung des Nationalismus, extreme Forderungen. Hamas und islamischer Jihad wollen – wie erwähnt – Israel nicht anerkennen, alle jüdischen Israelis ins Mittelmeer oder in die Hölle treiben. Das ist historischer Unverstand, Unmenschlichkeit, Verkennung der militärischen Kräfteverhältnisse; noch ist Israel stärkste Militärmacht der Region, allerdings auch die verwundbarste. Vor vielen Jahren hat Israels Regierung die Hamas begünstigt in der Hoffnung, sie würde ein Gegengewicht zur PLO; nun wird sie die Geister nicht los, die sie gerufen hat. Unklar bleibt Arafats Verhältnis zu diesen Extremisten. Lange ließ er sie gewähren oder begünstigte ihre Aktivitäten in der zweiten Intifada: Will er sie jetzt wirklich total bremsen, alle ihre Aktivisten dauerhaft einsperren, alle ihre Büros und Institutionen schließen? Unter dem Druck Washingtons hat er das Mitte Dezember versprochen.

Scharon behauptet, er habe nicht genug getan. Seine Regierung hat dessen Behörde zu einer den Terrorismus fördernden Institution erklärt. Arafat selbst wurde als »irrelevant« eingestuft, als jemand, der als Gesprächspartner nicht mehr in Frage komme. Am 14. Dezember wurde ihm verboten, Ramallah zu verlassen. Aber schon während des Kurzbesuchs in Washington (bis zum 1. Dezember) hat Scharon mit Bush jr. überlegt, ob er Arafat umbringen lassen sollte; davon wurde ihm abgeraten, obwohl der CIA die Fachinstanz für Ermordung unerwünschter Politiker ist. Daher gab die israelische Regierung eine Versicherung ab, sie würde Arafat nicht nach dem Leben trachten. Jetzt wurden alle Gesprächsfäden durchschnitten; die israelische Armee dringt in Städte und Dörfer der A-Zone ein und sucht dort selbst nach Terrorverdächtigen.

Hat Scharon überhaupt ein Konzept für einen Ausgleich mit den Palästinensern? Bisher ist es nicht zu erkennen. Er lässt die Siedlungen in den besetzten Gebieten ausbauen, will keine aufgeben, setzt völlig auf die militärische Überlegenheit. Er war immer ein Gegner der Oslo-Verträge. Schon in dem von ihm zu verantwortenden Libanon-Krieg von 1982 hat er demonstriert, dass er ein militärischer Haudegen ohne politische Konzeption ist. Israel hat dort viele junge Menschen verloren, bis Ehud Barak die letzte Zone im Libanon endlich geräumt hat. Hofft Scharon auf nachgiebigere Verhandlungspartner, wenn es ihm gelingen sollte, Arafat zum zweiten Mal nach Tunesien zu vertreiben? Wahrscheinlich wären Hamas-Leute Arafats Nachfolger – sie wären härtere Partner oder Gegner. Setzt Scharon auf einen vollen Krieg, um ein weiteres Mal den Palästinensern eine »richtige« Niederlage beizubringen, so würde die israelische Armee wohl siegen. Das Grundproblem bliebe jedoch ungelöst; nur die Opfer beider Seiten würden größer.

Scharon wird von rechts teils getrieben, teils bedrängt. Teile seiner Koalition verlangen noch härteres Vorgehen und drohen, die Regierung zu verlassen. Die »Orthodoxen« drohen gleichfalls, aber nur, um mehr Staatsmittel für ihre Institutionen zu erpressen. Bedrängt wird Scharon aber auch von seinem Parteigenossen Binjamin Netanyahu, der Scharon ablösen möchte. Er ist genau so Anhänger militärischer Lösungen und erklärter Gegner des Oslo-Abkommens von 1993, das damals auf beiden Seiten große Hoffnungen auf Frieden geweckt hatte.

Die rechten Parteien haben vor keiner Demagogie zurückgeschreckt. Auf Großkundgebungen verbrannten sie Puppen in Rabins Gestalt, z.T. in Nazi-Uniform; kein Likud-Politiker bremste die Hetze. In dieser Atmosphäre mordete ein jüdischer Student der frommen Bar-Ilan-Universität Ende 1994 Ministerpräsident Rabin. Schimon Peres verlor die folgenden Wahlen. Sein Nachfolger Netanyahu zerstörte systematisch das Oslo-Abkommen, u.a. durch vertragswidrigen Ausbau der Siedlungen in den besetzten Gebieten. Als Ehud Barak die Regierung übernahm, schrie die konservative Propaganda von unzähligen Plakaten, er verkaufe Israel. Jetzt sprechen die Rechten schon von den Oslo-Verbrechern, die also vor Gericht gehörten. Israel ist demnach kein einig Volk von Brüdern und Schwestern, sondern tief gespalten, die Rechte in der Offensive. Und die Linke? Es gibt sie jedenfalls noch – in vielen Formen der Opposition und des Protests. Neben Peace now, die einige Male zu Großdemonstrationen aufrief, gibt es den von der KP-geführten Chadasch organisierten »Friedensblock«: Wenn israelische Linke von geplanten Zerstörungen arabischer Häuser und ähnlichen Aktionen erfahren, versuchen sie Schutzaktionen. 43 arabische Intellektuelle und Künstler haben am 7. Dezember an ihre israelischen Kollegen appelliert, ihnen zu helfen gegen die fortdauernde Besetzung und gegen die harten Regierungsmaßnahmen in den besetzten Gebieten. Sie verurteilen den Terror gegen die Zivilbevölkerung als kontraproduktiv für die Sache der Palästinenser. Sicherheit für Israel könne es bei Fortdauer der Besetzung nicht geben (nach Haaretz vom 7.12.2001). Kurz vorher gab es einen ähnlichen Appell der anderen Seite. Aber eine dauerhafte Kooperation wird durch die nationalistische Hetze auf beiden Seiten verhindert. Und wenn wirklich Gefahr für Israel droht – sei es auch durch eine verderbliche Politik der eigenen Regierung – dann sind Israels arme Werktätige auch seine treuesten Söhne.

Dazu kommt der Zustand, besser der Zerfall der Arbeitspartei. Schimon Peres und seine Ministerkollegen drohen des öfteren mit Austritt aus der Regierung, wenn Scharon sie wieder einmal düpiert hat. Aber der Klebstoff auf den Ministersesseln hindert sie am Aufstehen. Die Mehrheit der Knesset-Abgeordneten und der Mitglieder der Partei verlangen den Austritt. Aber wer schert sich heute um Beschlüsse der eigenen Partei? Diese selbst ist in einem bejammernswerten Zustand. Vor zwei Monaten fand die Wahl eines neuen Parteivorsitzenden statt. Verteidigungsminister Binjamin Ben-Eliser, ein Falke, und Parlamentspräsident Avraham Burg, eine halbe Taube, bewarben sich. Noch immer wird über eine Neuauszählung von über 40 Wahlurnen gestritten. Florida lässt grüßen.

Vor allem aber die Regierungsbeteiligung lähmt die Partei. Einmal hat sie eine lebenswichtige Rolle für das Land gespielt; jetzt gibt sie sich dem Gelächter preis. Auch in Israel ist der Reformismus am Ende seines Lateins; Burgfriedens- und Koalitionspolitik verhindern schon eine wirksame Verteidigung gegen überschäumenden Nationalismus; an eine eigene offensive Politik, die eine Alternative anbietet, ist gar nicht zu denken.

Jetzt ist eine neue Partei im Entstehen – Name: Ein Volk – gegründet u.a. von Amir Peretz, dem Generalsekretär der Neuen Histadruth. In der Wirtschaftspolitik will sie gegen zunehmende Armut, für »mehr soziale Gerechtigkeit« kämpfen. Zur Außenpolitik hat Peretz noch nicht Stellung genommen. Die »politische Klasse« von rechts bis zur Arbeitspartei spielt ihre Spiele ohne Rücksicht auf die Leiden und Nöte der Menschen. Am stärksten betroffen ist natürlich die Bevölkerung in den besetzten Gebieten: Absperrungen, Ausgangsverbote, immer seltener Arbeit in Israel haben zu großer Not geführt. Aber auch die jüdische Bevölkerung leidet unter der schweren Wirtschaftskrise: Der Touristenstrom, der Arbeit und Einkommen bedeutete, ist völlig versiegt. Die Hightech-Firmen nehmen Teil an der allgemeinen Krise der Branche. Die Arbeitslosigkeit steigt. Ein offizieller Armutsbericht sagt, dass im Jahr 2000 jeder 5. Israeli unter der Armutsgrenze lebte. Das Defizit im Staatshaushalt ist so groß, dass 2002 sechs Mrd. Shekel (fast drei Mrd. DM) eingespart werden müssen – natürlich durch verschiedene Wege der Massenbelastung. Der noch unerklärte Krieg fordert Opfer.

Die Perspektiven der Scharonschen Taktik sind in der Tat düster. Er verlässt sich zu einem Teil auf eine »Zusammenarbeit« mit dem US-Kapitalismus. Er wollte sich an Bush’s Kampf gegen den Terrorismus anhängen; das könnte für Israel gefährlich werden. Zum einen liegt dem US-Imperialismus die Stabilität Saudi-Arabiens und der benachbarten Erdölstaaten gegenwärtig näher als Israel; daraus ergeben sich Konsequenzen. Zum andern könnte der Siegesrausch nach dem (noch nicht endgültig errungenen) Sieg in Afghanistan die US-Regierung zum Kampf gegen den Irak ermutigen, was Israel erneut in Gefahr bringen würde, wie beim Golfkrieg vor elf Jahren. Washington hat vorerst seinen Vermittler Anthony Zinni aus Israel zurückgerufen, der eigentlich nicht so schnell aufgeben wollte. Es ist ungewiss, ob er seine Mission nochmals aufnimmt.

Am 16. Dezember hat Arafat eine relativ besonnene Erklärung abgegeben. Er habe 332 Büros von Hamas und islamischem Jihad geschlossen; er wolle einen Palästinenserstaat in friedlicher Nachbarschaft mit Israel, allerdings mit Jerusalem als Hauptstadt. Das Rückkehrrecht für alle Flüchtlinge hat er nicht mehr erwähnt. Er verlangt neue Verhandlungen und kritisiert Scharons Vorgehensweise. Der Ball liegt jetzt bei der israelischen Regierung, auf deren Antwort man gespannt sein kann.

Insgesamt ist die Erklärung durchwachsen; sie akzeptiert die Sicherheitsforderungen Israels, lehnt die Selbstmordattentate ab. Der Anspruch auf Jerusalem kann auch als Anfangsforderung für kommende Verhandlungen verstanden werden. Für diese Frage wie für die der Flüchtlinge haben linke israelische Politiker bereits realistische Lösungsvorschläge erarbeitet. Keine Seite kann ihre Maximalforderungen durchsetzen. Will man nach 80 Jahren Kampf und Krieg wirklich zum Frieden kommen, gibt es nur Verhandlungen und einen Kompromiss.

Scharon hat der Bevölkerung keine Sicherheit gebracht, nur Unsicherheit und neue Not. Man kann daher fragen, wie die Meinungsbefrager ihre Frage formuliert haben, um für Scharons Taktik eine starke Mehrheit zu bekommen. Vermutlich würde das Ergebnis wieder ganz anders ausfallen, wäre eine Alternative erkennbar. Man erinnere sich des Wählerwechsels erst zu Rabin, dann zu Netanyahu, dann zu Barak, dann zu Scharon. Die Menschen suchen nach einem Ende von Krieg und täglichem Tod. Eine Alternative zu entwerfen und für diese öffentlich zu werben, ist die gemeinsame Aufgabe der israelischen und der palästinensischen Linken.

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