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1. Februar 2010 Sandro Milbert

"Kann das Volk keine Zucht annehmen?"
oder: Frau Schmidt lehrt den Pöbel Mores

"Seit Jahrzehnten sagt die Rechtsprechung: Diebstahl und Unterschlagung auch geringwertiger Sachen sind ein Kündigungsgrund. Es gibt in dem Sinne also keine Bagatellen. Jeder frage sich mal, wie viel er sich denn aus der eigenen Tasche nehmen lassen würde, bevor er reagiert. Wir Arbeitsrichter müssen aber prüfen, ob ein Arbeitgeber mit Recht sagen kann: Ich habe das Vertrauen in meinen Mitarbeiter verloren und will mich deshalb von ihm trennen."

"Wie kommt man eigentlich dazu, ungefragt Maultaschen mitzunehmen? Oder eine Klorolle, oder stapelweise Papier aus dem Büro? Warum solche Eigenmächtigkeiten? Das hat was mit fehlendem Anstand, aber auch mit unerfüllten Erwartungen zu tun." Ingrid Schmidt, die Präsidentin des Bundesarbeitsgerichts in Erfurt, relativiert zwar die Spitze, die in dieser Aussage steckt, im weiteren Verlauf des Interviews mit der "Süddeutschen Zeitung" (29.12.2009), liefert aber einen sehr bezeichnenden Beleg für den bürgerlichen Dünkel. In der Eigentumsschädigung im Kleinen offenbart der Beschäftigte einen unguten charakterlichen Mangel, der seinem Vorgesetzten die weitere Zusammenarbeit verunmöglicht – so die kaum einmal hinterfragte Logik.

Geht es überhaupt um Eigentumsdelikte?

Das prägnante Bild, in dem der Beschäftigte diebisch in die Tasche seines Brotgebers greift, das Frau Schmidt aufgreift, teilt Opfer- und Täterrolle klar zu und widersetzt sich vital jedem Relativismus. Allein: Nicht immer liegt überhaupt eine klare Eigentumsschädigung vor.

In dem Maultaschenfall hat sich der Beschäftigte über das Verbot hinweggesetzt, Essensreste mitzunehmen. Der Essensrest wäre alternativ weggeworfen worden, was für den Arbeitgeber wegen anfallender Entsorgungskosten eigentlich eher teurer ist, als wenn ihn der Beschäftigte über seinen eigenen Körper entsorgt. Der Sinn der strengen Vorschrift lässt sich allenfalls erahnen; es ist nicht bekannt, ob sich der Arbeitgeber seinen Beschäftigten gegenüber jemals näher erklärt hat. Operierte der Arbeitgeber nur ausnahmsweise mit einer eher sinnfreien Regel, hat auch ein nicht ganz so schlecht erzogener Beschäftigter eventuell annehmen können, es sei im dichten Kanon der betrieblichen Regelungen vielleicht nicht die am ernstesten gemeinte. Zumal eine Schädigung des Arbeitgebers nicht erkennbar und moralische Bedenken nur unter großen Mühen evozierbar sind. Schlimmer noch, wenn solche sinnfernen Vorschriften bei diesem Arbeitgeber zahlreich und allesamt ernst gemeint sind: Wie weit ist da noch die Entfernung zum Terrorregime? Sind solche Vorschriften – speziell wenn der Arbeitgeber nonchalant darauf verzichtet, den ihnen von ihm zugeschriebenen Sinn zu erläutern – nicht bereits nackte Willkür unter Ausnutzung des vorhandenen Machtgefälles und de facto unappetitlich und sittenwidrig?

Fehlender Anstand?

Weil der Anstand fehlt, darf der Beschäftigte ohne weitere Vorwarnung auf die Straße gesetzt werden und er und möglicherweise seine Familie einer sehr ungewissen sozialen Zukunft ausgesetzt werden? Wirtschaftliche Sicherheit nur für gut erzogene Menschen? Dabei ist fehlender Anstand im Sinne des Übertretens von Normen nicht so selten, wie Frau Schmidt meint, und schon gar nicht auf die Arbeitswelt limitiert. Besonders anstandsfrei und unbeeindruckt von der normativen Überregulierung zeigen sich etwa Heerscharen von Verkehrsteilnehmern. Dabei besitzen Verkehrsregeln fast alle eine erheblich leichter zugängliche Überzeugungskraft als das Verbot der Mitnahme von Essensresten. Gerade Fahrer hubraumstarker und teurer Fahrzeuge betrachten Regeln gerne als lästige und vernachlässigenswerte Beschränkung der eigenen Entfaltungsfreiheit. Der Bürger (die Bürgerin) ist sich in der Definition des relevanten Anstands halt sehr sicher.

"Emmely" hat ihrem Arbeitgeber eigentlich auch nicht direkt in die Kasse gegriffen, was sie zweifelsfrei als Kassiererin disqualifiziert hätte. Dieser Eindruck wird nur immer erweckt. Sie hat Pfandbons, die eine Kundin/ein Kunde im Laden verloren hatte, eingelöst. Das könnte Tengelmann völlig kalt lassen, weil es auch eine Kundin hätte sein können, die den Bon findet und ihn einlöst, obwohl er nicht der eigene ist. Auch wird der Reichtum des Tengelmann-Eigentümers Erivan Haub eher nicht davon abhängen, dass seine Kunden saumselig sind und ihre Bons verlieren. Jede Vorlage des Bons berechtigt zur Rückerstattung des Pfands, der Tengelmann eben nicht gehört, sondern der nur bis zur Abforderung verwahrt wird. Auch hier muss der wirtschaftliche Schaden des Arbeitgebers sehr mühselig konstruiert werden.

"Mein" und "Dein"

Wechseln wir nun die Perspektive zum Bild des in die Tasche des Arbeitgebers Langenden (es bleibt schief). In den Frikadellen-Fällen ging es darum, dass Beschäftigte bereits im Vorfeld einer firmen­internen Bewirtung – ggf. mit externen Gästen – einzelne Canapés schnabulierten. Das ist natürlich kein Mundraub am Patron, weil der Patron als solcher meist weder in einer übergewichtigen und schon gar nicht in einer hungrigen Variante fleischgeworden existiert. Der Eigentümer der Firma ist oft nur per Einlage an einer Kapitalgesellschaft mit dem Unternehmen verbunden und sein Interesse konzentriert sich auf eine angemessene (oder auch gern unangemessen hohe) Verzinsung des eingesetzten Kapitals. Ein oder auch zwei Canapés mehr oder weniger sind für die Rendite selten entscheidend. Die meist streubesessenen Unternehmen, genauso Körperschaften und Anstalten des öffentlichen Rechts, bedienen sich Vertretern, die als Arbeitgeber agieren.

Der Chef gehört natürlich zum Arbeitsalltag unauflöslich dazu und wird als prozesssteuernde Instanz absolut wahrgenommen. Ansonsten arbeitet der Beschäftigte in einem festen Umfeld, das Kollegen und Kunden einschließt und große Teile seines Tages prägt. Er hat "seinen" Schreibtisch und "seinen" Computer und zusammen mit den Beschäftigten seiner Abteilung auch "unseren" Besprechungsraum und "unsere" Teeküche. Wichtige Teile des Alltagslebens finden in diesem sozialen und räumlichen Kontext statt und werden als Teil des eigenen Alltags erlebt. Das Unternehmen trägt insgesamt die Früchte, die die Arbeit des Beschäftigten, seiner Kollegen und seiner Chefs hervorbringen.

Nicht selten variieren diese Früchte die arbeitsvertraglich vereinbarte Schuld: War das Jahr gut, werden vielleicht mehr Kollegen eingestellt und der Arbeitsdruck ist geringer. Oder der Topf mit den variablen Verdienstzuschlägen wird größer. Oder die Geschenke zu Weihnachten üppiger. Umgekehrt schlagen eine schwierige wirtschaftliche Entwicklung des "eigenen" Unternehmens recht unvermittelt auf den Beschäftigten durch: Die Arbeit wird verdichtet, der Betriebsausflug wird gestrichen, freiwillige Leistungen des Unternehmens sparsamer. Eigene Leistung und Erfolg des Unternehmens erscheinen daher begründet als zusammenhängend; die Deklarierung des Eigentums wider dem tatsächlichen Empfinden als "fremdes" wird als artifiziell empfunden.

Vor diesem Hintergrund ist hier die Unterscheidung zwischen "mein" und "dein" nun vielleicht doch nicht mehr so simpel, wie eine Bundesrichterin meint. Im Detail gilt es auch zu bedenken: Darf ich das Geschirr in der Teeküche für meine Pause verwenden? Wahrscheinlich ja, weil es im Sozialraum aufbewahrt wird. Eine Serviette dazu – oder ist die nur für die Gäste vorgesehen? Ein Löffelchen Zucker? Macht man sich alltäglich wirklich immer jedes Mal diese Gedanken, selbst als normenfester Mensch? Und wissen es die Arbeitgeber nicht immer sehr zu schätzen, wenn sich die Beschäftigten mit dem Unternehmen stark identifizieren?

Freilich ist es beim Canapé klarer, dass es zur Verköstigung von Gästen dient. Aber wenn fast immer welche übrig bleiben, die anschließend erlaubterweise vertilgt werden dürfen, ist die Einsicht nicht sofort nah, dass man mit ihnen nicht bereits vorher ein in der Arbeit ehrlich erworbenes Hüngerchen stillen darf. Reicht eine solche Verfehlung aus, um existenzgefährdende Konsequenzen nach sich zu ziehen?

Das Konstrukt des Vertrauensverhältnisses

Frau Schmidt sagt ja und begründet es in letzter Konsequenz mit der schlechten Kinderstube von Arbeitnehmern. Schließlich hat der Arbeitgeber jetzt sein Vertrauen in den Mitarbeiter verloren und kann es leider nicht mehr wieder finden! Und der Arbeitgeber hat absolut Recht damit, nur Leute beschäftigen zu müssen, die vielleicht vorsätzlich Plastikmüll in das Altpapier werfen, die Steuern hinterziehen, auf der Autobahn und an der Kasse drängeln, aber in der Arbeit mustergültige Moral beweisen. Geschenke des Mitarbeiters, wie nicht aufgeschriebene Überstunden, oder besondere Flexibilität, wenn kurzfristig länger gearbeitet werden muss, weil unabsehbar notwendig geworden (obwohl der VHS-Kurs dadurch nicht besucht werden kann oder das Kind im Hort warten muss) werden huldvoll angenommen. Interpretiert der Beschäftigte die Grenze des arbeitsvertraglich Vereinbarten ungenügend entscheidungssicher in die falsche Richtung – und sei es auch nur um wenige Cents oder das Nichtbefolgen einer der Myriaden existierender Vorschriften – ist es um die Existenz erst mal geschehen.

Als ob es dem Arbeitgeber auf Vertrauen ankäme! So ein unverschämt verlogenes Argument! Kein Arbeitgeber wäre auch gut beraten damit, seinen Beschäftigten – eine große Zahl an Menschen, die er (sein Manager) eigentlich gar nicht kennt – blindes Vertrauen entgegen zu bringen. In der Lebenswirklichkeit tut er das auch nicht: Er lässt regelmäßig Kassen bilanzieren und Firmenwerte nur gegen Unterschrift von Hand zu Hand geben, er setzt Security-Kräfte ein, um Verlassende des Firmengeländes zumindest stichprobenhaft zu kontrollieren, er setzt Videokameras zur Überprüfung ein. Jeder weiß das und jeder kann das, zumindest wenn sich der Arbeitgeber dabei an die Regeln hält, nachvollziehen. Kein Arbeitgeber ist im Regelfall also auf ein ungeschütztes Vertrauen zu einer Vielzahl von Beschäftigten angewiesen.

Fristlose Kündigung oder Abmahnung?

So ein entscheidendes Argument und so schwachbrüstig! An dieser Stelle beginnt es sehr heftig nach Schwefel zu riechen: Nur über das Argument des verlorenen Vertrauens lässt sich aus Sicht des Arbeitgebers nämlich die fristlose Kündigung ohne vorherige Abmahnung begründen. Die Abmahnung freilich, im Prinzip der korrigierende Königsweg in allen Fällen kleinerer Verfehlungen eines Mitarbeiters, muss ordentlich begründet sein und kann angefochten werden. Hat aber der Arbeitgeber – der den gern streubesitzenden Eigentümer vertretende Manager – sein Vertrauen verloren, steht der Beschäftigte bar jeden Schutzes da. Die Vertragsbeziehung wird aufgelöst und die Hoffnungen des plötzlich Ex-Beschäftigten werden auf allenfalls eine halbwegs anständige Abfindung limitiert.

Die schreiende soziale Ungerechtigkeit dieses Vorgehens wird von der bürgerlichen Richterschaft übersehen. Fern jeder Lebenswirklichkeit und bar jeder tiefergehenden Empathie für abhängig Beschäftigte bleiben Arbeitsrichter wie Frau Schmidt in ihrer bürgerlichen Distinktionsphantasie gefangen: Wer sich nicht benehmen kann, ist als "gleichberechtigter Vertragspartner" untragbar geworden. Und obwohl sowohl Frau Schmidt – erkennbar an ihren Ausführungen im Interview – und ihre Kollegenschar – erkennbar an vielen differenzierten Urteilen in der Vergangenheit – sich sicher und auch zu Recht nicht aktiv in einer Klassenkampfposition sehen, werden sie durch ihre unreflektierte und lebensfremde bürgerliche Einordnung zu Protagonisten einer objektiven Klassenjustiz.

Die SPD will Kündigungen wegen Bagatellvergehen gesetzlich verbieten. Eigentlich reicht es aber, in allen Fällen der – wie wir gesehen haben, sehr breiten – Grauzone unkorrekten ("unanständigen") Handelns von Beschäftigten eine der Kündigung verpflichtend vorgeschaltete Abmahnung vorzusehen. Der Beschäftigte würde nicht aus heiterem Himmel gekündigt, könnte sich genau nach der nochmals eindeutig präzisierten Anforderung richten oder gefahrlos juristisch dagegen vorgehen. Und somit gehörten auch alle unerträglichen Skandalurteile wie die der vergangenen Monate endlich der Vergangenheit an.

Sandro Milbert ist Rechtsanwalt in München. Das in schönstem Gutsherren-Duktus gehaltene Zitat im Titel stammt von dem heimkehrenden Aegisth in "Elektra" von Richard Strauss bzw. Hugo von Hofmannsthal (Libretto).

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