1. Juni 2008 Thorsten Schulten

Kein Lohn unter 20 Franken!

Über die Politik der schweizerischen Gewerkschaften ist hierzulande immer noch kaum etwas bekannt. Allenfalls erinnert man sich daran, dass die Schweiz zu einem der wenigen Länder gehört, die in den internationalen Streikstatistiken sogar noch hinter Deutschland stehen.

Dem Image der schweizerischen Gewerkschaften hängt dabei immer noch jener berühmte "Schweizer Arbeitsfrieden" aus dem Jahr 1937 nach, als sich die Metallgewerkschaften in einem grundlegenden "Friedensabkommen" mit den Arbeitgebern zu einem weitgehenden Verzicht von Arbeitskampfmaßnahmen verpflichtete hatten.

In den letzten beiden Jahrzehnten hat sich die Politik der schweizerischen Gewerkschaften jedoch stark gewandelt (für einen ausführlichen Überblick vgl. Oesch 2007). Entscheidend hierfür war ein grundlegender Umbruch in der Gesellschaft, der in den 1990er Jahren durch eine tiefe Wirtschaftskrise ausgelöst wurde. In deren Folge ging eine lang andauernde Periode der Vollbeschäftigung zu Ende und es kam erstmals seit langem wieder zu einer spürbaren Arbeitslosigkeit. Gleichzeitig wurde politisch von führenden Kreisen des Kapitals nun auch für die Schweiz eine neoliberale Wende eingefordert und damit der traditionelle Klassenkompromiss mit den Gewerkschaften aufgekündigt. Im Ergebnis kam es zu einer zunehmenden Dezentralisierung der Tarifauseinandersetzungen und Aushöhlung von Tarifverträgen, was für die Beschäftigten zu erheblichen Reallohnverlusten und einer deutlichen Ausdehnung des Niedriglohnsektors geführt hat. Die geplante Öffnung des Arbeitsmarktes durch das Abkommen zur Personenfreizügigkeit mit der EU drohte schließlich zu einer weiteren Erosion des Tarifsystems beizutragen. Vor diesem Hintergrund haben die im Schweizerischen Gewerkschaftsbund (SGB) vereinigten Gewerkschaften eine grundlegende politisch-strategische Neuorientierung vollzogen, die nicht nur zu einer umfassenden organisatorischen Neuaufstellung (Rieger u.a. 2008), sondern auch zu einer weit reichenden Politisierung der Gewerkschaftsarbeit geführt hat. Hierzu gehört auch, dass sich die Gewerkschaften "von der alten Ideologie eines Arbeitsfriedens um jeden Preis … definitiv verabschiedet (haben)" und der Streik als Mittel der tarifpolitischen Auseinandersetzung wieder deutlich an Bedeutung gewonnen hat (SGB 2008: 6).

Die erste Mindestlohnkampagne (1998ff.)

Eines der im Zusammenhang mit der strategischen Neuorientierung zentralen politischen Projekte war die erste große Mindestlohnkampagne "Keine Löhne unter 3.000 Franken", die auf dem SGB-Kongress 1998 beschlossen wurde und von der oft behauptet wird, "sie sei das Beste gewesen, was die Gewerkschaften im letzten Jahrzehnt gemacht hätten" (Rieger 2006: 257). Den Ausgangspunkt dieser Kampagne bildete die Überzeugung, dass dem Problem der zunehmenden Niedriglöhne alleine mit den traditionellen Mitteln der sektoralen und betrieblichen Tarifpolitik nicht mehr beizukommen war. Stattdessen sollte die Lohnfrage politisiert und zu einer gesellschaftspolitischen Auseinandersetzung gemacht werden. Mit einer breit angelegten Kampagne, die Löhne unter 3.000 Franken pro Monat als Hungerlöhne skandalisierte, ist es den Gewerkschaften in der Schweiz gelungen, Lohnarmut zu einem gesellschaftspolitischen Thema zu machen und hierbei die Meinungsführerschaft zu erreichen (ebenda). Dies ging so weit, dass viele Schweizer BürgerInnen am Ende glaubten, in der Schweiz würde ein gesetzlicher Mindestlohn von 3.000 Franken bestehen, obwohl es diesen in Wirklichkeit gar nicht gibt.

Anders als ihre deutschen KollegInnen haben die schweizerischen Gewerkschaften nicht die Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns gefordert, was ihnen angesichts der damaligen politischen Kräfteverhältnisse im Parlament als nicht sehr aussichtsreich erschien. Stattdessen konzentrierten sie sich darauf, die gesellschaftspolitische Auseinandersetzung dafür zu nutzen, um im Rahmen der Tarifpolitik die politisch gesetzte Norm von mindestens 3.000 Franken durchzusetzen. Obwohl die Tarifbindung in der Schweiz bei unter 50% liegt (Oesch 2007: 346), waren die Gewerkschaften mit dieser Strategie äußerst erfolgreich und konnten in vielen Bereichen eine substantielle Anhebung der unteren Lohngruppen durchsetzen (Oesch/Rieger 2006; Oesch 2008). Vor Beginn der Kampagne im Jahr 1998 lag der Bruttomonatslohn bei knapp 9% aller Vollzeitbeschäftigten unter 3.000 Franken. Im Jahr 2006 waren es noch 3,7%. Besonders stark konnten Frauen von der Mindestlohnkampagne profitieren, deren Anteil mit einem Bruttomonatslohn von unter 3.000 Franken von 18% (1998) auf 6,7% (2006) zurückgegangen ist (vgl. Abbildung). In einigen Tarifverträgen wie z.B. im Gastgewerbe oder bei den Einzelhandelsketten Migros und Coop konnten die Löhne zwischen 1998 und 2008 um 35% bis 45% erhöht werden, während im gleichen Zeitraum die Durchschnittslöhne nur um 15% gestiegen sind (Oesch 2008).

Der aktuelle Relaunch der Mindestlohnkampagne

Bei allen Erfolgen der Mindestlohnkampagne zeigten sich in den letzten Jahren jedoch auch immer deutlicher die nach wie vor bestehenden Defizite. So ist der Rückgang der Niedriglohnempfänger nach 2004 merklich ins Stocken geraten (Oesch 2008: 27). In einigen Branchen mit geringem Gewerkschaftseinfluss und ohne Tarifbindung wie z.B. bei den persönlichen Dienstleistungen (Friseurhandwerk, Wäschereinen, Hauswirtschaft usw.) ist der Anteil der Niedriglohnempfänger nach wie vor sehr hoch. In diesen Sektoren ist die Strategie einer tarifvertraglichen Mindestlohnsicherung offensichtlich an Grenzen gestoßen (ebenda: 25). Schließlich bestand auch ein dringender Bedarf, die aus dem Jahr 1998 stammende Forderung von einem Bruttomindestlohn von 3.000 Franken an die aktuellen Begebenheiten anzupassen.

Vor diesem Hintergrund beschloss der Schweizer Gewerkschaftsbund im April 2008 eine Neuauflage seiner Mindestlohnkampagne, bei der nunmehr drei zentrale Forderungen erhoben werden (Rechsteiner 2008):

1. In absehbarer Zeit soll es in der Schweiz keine Mindestlöhne mehr geben, die unter 3.500 Franken im Monat liegen. Damit wird die alte Forderung entsprechend der durchschnittlichen Lohnerhöhung seit 1998 auf ein aktuelles Niveau angepasst. Derzeit erhalten etwa 11% aller Beschäftigten in der Schweiz weniger als 3.500 Franken.

2. Um der gestiegenen Teilzeitbeschäftigung Rechnung zu tragen, fordert der SGB nun auch einen Mindeststundenlohn von 20 Franken, der bei einer 40-Stunden-Woche etwa einem Monatslohn von 3.500 Franken entspricht.

3. Schließlich fordert der SGB einen zusätzlichen Bruttomonatsmindestlohn für qualifizierte Beschäftigte, der bei monatlich 4.500 Franken liegen soll. Damit soll der Tatsache Rechnung getragen werden, dass die unteren Lohngruppen für qualifizierte Beschäftigte in den letzten Jahren nur geringe Lohnsteigerungen erfahren haben.

Die Umsetzung der neuen Mindestlohnkampagne soll wiederum primär über die Tarifpolitik erfolgen. In Branchen ohne Tarifverträgen sollen darüber hinaus branchenspezifische gesetzliche Mindestlöhne eingeführt werden. Hierzu soll das Instrument der so genannten Normalarbeitsverträge (NAV) genutzt werden, das vor einigen Jahren im Rahmen der "flankierenden Maßnahmen" zur Personenfreizügigkeit eingeführt wurde und mit dessen Hilfe entweder auf Bundes- oder kantonaler Ebene die gesetzliche Festschreibung von Mindestlöhnen in tariflosen Branchen möglich ist. Schon heute existieren in den Kantonen Genf und Tessin für einzelne Branchen solche NAVs (Oesch 2008: 34). Sollte sich die Strategie branchenspezifischer gesetzlicher Mindestlöhne als unzureichend erweisen, so steht auch für den SGB am Ende die Frage eines allgemeinen gesetzlichen Mindestlohns auf der Tagesordnung (Rechsteiner 2008).

Von der Schweiz lernen …

Auf den ersten Blick verwundert zunächst die für deutsche Verhältnisse außergewöhnlich hohe Forderung von 20 Franken pro Stunde, was nach aktuellem Wechselkurs etwa 12,30 Euro sind. Allerdings muss hierbei berücksichtigt werden, dass das allgemeine Preisniveau in der Schweiz im Durchschnitt etwa 25% über dem in Deutschland liegt, sodass 20 Franken umgerechnet in Kaufkraftparitäten etwa 9,20 Euro entsprechen. Damit ergibt sich ein vergleichbarer Betrag, wie er auch von den deutschen Gewerkschaften nach einem Einstieg von 7,50 Euro mittelfristig als gesetzlicher Mindestlohn angestrebt wird. Die besondere Stärke der Schweizer Mindestlohnkampagne lag in der Vergangenheit vor allem in ihrem gesellschaftspolitischen Erfolg, bei dem es gelungen ist, in einem zentralen Bereich der öffentlichen Auseinandersetzung die neoliberale Hegemonie zu brechen. Auch in Deutschland gab es in den letzten Jahren kaum ein zweites Thema, bei dem die Gewerkschaften in der Lage waren, die Meinungsführerschaft zu erreichen. Die Erfahrungen in der Schweiz waren dabei in vielerlei Hinsicht auch Vorbild für die deutsche Mindestlohnkampagne. Interessant ist schließlich, dass im Unterschied zu Deutschland die Schweizer Gewerkschaften ihre Mindestlohnkampagne primär als eine Tarifkampagne führen. Hierbei ist es ihnen mitunter gelungen, sogar eine kleine Renaissance des Tarifvertrages durchzusetzen und in einigen Branchen erstmals neue Tarifverträge abzuschleißen (Oesch 2008: 23). Hinzu kommt, dass die Anzahl der allgemeinverbindlich erklärten Tarifverträge deutlich erhöht werden konnte (Oesch 2007: 349).

In Deutschland stößt eine rein tarifvertragliche Mindestlohnstrategie derzeit auf so große Widerstände, dass ohne einen allgemeinen gesetzlichen Mindestlohn keine flächendeckende Mindestlohnsicherung zu gewährleisten ist (Bispinck/Schulten 2008). Allerdings sollte deshalb die tarifpolitische Komponente keinesfalls vernachlässigt werden. Aktuell geht die Auseinandersetzung innerhalb der deutschen Gewerkschaften vor allem darum, ob überhaupt noch Tarifverträge mit Löhnen unterhalb von 7,50 Euro unterzeichnet werden sollen. Hierbei scheint sich immer mehr eine Position durchzusetzen, dies nur noch in begründeten Ausnahmefällen zuzulassen. So hat sich z.B. ver.di im Bewachungsgewerbe gegen den Vorschlag der Arbeitgeber für einen Mindestlohntarifvertrag ausgesprochen, da letztere selbst im Rahmen eines mehrjährigen Stufenplans nicht bereit waren, die 7,50 Euro festzuschreiben. Zukünftige Tarifauseinandersetzungen in Niedriglohnbranchen werden zukünftig an dieser Marke gemessen werden. Von der Schweiz lernen, heißt hierbei insbesondere auf die Verbindung von gesellschafts- und tarifpolitischer Auseinandersetzung zu setzen.

Literatur
Bispinck, R./Schulten, T. (2008): Aktuelle Mindestlohndebatte: Branchenlösungen oder gesetzlicher Mindestlohn? in: WSI-Mitteilungen Vol. 61 (3), S. 151-158.
Oesch, Daniel (2007): Weniger Koordination, mehr Markt? Kollektive Arbeitsbeziehungen und Neokorporatismus in der Schweiz seit 1990, in: Schweizerische Zeitschrift für Politikwissenschaft Vol. 13 (3), S. 337-368.
Oesch, Daniel (2008): Mindestlöhne in der Schweiz: Entwicklungen seit 1998 und Handlungsbedarf heute, Schweizer Gewerkschaftsbund (Hrsg.) Dossier Nr. 56, April 2008.
Oesch, Daniel/Rieger, Andreas (2006): Mindestlohnpolitik via Tarifverhandlungen: Erfahrungen der gewerkschaftlichen Mindestlohnkampagne in der Schweiz, in: Schulten, Thorsten/Bispinck, Reinhard/Schäfer, Claus (Hrsg.), Mindestlöhne in Europa, Hamburg, S. 225-245.
Rechsteiner, Paul (2008): Die neue Mindestlohnkampagne mit drei Zielen: Keine Löhne unter 3500 Franken – Keine Stundenlöhne unter 20 Franken – Keine Löhne unter 4500 Franken für Gelernte, SGB Medienkonferenz vom 15.4.2008.
Rieger, Andreas (2006): Die Kampagne "Keine Löhne unter 3000 Franken" in der Schweiz, in: Sterkel, Gabriele/Schulten, Thorsten/Wiedemuth, Jörg (Hrsg.), Mindestlöhne gegen Lohndumping, Hamburg, S. 257-264.
Rieger, Andreas/Ambrosetti, Renzo/Beck, Renatus (Hrsg.) (2008): Gewerkschaften im Umbruch. Eine Analyse der Fusion zur Grossgewerkschaft Unia, Zürich/Chur.
SGB (Schweizerischer Gewerkschaftsbund) (2008): Streiken wirkt. Arbeitskämpfe in der Schweiz, Bern.

Thorsten Schulten ist Wissenschaftler am Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Institut (WSI) in der Hans-Böckler-Stiftung in Düsseldorf.

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