23. August 2014 Joachim Beerhorst: Oskar Negt zum 80. Geburtstag

Keine Demokratie ohne Sozialismus

»Was für eine Philosophie man wähle, hängt davon ab, was für ein Mensch man ist« – wendet man diesen von ihm oft zitierten Satz Fichtes auf ihn selbst an, lassen sich zwei bestimmende Grunderfahrungen in der persönlichen und geistigen Entwicklung Oskar Negts identifizieren.

Lebenswege und Denkwege

Da ist zum einen die Kindheit in einem sozialdemokratisch ausgerichteten kleinbäuerlichen Elternhaus mit starkem Bezug zur Interessenvertretung der Arbeiter: »Wir durften über die Gewerkschaft nie schlecht reden; wenn Kritik angebracht war, dann war sie meinem Vater vorbehalten.« Und da ist zum anderen die Vertreibung aus der ostpreußischen Heimat, die Erfahrung der Entwurzelung, der territorialen Ortlosigkeit. Beides sind und bleiben dauerhafte Prägungen seiner politischen Orientierung und seiner intellektuellen Motive: der Linkssozialismus und das Setzen auf die Gewerkschaften als Konstante, auf die linke Sozialdemokratie (neben und nach SDS und Sozialistischem Büro) als distante Variable; das Suchen und Finden von Identität als Analyse und Kritik der gesellschaftlichen Verhältnisse, die sie unmöglich machen; »Heimat« als politisch vermittelte Zukunftskategorie.

Und dann sind die biografischen Zufälle beteiligt, die aber doch bedingte Zufälle sind und ihre Logik haben: Die Auseinandersetzung mit Kant und dem kategorischen Imperativ schon als Schüler, der damit in der bereits ausgelesenen Schulbibliothek die langen Wartezeiten bis zur täglichen Heimfahrt überbrückt; die Begegnung mit Horkheimer und Adorno als akademischen Lehrern und ihren Ansätzen, durch die sozialpsychologische Wendung der Psychoanalyse zu einer kritischen Theorie des Subjekts zu gelangen; ein Marx-Referat als junger Student, das die Aufmerksamkeit von Adorno und insbesondere von Habermas auf sich zieht, sodass der ihn dann zu seinem Assis­tenten machen wird; die späte Begegnung mit Ernst Bloch und seiner Philosophie der »gelehrten Hoffnung«, als er ihn gegen Angriffe wegen seiner früheren Artikel über die Moskauer Prozesse der 1930er Jahre verteidigt.

Wechselseitige Durchdringung der persönlichen, politischen und intellektuellen Biografie und Kontinuität der Motive – das lässt sich auch bei anderen politischen Intellektuellen sagen. Für Oskar Negt gilt es in thematisch-inhaltlich besonderer Weise.


Erkenntnisinteressen

Was ist soziale Gerechtigkeit und wie wird sie möglich? Was sind die Bedingungen für ein Zusammenleben in der Gesellschaft, das individuelle Interessen und Gesamtinteressen ohne äußeren Zwang (und ohne selbsterzeugte Naturzwänge) zum Ausgleich und zur Wirkung bringt, das also demokratisch fundiert und durchdrungen und in seiner Naturbeziehung reflektiert ist? Wie ist Gewalt aus dem inner- und weltgesellschaftlichen Verkehr zu bannen? Wie sind der deutsche Faschismus und der mit ihm verbundene Zivilisationsbruch des industriellen Massenmords an den europäischen Juden zu begreifen und Ähnliches zu verhindern? Was wäre eine emanzipierte Gesellschaft emanzipierter Individuen? Welche Beiträge kann die Gesellschaftstheorie zu all dem leisten? Dieses sind Kernfragen der Kritischen Theorie der »Frankfurter Schule«, die von den Vertretern der zweiten Generation, die den Begründern Horkheimer und Adorno folgt, und zu der Oskar Negt neben Jürgen Habermas zählt, unterschiedlich aufgenommen und beantwortet werden. Mögen die theoretischen Hauptbezüge auch sehr ähnlich sein, so differieren die konkreten Forschungsgegenstände, die Begriffsbildung, die Einschätzung gesellschaftlicher Entwicklungen, die Resultate und Adressaten des eigenen Wirkens doch erheblich. Mit Jürgen Habermas als Förderer, Herausforderer und Diskurs-Konkurrenten verbinden ihn bis heute wechselseitige Anerkennung, Irritation und öffentliche Kritik.

Negt sagt von sich selbst, dass er langsam lernt und dem Gelernten lange treu ist – gegenüber den postmodernen Anwandlungen in der Theorie und dem politischen Utopieverlust ehemaliger Linker warnte er Studenten und Leser früh vor der »Ideologie der schnellen Verabschiedungen«. Das macht seine Kontinuität aus – sie gründet in der theoretischen Trias Kant, Marx und Freud.

Seine Wurzel bei Kant ist, neben der Erkenntnistheorie der »reinen Vernunft«, die Ethik der »praktischen Vernunft« – was soll ich tun, damit zuträgliches menschliches Zusammenleben in einem Gemeinwesen möglich wird? Der kategorische Imperativ, im Anderen und in sich selbst nie bloßes Mittel für fremde Zwecke zu sehen, sondern immer den Zweck in sich selbst, die normative Integrität des Einzelnen und das Verbot seiner Degradierung zu einem Instrument und damit zu einem bloßen Objekt der Verfügung, ist Negts theoretisches und politisches Ursprungs- und Leitmotiv. Das dürfte auch für Habermas gelten – aber beide schlagen unterschiedliche Wege ein, wenn es darum geht, die gesellschaftlichen Voraussetzungen und Bedingungen dafür zu schaffen. Während Habermas den Schlüssel für die Nicht-Instrumentalisierung des Anderen in der intersubjektiven Verständigung herrschaftsfreier Kommunikation im zwischenmenschlichen Umgang und bei der Festlegung gesellschaftlicher Normen und Ziele sieht (eine Einsicht und ein Postulat, hinter die es kein Zurück geben kann), fragt Negt nach den materiellen Voraussetzungen und den Gegenstandsbereichen herrschaftsfreier Diskurse. Zentral ist für ihn dabei – ganz anders als für Habermas – die Arbeitswelt. Negt hat den kategorischen Imperativ Kants (und den Imperativ herrschaftsfreier Kommunikation Habermas’) gleichsam materialisiert – »der August Bebel der Kritischen Theorie« hat Heribert Prantl ihn einmal genannt.

Damit setzt er fort, was er von Marx übernimmt – hat dieser doch bereits, in Anspielung auf Kant, dem kategorischen Imperativ die Richtung gegeben, »alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist«. Marx’ Kapitalanalyse und Entfremdungskritik, seine Fassung von Arbeit als Dialektik von Subjekt und Objekt, in der sich beide konstituieren, sein Setzen auf die Arbeiterbewegung als unverzichtbarer Kraft für den Ausgang aus der »Vorgeschichte menschlicher Gesellschaft« sind für Negt unhintergehbare und verpflichtende Einsichten. Aber er sieht auch eine große Schwäche: Dass die Arbeit im Kapitalismus zur Lohnarbeit wird – und damit im Schein der Vertragsfreiheit Instrumentalisierung und Selbstinstrumentalisierung einer Gattungseigenschaft fortdauern und subtilere Formen annehmen –, wird von Marx herausgestellt. Ihre subjektive Seite wird aber nicht mit dem gleichen analytischen Aufwand und dem gleichen Erkenntnisinteresse untersucht wie die Strukturen und Bewegungen des Kapitals. Wenn Marx hin und wieder von der »politischen Ökonomie der Arbeit« im Gegensatz zur politischen Ökonomie des Kapitals spricht, bezieht er das auf die Konstellationen im Klassenkampf. Die »innere Ökonomie« des Arbeiters bleibt hingegen weitgehend unbearbeitet: Was bringt Menschen – außer dem Zwang des Lebensunterhalts – dazu, sich dauerhaft zu sich selbst als Ware zu verhalten? Wie bewältigen sie für sich das »Transformationsproblem«, aus gekaufter Arbeitsverpflichtung tatsächlich verausgabte Arbeit, die den Erwartungen der Kapitalverwertung entspricht, werden zu lassen? Warum akzeptieren sie, trotz der Ahnung oder Gewissheit, dass es im Lohnverhältnis nicht gerecht zugeht (Negt bezeichnet das als »Mehrwertmentalität«), diese Verwertung ihrer selbst? Welche Triebe, Hoffnungen, Ängste, Fantasien, welches innere Aufbegehren und Niederringen, welche individuellen Kompensationsleistungen und welche materiellen und immateriellen Integrationsmechanismen sind daran beteiligt? Negt nennt das ein »unerfülltes Programm« bei Marx, und unter Einbeziehung der analytischen Sozialpsychologie und anderer subjekttheoretischer Zugänge arbeitet er am selbst gestellten Programmauftrag: dem Verstehen der subjektiven Dimension entfremdeter Verhältnisse und der Entwicklung politisch-pädagogischer Konzepte zu ihrer Überwindung.

Das ist die Verbindung zu Freud und der an ihn anschließenden politischen Psychologie: »Nicht, dass der Hungernde stiehlt oder dass der Ausgebeutete streik­t, ist zu erklären, sondern warum die Mehrheit der Hungernden nicht stiehlt und die Mehrheit der Ausgebeuteten nicht streikt«, so hat Wilhelm Reich das proletarische Rationalitätsparadox beschrieben. Die psychoanalytische Theorie des konfliktreichen Zusammen- und Gegeneinanderwirkens der un- oder vorbewussten Triebe, der Anforderungen äußerer Realität, der inneren Normen des Gewissens und des Ich-Ideals sowie ihre gesellschaftliche Konstituierung – die Vermittlung durch Sozialisationserfahrung – all das ist elementar für das Begreifen menschlichen Tuns, Duldens oder Unterlassens. Dies gilt für den Alltag der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft und ihre Entwicklungen, in Sonderheit aber für den Faschismus und den Holocaust: Wie war, wie ist der Zusammenbruch der Zivilisation, wie war, wie ist industrieller Verwaltungsmassenmord möglich?

Negt stützt sich bei diesen Fragen einerseits ganz auf die empirischen und theoretischen Ergebnisse und Wegweisungen zur Beziehung zwischen Autorität, Familie, Sozialcharakter und Ideologie aus dem Institutszusammenhang. Er entwickelt – zum Teil zusammen mit Alexander Kluge – aber eigene Zugänge zu den Konstitutionsbedingungen politischen Handelns. Politik in der Arbeit und um die Arbeit ist seine Grundlage.


Arbeit und menschliche Würde

Nirgends wird der Unterschied zwischen Negt und Habermas deutlicher als in ihrem Arbeitsbegriff. Während »Arbeit«, insbesondere Erwerbsarbeit, für Habermas als Inbegriff instrumentellen Handelns der freien kommunikativen Verständigung nicht zugänglich ist, sondern dem nach eigenen Regeln und Imperativen funktionierenden System »Wirtschaft« unterliegt und überlassen bleibt, ist sie für Negt die widersprüchliche Vermittlung von Subjekt und Objekt, durch die sich beide entwickeln – oder abhanden kommen, und deren subjektive Potenziale durch Arbeitspolitik freizulegen sind. Während Habermas arbeitsgesellschaftlichen Utopien eine endgültige Absage erteilt, hält Negt ihre Zeit gerade jetzt für gekommen.

Dabei geht es ihm um dreierlei: Der Arbeitsprozess ist so zu gestalten, dass die Arbeitenden ihre fachlichen, intellektuellen und sozialen Kompetenzen entfalten können, degradierende Arbeitsteilung und die Entgegensetzung von Anordnung und Ausführung zurückgenommen werden. Da Arbeit für Negt aber sehr viel mehr ist als Erwerbsarbeit, nämlich »umfassende, allgemeine gesellschaftliche Praxis von Produktion, Selbstverwaltung und Selbstverwirklichung«, ist der herkömmliche Arbeitsbegriff in die­se Richtung zu erweitern – Aktivität im sozialen und zwischenmenschlichen Bereich, bei der Herstellung wirtschaftlicher und politischer Demokratie, bei der Entwicklung eines lebenswerten Gemeinwesens ist als gesellschaftlich notwendig zu werten und kulturell wie materiell anzuerkennen.

Da Arbeit – auch solche mit höheren Freiheitsgraden und anderen Gegenständen als heute – aber immer eine Tätigkeit bleibt, die ihre Zwecke außerhalb ihrer selbst hat und mit Anstrengung, Entäußerung und der Gefahr der Vereinseitigung menschlicher Sinne verbunden ist, ist die auf sie verwendete Lebenszeit zu begrenzen und zu minimieren. Dies gilt umso mehr in einem hochproduktiven Kapitalismus, in dem sich der stoffliche Reichtum mit immer geringerem Arbeitsaufwand herstellen lässt und nicht der Mangel, sondern der rationale Umgang mit dem Überfluss zum Problem wird. Zur Negt’schen Utopie einer Transformation der Arbeitsgesellschaft gehört also nicht nur die Emanzipation in der Arbeit, sondern auch die Emanzipation von der Arbeit und der engen Bindung des Einkommens an Erwerbstätigkeit. Diese Kopplung entspricht nicht mehr dem Stand der subjektiven und materiellen Produktivkräfte, der neue Maßstäbe der Herstellung und Verteilung des gesellschaftlichen Reichtums erfordert und ermöglicht – in Gestalt eines garantierten existenzsichernden Grundeinkommens bei einer drastisch reduzierten Lebensarbeitszeit als Anteil an der gesellschaftlichen Gesamtarbeit.

Politik – als Prozess und als Resultat – richtet sich für Negt auf die Herstellung menschenwürdiger Verhältnisse; sie wurzeln in der Arbeitswelt. Die Würde des Menschen ist seine Würde in und gegenüber der Arbeit oder sie ist nicht.


Herausforderung der Gewerkschaften

Damit ist der entscheidende Akteur gesetzt, auf den sich Negts theoretisches und politisches Wirken bezieht – kritisch, aber dauerhaft: die Gewerkschaften. Als elementare Organisationen abhängiger Arbeit sind sie unverzichtbar, um den im Kapitalverhältnis Unterlegenen Stimme und Gewicht zu geben. Entsprechend dem weit gefassten Begriff von Arbeit und Arbeitspolitik schreibt Negt ihnen jedoch Aufgaben zu, die weit über eine unmittelbare Interessenvertretung hinausgehen. Das, was bei anderen »Doppelcharakter« (Marx) oder »Doppelung der Ziele« (Götz Briefs) heißt, fasst Negt als »Gewerkschaftsprivileg«, als ihr politisches und kulturelles Mandat. Immer ist ihre primäre Aufgabe, dem »nibbling and cribbling at mealtimes« (Marx) entgegenzutreten und bessere Arbeits- und Lebensbedingungen im Hier und Jetzt durchzusetzen. Zugleich und darüber hinaus muss es ihnen aber um die emanzipatorische Perspektive einer anderen Arbeit und eines grundlegend veränderten Gemeinwesens gehen, das die Instrumentalisierung und Selbstinstrumentalisierung des Menschen als sein ökonomisches Prinzip überwindet. Daher beobachtet und begleitet er – durch die Jahrzehnte seines Wirkens hindurch – die Entwicklung der Gewerkschaften, indem er analysiert, kommentiert und interveniert. Seine großen und kleinen Gewerkschaftsschriften sind entstanden aus dem Kampf um die 35-Stunden-Woche, als Beitrag zur gesellschaftlichen Umbruchsituation seit Mitte der 1970er Jahre (von ihm als »Erosionskrise« objektiver und subjektiver Strukturen gefasst) – und immer wieder bezogen auf die gewerkschaftliche Bildungsarbeit.

Hier hat er mit einer schmalen Schrift aus den 1960er Jahren – »Soziologische Phantasie und exemplarisches Lernen«, eher ein Entwurf als ein konsis­tentes Konzept – einen Stein ins Wasser der gewerkschaftlichen Pädagogik geworfen, der bis heute seine Kreise zieht. Aufregend, zumindest anregend (und für nicht wenige tragend) sind nach wie vor der politische Anspruch und das subjekttheoretische Konzept: Gewerkschaftliche Bildung als politische Bildung richtet sich darauf, in den Alltagskonflikten abhängiger Arbeit die Klassenstruktur der Gesellschaft zu erkennen und als praktisch veränderbar zu begreifen. Und: Dieses Bewusstsein ist den Subjekten des (Lern-)Handelns weder durch Erweiterung oder »Berichtigung« (so eine verkürzte, ja verkehrende Schlussfolgerung in manchen gewerkschaftlichen Bildungskonzepten der damaligen Zeit) von außen zu vermitteln noch entsteht es theorielos durch ein Kreisen um sich selbst, sondern es entwickelt sich durch die theoretisch reflektierte Auseinandersetzung der Arbeitenden mit den Widersprüchen ihrer eigenen Erfahrungen, in denen immer schon ein Wahrheitsgehalt über die Gesellschaft enthalten ist – Aufklärung als pädagogisch gestützte und vermittelte Selbstaufklärung. Dieser Grundgedanke, gespeist aus der Hegelschen Dialektik der wechselseitigen Durchdringung der Widersprüche, des Marxschen Begriffs von Ideologie als Verschränkung von richtigem und notwendig falschem Bewusstsein und seiner erkenntnistheoretischen Kritik an Feuerbach – Bewusstsein ist nicht Widerspiegelung, sondern Verarbeitung; der Erzieher selbst muss erzogen werden –, ist das Leitmotiv der politischen Erkenntnistheorie, der politischen Pädagogik und der (gewerkschafts-)politischen Interventionen, das Negt prägt.

Auch das hat eine lebensgeschichtliche Seite: Vor seinem beruflichen Abbiegen in die Universitätslaufbahn lag eine andere, die der Gewerkschaftsbildung, zunächst näher – war er doch zeitweise Mitarbeiter der Bildungsabteilung der IG Metall und Leiter einer DGB-Bundesschule. Daraus nimmt er eine wichtige Erfahrung mit: »Wer einmal konkret in gewerkschaftlicher Bildungsarbeit tätig war und über deren Vermittlungsprobleme nachgedacht hat, ist gegenüber einer Vielzahl von Irrtümern, die abstraktem und ungeduldigem Radikalismus zu verdanken sind, für immer gefeit« – und, so kann man hinzufügen, gegenüber Utopieverlust und pragmatischen Verkürzungen des normativen Gehalts gewerkschaftlicher Bildung. Sein Gewerkschafts- und Bildungskonzept bringt ihn nicht nur in prinzipiellen Gegensatz zu linksradikalem Idealismus und autoritärem Scheinsozialismus, sondern fallweise auch zur Schwerkraft des vermeintlichen Realismus gewerkschaftlicher Selbstbegrenzung. Negts Beiträge beschreiben und verkörpern Herausforderungen der Gewerkschaften.


Politische Perspektiven

Negts Denken kreist um den politischen Menschen: Wie balanciert er das Verhältnis von Individualität und Sozialität, welche subjektiven Faktoren geben den Ausschlag für politisches Handeln – insbesondere in individuell oder gesellschaftlich existenziellen Situationen? Für Negt sind dies Charakter, Wissen, Lernen, Erfahrung, Gewissen. Sie konstituieren den politischen Menschen und seine Bildung. Diese politische Subjektivität schließt immer den gesellschaftlichen Gesamtzusammenhang ein. »Politische Bildung kann nicht gelingen, wenn die Systemfrage ausgeklammert bleibt. Wo leben wir? Was sind die bestimmenden Macht- und Herrschaftsverhältnisse?« Die Systemfrage stellt sich für Negt jedoch zum einen nie abstrakt, sondern immer bezogen auf die konkreten Lebens- und Arbeitsinteressen und ihre strukturellen Beschränkungen, zum anderen ist sie gerichtet auf praktisch-politische Veränderungen im Horizont grundlegender Umgestaltung. Das gilt nicht nur für seine theoretische Perspektive, sondern auch für sein politisches Wirken: die Forschungen zur gewerkschaftlichen Wohngebietsarbeit am Beispiel der DGB-Ortskartelle, das Mitstreiten in der gewerkschaftlichen Bildung, das von ihm angestoßene und begleitete reformpädagogische Projekt Glock­see-Schule in Hannover, die Vorträge und Beiträge im Rahmen von außeruniversitären Seminaren und Konferenzen haben Bodenhaftung und überwinden die Schwerkraft zugleich. Gut »frankfurterisch« sucht er im Allgemeinen das Besondere und im Besonderen das Allgemeine – die Perspektive ist ein Gemeinwesen, in dem »die Verfügung von Menschen über Menschen überwunden ist und gegenständliche Tätigkeit ein hohes Maß von Durchsichtigkeit, von Äquivalenz und Befriedigung gewinnt«.

Da dies auf der Basis einer kapitalistischen Ökonomie nicht zu realisieren sein wird und deren Entwicklung im Zeichen neoliberaler Entbettungen in die entgegengesetzte Richtung weist, stellt sich die Systemfrage für Negt prinzipiell wie aktuell. Weil er ein orthodoxer, der Methodik, den Analysen, Befunden und Wertungen verbundener, aber undogmatischer, Leerstellen, theoretische und politische Fehlentwicklungen und Verkehrungen kritisierender Marxist ist, verarbeitet er den Untergang des »realen Sozialismus« (der für ihn immer ein irrealer war) nicht als Zusammenbruch einer politischen Orientierung – im Gegenteil: Entlastet vom Ballast der Abgrenzung ist eine neue Zeit der Auseinandersetzung um sozialistische Alternativen gekommen. Ist er den parteikommunistischen Strömungen in den 1970er und 80er Jahren politisch und theoretisch mit der Maxime »Kein Sozialismus ohne Demokratie« entgegengetreten, so macht er heute die andere Seite des Doppelsatzes stark: keine Demokratie ohne Sozialismus. Dieser Sozialismus kann aber nur beruhen auf der Überwindung der Konstruktionsfehler des vermeintlich realen – er ist für ihn nur denkbar als Allianzbeziehung zur Natur, als Vorrang des Besonderen vor dem Allgemeinen, als radikale Demokratisierung von Arbeit, Wirtschaft und Gemeinwesen. Für all dies sucht, findet und postuliert er – ganz verbunden mit Blochs Kategorien der objektiven Möglichkeit, des Vorscheins, des Tagtraums, der konkreten Utopie – Anknüpfungspunkte und Wirkkräfte im Gegebenen. Obwohl er großen theoretischen und publizistischen Aufwand darauf verwendet, die dominierenden Entzivilisierungstendenzen und die Beharrungskraft des neo­liberalen Kapitalismus zu analysieren, setzt er auf die Mobilisierung von psychischen und politischen Gegenkräften.

»Was für eine Philosophie man wähle, hängt davon ab, was für ein Mensch man ist« – Negt hat sich entschieden: »Die Wissenschaft hat kein Recht, die ungünstigsten Entwicklungsmöglichkeiten auszuschließen, aber ohne ein Moment des überschießenden Optimismus gehen alle Motive für die praktische Veränderung der Verhältnisse verloren.« In diesem Optimismus sammeln sich Vorsatz und politisch verarbeitete Lebenserfahrung – und die Bindung an die Trias Kant, Marx und Freud. An die unaufgebbare Voraussetzung der Freiheitsfähigkeit des Menschen, an die dialektischen Sprengwirkungen kapitalistischer Reichtumsproduktion und ihre subjektbezogenen Potenziale, an die Überzeugung, dass die Stimme der Vernunft leise, aber durchdringend ist.

Negt verkörpert und prägt durch die Gegenstände, Themen und Wirkungsfelder seiner intellektuellen und politischen Arbeit jene Seite der Kritischen Theorie, die an eine Gedichtzeile Hölderlins erinnert: »Komm! ins Offene, Freund!«. Seinem akademischen Lehrer hält er entgegen: »Dass man in einem falschen Gesamtzustande der Gesellschaft nicht richtig leben könne, dieser Satz Adornos ist nur bedingt wahr; das richtige Leben beginnt bereits im Kampf gegen das falsche.« Am 1. August wurde Oskar Negt 80 – Dank für die zurückliegenden Jahre richtigeren Lebens, und ihm – und uns! – viele weitere.

Joachim Beerhorst ist Leiter des Ressorts Personalentwicklung/Aus- und Weiterbildung für Hauptamtliche beim Vorstand der IG Metall, Lehrbeauftragter an der Europäischen Akademie der Arbeit (Frankfurt a.M.) und der Global Labour University.

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