1. Februar 2002 Redaktion Sozialismus

Kompetenz und Lagermentalität

Mit ihrem Spitzenkandidaten Stoiber wollen die Unionsparteien eine deutliche Alternative zu den Bundestagswahlen 2002 präsentieren. Der bayerische Ministerpräsident – ausgewiesen durch eine rechtskonservative Position – soll eine Aufsplitterung am rechten Rand verhindern. Der innerparteilichen Konkurrentin Merkel wäre die Zurückdrängung rechtspopulistischer Abspaltungen wie der Schill-Partei schwer gefallen. Die Union kann sich mit Stoiber darauf konzentrieren, liberale Politikangebote für die politische Mitte zu präsentieren, um der FDP, den Sozialdemokraten, aber auch den Grünen bürgerlich eingestellte WechselwählerInnen abspenstig zu machen.

In der Hochphase des Kalten Krieges prägte der letzte bayerische Kanzlerkandidat die Parole »Freiheit oder Sozialismus« – und verlor die Wahl gegen Helmut Schmidt, der gerade die Wende zu einer angebotsorientierten Politik des Sozialabbaus und der Nachrüstung vollzogen hatte. In den 90er Jahren versuchten die Unionsparteien die Rhetorik des Systemgegensatzes mit der Roten-Socken-Kampagne wiederzubeleben – mit zweifelhaftem Erfolg. Spätestens 1998 funktionierte die Polarisierung nicht mehr. Die Union lieferte sich zwar mit der FDP einen Wettbewerb, wer die konsequentesten angebotsorientierten Rezepte für eine Generalinventur von Wirtschaft und Gesellschaft anzubieten hatte. Die Sozialdemokratie und die Grünen waren aber auf diesem Terrain nicht zu stellen, weil sie selbst einen Mix von neoliberaler Angebots- und interventionistischer Nachfragepolitik ins Zentrum rückten. Weil ihre Politik sich immer mehr vom Gebot sozialer Symmetrie entfernte, verloren die bürgerlichen Parteien wichtige Wählerschichten. Der ehemalige Generalsekretär der Union, Heiner Geißler, prägte zu Recht die Formel: »Wer die Union nach rechts rückt, wird links regiert.« In der Koalition mit der FDP habe sich die Union einen anarcholiberalen Kurs aufzwingen lassen, mit dem das Bündnis für Arbeit, also die Beziehung zu den Gewerkschaften, zerstört worden sei. Folglich haben die bürgerlichen Parteien ihre Stimmen nicht am rechten Rand, sondern an die in die Mitte drängende Sozialdemokratie verloren. Die jetzt von Stoiber überlaufene CDU-Parteivorsitzende Merkel formulierte ihr Credo für die programmatische Erneuerung der Unionsparteien so: »Ich trete ein für eine moderne Politik der Mitte.«

Die Union muss auch mit einem Kandidaten Stoiber versuchen, Wählerschichten in der politischen Mitte zurückzugewinnen. Stoiber legt Wert darauf, dass das Bündnis für Arbeit in Bayern Erfolge gebracht habe; er wolle keinen Konfrontationskurs mit den Gewerkschaften. Im Wahlkampf versprechen die Unionsparteien: Das Krankengeld soll nicht angetastet, der Kündigungsschutz ausschließlich zur Erleichterung von Neueinstellungen korrigiert werden. Man versichert, den Umbau des Renten- und Gesundheitssystems effektiver zu organisieren, mit dem Ziel, die so genannten Lohnnebenkosten weiter zu senken. Die Zusammenführung von Arbeitslosengeld und Sozialhilfe stützt sich auf einen breiten Konsens, den selbst die TAZ folgendermaßen umreißt: Es spricht vieles dafür, dass Arbeitslose sich eher Arbeit suchen, wenn man sie dazu zwingt. Die Zielvorstellung von einer existenzsichernden Grundsicherung ist politisch genauso an den Rand gerückt wie der Anspruch, dass die Menschen von einem Arbeitseinkommen auf Vollzeitbasis menschenwürdig leben können.

Stoiber und die Union werden sich als die Anhänger einer intelligenteren Modernisierungspolitik präsentieren. Statt der von Rotgrün betriebenen Begünstigung der Kapitalgesellschaften, deren Beitrag zur Stimulierung von Beschäftigung nicht überzeugend ist, will die neu aufgestellte Union die Förderung der kleineren und mittleren Unternehmen ins Zentrum rücken. Mit einer gezielten Politik für den Mittelstand soll der Aufbruch gelingen zu einem höheren Wirtschaftswachstum und damit zu gesellschaftlichen Ressourcen für Reformen in allen anderen gesellschaftlichen Subsystemen. Spektakuläre Korrekturen sollen unterbleiben. Joschka Fischer nörgelt zu Recht mit Blick auf Stoiber, dessen Forderungen hätten die Halbwertzeit eines rasch zerfallenden Isotops. Lediglich beim Ausstieg aus der Atomenergie bleibt ein grundsätzlicher Unterschied.

Soweit die Rhetorik des Wahlkampfes. In dem Maße, wie im Verlauf des Jahres erfahrbar wird, dass der Konjunkturhimmel nicht von der aufsteigenden Sonne eines beginnenden Aufschwungs erhellt wird, werden die Karten neu gemischt. Auf den sich unter Krisenbedingungen schnell radikalisierenden Mittelstand zu setzen, läuft auf eine grundlegende Inventur des verbliebenen Institutionen des Rheinischen Kapitalismus hinaus – peu à peu. Aber entscheidende Instrumente eines intervenierenden Staates werden geschliffen werden: Dazu gehören der Kündigungsschutz ebenso wie Kernelemente des Tarifsystems wie das Günstigkeitsprinzip, die Mitbestimmung und die verbliebenen Instrumente nicht-autoritärer Arbeitsmarktpolitik. Seehofer wird freie Hand beim Umbau des Gesundheitssystems haben. Und Beckstein wird zeigen können, wie die Infrastruktur eines autoritären Kapitalismus unter den Parolen »Zero Tolerance« und »Deutsche zuerst« zurechtgezimmert wird. Doch ob dieser Kurs in einer Polarisierung der Lager mündet, ist offen. Denn: Sozialdemokratie und Grüne präsentieren in all diesen alltagsrelevanten Punkten keine grundsätzliche Alternative mehr. Die Regierung steckt in der Rezessionsfalle. Die Politik der ruhigen Hand ist zu einem Synonym geworden für die Ignoranz der Gefahren der Weltwirtschaft und des internationalen Währungssystems. Andere europäische Regierungen haben höhere Steigerungen der Arbeits- und Sozialeinkommen zugelassen und stehen beim Wirtschaftswachstum und der Sanierung der öffentlichen Finanzen besser da. Die Regierung hat keine Rücklagen gebildet und der in Europa übliche Spielraum zur Ausweitung öffentlicher Neuverschuldung (bis zu 3% des BIP) ist nahezu ausgeschöpft. Auch hat die »uneingeschränkte Solidarität« mit der Hegemonialmacht USA die Berliner Republik in eine Vasallenrolle gedrängt. Die Bundesregierung vollzieht den Kurs der Verachtung von internationalen Organisationen und Abkommen ebenso nach wie die Logik der Eskalation des »Kampfes gegen den Terrorismus« in Afrika oder auf der arabischen Halbinsel. Mit der Unterstützung der Militärinterventionen der USA und der NATO entfällt auch auf dem Terrain der Außen- und Sicherheitspolitik der früher prinzipielle Gegensatz zwischen Rotgrün und den bürgerlichen Parteien. Sozialdemokratische und grüne Antimilitaristen gelten selbst innerhalb ihres Lagers als politische Narren.

Bei den Bündnisgrünen drückt sich der jetzt offen zutage tretende Transformationsprozess nicht nur im Politikstil und Habitus der Berufspolitiker aus – der Umbau der innerparteilichen Strukturen entspricht dem Vorbild der anderen Parteien. Der »linke Grüne« Christian Ströbele wird ebenso wenig wie die anderen dissidenten Militärgegner in den nächsten Bundestag zurückkehren. Der wirtschaftspolitische Sprecher und frühere Bürgerrechtler Werner Schulz hat mit deutlicher Stimmenmehrheit den Nominierungswettbewerb gegen Ströbele gewonnen, weil er eben nicht nur die interventionistische Außenpolitik akzeptiert, sondern auch wirtschafts- und sozialpolitisch schon lange den Systemwechsel der Grünen vorweggenommen und betrieben hat. Die Partei setzt – vom Niedergang in den zurückliegenden Landtagswahlen beunruhigt – im bevorstehenden politischen Existenzkampf alles auf eine Karte. Der beliebteste bundesdeutsche Politiker, Joschka Fischer, soll als Spitzenkandidat der Partei erneut über die Fünf-Prozent-Hürde helfen. Fischer proklamiert daher, dass die Entscheidung über den weiteren Kurs in der Berliner Republik in der Auseinandersetzung unter den kleinen Parteien fällt.

Die Politik einer keynesianischen Regulierung des Kapitalismus hat mit dem Abtritt des einstigen SPD-Chefs Lafontaine und der neoliberalen Transformation der Grünen keinen parteipolitischen Träger mehr in der Berliner Republik. Aber ist da nicht die PDS? Die linkssozialistische Partei hat durch ihre Ablehnung der Militärinterventionen an Profil und an gesellschaftlichem Rückhalt gewonnen. Allerdings ist die Fortführung einer kompromisslosen Antikriegspolitik innerparteilich nicht unumstritten. Von einer Orientierung auf eine sozialstaatliche Regulierung des Kapitalismus durch Ausweitung von Arbeits- und Sozialeinkommen, öffentlichen Investitionen und die Etablierung eines relevanten Bereiches von öffentlichen Sektoren (Bildung, Wohnen, Gesundheit, soziale Sicherheit) kann nicht die Rede sein. Die innerparteiliche Frontlinie verläuft hier allerdings so, dass den Protagonisten einer umfassenden Marktsteuerung eine kleine Minderheit entgegentritt, die für umfassende Sozialisierung eintritt. Die Position, zunächst eine konsequente soziale Regulierung und Wirtschaftssteuerung anzustreben, wird von beiden Strömungen abgelehnt. Könnte die PDS der Versuchung widerstehen, sich als organisatorisch selbstständige Formation der linken Sozialdemokratie zu verstehen, und würde sie wie dem Antimilitarismus auch der Alternativökonomie einen Platz in Programmatik und praktischem Handeln einräumen, müsste man sich – angesichts der Drängelei in der politischen Mitte – um die weitere parlamentarische Existenz keine Sorgen machen.

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