1. Mai 2003 Michael Wendl

Konfusion nach der Regierungserklärung

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Zunächst sind die DGB-Gewerkschaften mehrheitlich auf klare Distanz zur Agenda 2010 des Bundeskanzlers gegangen. Insbesondere der unsoziale Charakter der angekündigten Kürzungen für Arbeitslose und Kranke hat ihre Kritik hervorgerufen. "Arbeitslose und andere sozial schwache Bevölkerungskreise (werden) finanziell und auch gesellschaftlich in einer Weise schlechter gestellt, die mit dem Grundprinzip der sozialen Gerechtigkeit unvereinbar ist" – so das Fazit einer ersten Bewertung der Regierungserklärung durch die DGB-Grundsatzabteilung.

In den Einzelgewerkschaften selbst wird die "Reformagenda" unterschiedlich bewertet. Während der DGB "Plus" und "Minus" bilanziert und sich bemüht, die konjunkturpolitischen Versprechungen des Kanzlers als positiv herauszustellen, gehen ver.di und die IG Metall grundsätzlich auf Distanz. Zusätzlich kompliziert sich die innergewerkschaftliche Positionierung dadurch, dass die IG BCE die Kooperation mit der Regierung fortsetzen will, weil sie sich davon Verbesserungen in Einzelfragen erhofft, und gleichzeitig der DGB vermeiden will, "in die Ecke der Neinsager" gestellt zu werden. Deshalb schlägt die DGB-Grundsatzabteilung vor, es "sollte nicht pauschal mit Konflikten gedroht, sondern konkrete Alternativen zu den Plänen vorgebracht werden, die der DGB nicht mittragen kann". Erinnert wird an den aktuellen Vorschlag des DGB, zur Finanzierung so genannter versicherungsfremder Leistungen in der Sozialversicherung u.a. die Mehrwertsteuer zu erhöhen.[1]

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Diese Position wird von ver.di und der IG Metall abgelehnt, weil beide zu Recht darauf hinweisen, dass mit einer Kürzung der Sozialversicherungsbeiträge beschäftigungspolitisch nichts erreicht wird, da die Ausgaben der Sozialversicherung Bestandteile der konsumtiven Nachfrage sind und die gegenwärtige Wirtschaftsschwäche geradezu durch die Schwäche der Inlandsnachfrage gekennzeichnet ist. Deshalb hatten ver.di und IG Metall im Herbst 2002 eine Initiative zur Wiedereinführung der Vermögenssteuer gestartet, mit dem Ziel, Einkommen mit einem ausgesprochen "niedrigen Hang zum Verbrauch" (Keynes) der Besteuerung zu unterwerfen. Damit würde anders als bei einer Mehrwertsteuererhöhung der Konsum nicht beeinträchtigt. Aus der Sicht von ver.di und IG Metall muss das der Agenda 2010 zugrunde liegende wirtschaftspolitische Konzept grundsätzlich abgelehnt werden, nicht nur weil es eine unsoziale Verteilungswirkung hat, sondern weil seine Umsetzung zur Erhöhung der Arbeitslosigkeit führt.

Über diese Bewertung der Auswirkungen der Agenda 2010 gibt es in den Gewerkschaften keinen Konsens. Nach wie vor ist eine Sichtweise populär, die ersttens Deutschland für eine "institutionalisierte Hochlohnökonomie" (Streeck) hält, und zweitens fest daran glaubt, dass insbesondere die Beiträge zur Sozialversicherung den "Faktor Arbeit" zu teuer gemacht hätten.

Dieses populäre Vorurteil lässt sich zwar einfach widerlegen, indem auf die Entwicklung makroökonomischer Größen wie Lohnstückkosten, Lohnquote, Exportquote und die Entwicklung der Inlandsnachfrage hingewiesen wird, auf Größen also, die den Nachweis liefern, dass der Standort Deutschland gekennzeichnet ist durch eine zunehmende Schere zwischen steigender Export- und stagnierender Inlandsnachfrage, was durch im internationalen Vergleich weiter unterdurchschnittliche Lohnstückkosten bedingt ist. "Die jüngste Entwicklung zeigt ..., dass zwar die Heterogenität der Lohnentwicklung zwischen den einzelnen Ländern des Euroraumes insgesamt nur wenig zugenommen hat, die Lohnentwicklung in Deutschland aber deutlich aus dem Rahmen fällt. Die Löhne bleiben hier so weit hinter dem Durchschnitt zurück wie noch nie seit Beginn der Währungsunion. Deutschland geht bei den Löhnen derzeit gleichsam einen Sonderweg" (DIW-Wochenbericht 1-2003, S. 13).

Da die Arbeitgeberbeiträge zur Sozialversicherung in der Größe der Lohnstückkosten bereits enthalten sind, können auch die Lohnnebenkosten kein Problem sein.

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Trotzdem geht von den Lohnnebenkosten eine große ideologische Faszination aus. Ihre Senkung erscheint als quasi geniale Zauberformel, um mit einem Schlag mehrere ökonomische Probleme zu lösen. Im Thesenpapier des Kanzleramtes vom Ende letzten Jahres wird diese Hoffnung prägnant zusammengefasst. "Der Königsweg für mehr Vertrauen und Beschäftigung ist eine Absenkung der Steuer- und Abgabenbelastung. Denn so behalten die Menschen mehr Netto von ihrem Bruttoeinkommen. Sie können mehr konsumieren und mehr sparen, das heißt für das Alter vorsorgen. Lohnsteigerungen können moderater ausfallen, ohne dass dadurch der Konsum belastet würde. Gleichzeitig verbilligt sich der Faktor Arbeit (Abgaben), für die Unternehmen wird es wieder interessanter, mehr Mitarbeiter einzustellen. Es entwickelt sich eine dreifach positive Wirkung auf die Investitionen: Unternehmer erwarten, dass die Menschen mehr konsumieren; niedrigere Steuern verbessern die Möglichkeiten der Gewinnerzielung; niedrigere Abgaben verbilligen die mit einem Beschäftigungsaufbau verbundenen Investitionen."

Die "Zauberformel" enthält einen entscheidenden Fehler: Es wird offensichtlich nicht gewusst, dass die Senkung von Steuern und Abgaben zu einer entsprechenden Reduzierung der öffentlichen Nachfrage führen, und dass die neue aggregierte Nachfrage niedriger sein wird als die alte, da es beim Einkommen der Privathaushalte Ersparnisbildung gibt, bei den öffentlichen Einnahmen dagegen nicht. In Zeiten, in denen noch gesamtwirtschaftlich gedacht wurde, wäre der "Königsweg" aus dem Kanzleramt schnell der Lächerlichkeit preisgegeben worden.

Diese Sicht ist heute deshalb populär, weil sie auf einer "Ökonomie des ersten Augenscheins" basiert, einer Wahrnehmung, die an der Oberfläche des ökonomischen Prozesses klebt, und die komplizierten Kreislaufzusammenhänge des Gesamtprozesses und der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung gar nicht mehr zur Kenntnis nimmt. Eine makroökonomische Sicht wird als Denken in "alten Schablonen" abgetan. Man wähnt sich längst über Keynes hinaus, ohne dessen Theorie auch nur annähernd zu kennen. Einem derart vorwissenschaftlichen Fundamentalismus kann mit Argumenten schwer begegnet werden.

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Bei den wenigen Gelegenheiten, bei denen es in den Gewerkschaften zu Debatten über ökonomische Fragen kommt, werden die Hinweise auf die realen makroökonomischen Größen nicht selten mit ungläubigem Erstaunen aufgenommen. Das hat zum Teil ideologische Gründe, weil inzwischen Grundelemente der neoklassischen Doktrin für überzeugend gehalten werden, insbesondere die Vorstellung, dass niedrige Arbeitskosten zu mehr Beschäftigung führen.[2] Die mikroökonomische Sicht ist populär, weil sie auf den einzelwirtschaftlichen Erfahrungen der betrieblichen Akteure aufbaut. Auf der politischen Ebene wird sie bestätigt durch den herrschenden neoklassischen Diskurs. Kürzungen bei den Sozialeinkommen sind für die Gewerkschaften dann diskutabel, wenn sie dem Gebot "sozialer Gerechtigkeit" entsprechen, d.h. wenn auch bei Selbständigen und Unternehmen über den Abbau von Steuervergünstigungen bzw. höhere Steuern Einkommen reduziert werden.

Diese Vorstellung ist politisch naiv und ökonomisch falsch. Ersteres, weil sowohl wegen der steuerpolitischen Überzeugung von Rotgrün, aber auch wegen der Mehrheitsverhältnisse im Bundesrat, eine nennenswerte steuerliche Belastung von Unternehmen und Selbständigen über das niedrige Volumen des Steuervergünstigungsabbaugesetzes vom 11. April 2003 hinaus aktuell nicht durchsetzbar ist. Ökonomisch falsch ist diese Sicht, weil die Kürzungen bei den Sozialeinkommen die bestehende Inlandsschwäche vergrößern und darüber die Arbeitslosigkeit erhöhen. In den Gewerkschaften wird mehrheitlich nicht verstanden, dass eine relative Starrheit des Arbeitsmarktes, also des Arbeits- und Tarifrechts und des Sozialrechts, in einer Wirtschaftskrise einen ökonomischen Vorteil darstellt, weil stabile Löhne und Sozialeinkommen einen allgemeinen Preisverfall und damit eine Deflation verhindern.

Gewerkschaften und SPD-Linke müssten daher die Agenda 2010 ablehnen, weil sie ein Programm zur Vergrößerung der Arbeitslosigkeit ist, nicht nur, weil sie sozial unausgewogen ist. Makroökonomische Dummheit wird nicht dadurch verringert, dass sie "sozial gerecht" garniert wird.

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Die Gewerkschaften werden den 1. Mai und eine Reihe weiterer Veranstaltungen im Frühsommer zu nutzen versuchen, bei den geplanten Kürzungen "soziale Symmetrie" einzufordern. Da innerhalb der Sozialdemokratie eine vergleichbare Debatte begonnen hat, kann es durchaus sein, dass sich die Bundesregierung zu wenigen symbolischen Maßnahmen, die einen Hauch von "sozialer Gerechtigkeit" signalisieren, bereit erklärt, um die Kritiker in Partei und Gewerkschaften zu besänftigen.

Eine wirkliche Korrektur wird jedoch von der Regierung nicht gewollt; sie ist in einer de-facto Großen Koalition auch nicht durchsetzbar. Edmund Stoiber hat durch seine Inszenierung eines noch unsozialeren Kürzungsprogramms faktisch der Bundesregierung zugearbeitet. Er hat damit erfolgreich den Eindruck erwecken können, es gebe zur unsozialen Politik der Bundesregierung nur eine noch radikalere, offen neoliberale Alternative. Damit wird ein Scheinkonflikt zwischen einem rot-grünen "Neoliberalismus light" und einem konservativen "Neoliberalismus pur" aufgebaut, der in der Sache nicht gerechtfertigt ist. Allein im Hinblick auf die Wählerbasis der CSU musste Stoiber auf Druck seines Stellvertreters im CSU-Vorsitz, Horst Seehofer, zurückrudern. Bei der beabsichtigten Kürzung der Beamtenbesoldung wird Stoiber ebenfalls zum Rückzug veranlasst werden, weil eine Volkspartei nicht wie eine neoliberale Klientelpartei agieren kann. Stoibers Initiative hat aber bewirkt, dass Schröders Politik als "kleineres Übel" identifiziert wird.

Trotz der Agenda 2010 wird es daher keine nachhaltige Abkehr von der SPD-Bindung der Gewerkschaften geben. Zu einem politischen Kurswechsel sind die DGB-Gewerkschaften noch nicht in der Lage. Das hängt einerseits mit den unterschiedlichen Wahrnehmungen der aktuellen Regierungspolitik in den Gewerkschaften zusammen: Wer sich mit Hartz auf die "Vermarktlichung" der Arbeitskraft positiv einlässt, kann nicht plötzlich aussteigen, wenn er merkt, dass das schmerzhaft wird. Zum zweiten würde eine Abkehr von der traditionellen Politik der Kooperation ein hohes Maß an Fähigkeit zur Selbstkritik voraussetzen. Die Gewerkschaften müssten eingestehen, dass nicht nur ihr Mitmachen in der Hartz-Kommission politisch falsch war, sondern dass sie mit der Politik der Lohnzurückhaltung die Misere auf dem Arbeitsmarkt zumindest mitgefördert haben.

Diese Bundesregierung wird nicht am Widerstand der Gewerkschaften scheitern. Sie wird scheitern, weil nicht zuletzt mit ihrer wirtschaftspolitischen Unterstützung die Arbeitslosigkeit im Laufe des Jahres 2003 weiter ansteigt. Die Gewerkschaften wollen nicht verantwortlich für das Ende einer kurzen "rot-grünen Ära" sein. Sie werden damit aber einbezogen in die tiefgehende Vertrauenskrise der Sozialdemokratie. Aus Sicht der Mitgliederentwicklung können sie sich das nicht leisten.

Michael Wendl ist stellvertretender Landesvorsitzender von ver.di in Bayern.

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