28. September 2011 Michael Wendl: Der ver.di-Bundeskongress in Leipzig

Konzentration auf Gesellschaftspolitik

Wie die anderen DGB-Gewerkschaften befindet sich auch die Vereinte Dienstleistungsgewerkschaft seit der Fusion der fünf Gründungsgewerkschaften im Jahr 2001 in der gesellschaftspolitischen Defensive und zugleich in einer organisatorischen Krise, die sich in dem Mitgliederverlust von rund 28% in den letzten zehn Jahren ausgedrückt hat.

Auch in der Tarifpolitik hat ver.di sowohl im öffentlichen wie privaten Dienstleitungssektor in diesem Zeitraum schlechtere Ergebnisse eingefahren als IG Metall und IG BCE.

Das ist überwiegend objektiven Umständen geschuldet. Während die Exportindustrie mit Ausnahme der Jahre 2008/2009 sich in einem internationalen Nachfrageboom entwickeln konnte, war der Dienstleistungssektor durch die signifikant schwache Entwicklung der konsumtiven Nachfrage und der öffentlichen Investitionen geprägt, was sich u.a. durch einen verschärften Lohndruck sowohl bei den öffentlichen wie privaten Dienstleistungen ausgedrückt hat. Trotzdem hat sich ver.di, was die Mitgliederentwicklung betrifft, stabilisieren und zuletzt im Journalistenstreik (siehe hierzu den Beitrag von Gerhard Manthey in diesem Heft) auch tarifpolitisch behaupten können. Aber insgesamt markieren die Dienstleistungssektoren wegen des dort herrschenden enormen Kostendrucks nicht mehr das Terrain, auf dem spürbar mehr als ein Inflationsausgleich durchgesetzt werden kann. Dabei mangelt es ver.di nicht an der Bereitschaft zum Arbeitskampf, aber in einer Reihe von Tarifbereichen an der entsprechenden Konfliktfähigkeit.

Auf dem Bundeskongress 2011 in Leipzig wurde deutlich, dass ver.di versucht, über eine stärkere gesellschaftspolitische Orientierung diese Schwäche in der tarifpolitischen Interessenvertretung produktiv zu wenden. Das zeigte sich an drei Themen:

Einmal an der durch die Finanzmarktkrise verschärften Krise der Staatsschulden und der dadurch ausgelösten in erster Linie politischen Krise der Währungsunion. ver.di thematisiert die ökonomischen und politischen Fehlentscheidungen, die in diesem Prozess insbesondere durch die Bundesregierung verschuldet worden sind (»Euro plus-Pakt« von Merkel und Sarkozy) und plädiert für eine stärkere politische Integration des Währungsraums und die Finanzierung der Staatsschulden über Eurobonds.

Das zweite Thema zielt auf die Entwicklung der primären wie der sekundären Einkommensverteilung und zielt auf einen Stopp des inzwischen bereits 15-jährigen Umverteilungsprozesses zwischen Löhnen und Gewinnen und die Rückgewinnung von tarifpolitischer Durchsetzungsfähigkeit. Das wurde exemplarisch an der Frage nach dem Streikrecht und den möglichen Tarifverträgen im Bereich der kirchlichen Unternehmen deutlich. ver.di versucht hier, aus der arbeitsrechtlichen Defensive gegenüber den kirchlichen Arbeitgebern herauszukommen.

Der dritte und zentrale gesellschaftspolitische Akzent liegt in dem Versuch, erste Konturen der Weiterentwicklung des deutschen industriezentrierten und exportgetriebenen Kapitalismusmodells in eine nach wie vor industriebasierte Dienstleistungsgesellschaft zu skizzieren. Dabei geht es nicht darum, die Rolle insbesondere des verarbeitenden Gewerbes für die deutsche Wirtschaft zu relativieren, sondern die Wertschöpfungspotenziale, die der Ausbau öffentlicher und privater Dienstleistungen insbesondere für die Stärkung der europäischen Binnenwirtschaft eröffnen würde, für Beschäftigung und Einkommen in Deutschland und in der Eurozone zu nutzen. Damit kann ein Weg eröffnet werden, die »Beggar my neighbour«-Rolle der deutschen Exportwirtschaft durch eine Stärkung der Nachfrage einzuschränken. Norbert Reuter und Karl Georg Zinn haben für diesen Kurswechsel einen polit-ökonomischen Rahmen skizziert (siehe WSI-Mitteilungen 9/2011, S. 462ff.). Auf dem Bundeskongress hat Hans-Jörg Bullinger, der Präsident der Fraunhofer-Gesellschaft, wichtige Bereiche dieser neuen Dienstleistungspolitik – Gesundheit, Energie und den Umbau der Städte – zu umreißen versucht und auf die wichtige Rolle einer systematischen Dienstleistungsforschung hingewiesen. ver.di versucht hier zunächst, den Anschluss an den Stand der wissenschaftlichen Forschung herzustellen, um danach die eigenen Überlegungen in die Diskussion einbringen zu können.

Diese Konturen einer neuen Dienstleistungspolitik können nicht darauf reduziert werden, dass es ver.di nur um bessere Arbeitsbedingungen und höhere Löhne in den Dienstleistungssektoren geht. Darum geht es auch, aber zugleich um einen gesellschaftspolitischen Paradigmenwechsel, der auf eine neue Balance von Angebot und Nachfrage und auf eine Korrektur der inzwischen ökonomisch hoch riskanten Leistungsbilanzsalden zwischen den wichtigen Wirtschaftsgesellschaften zielt. Manche vermuten darin einen möglichen Konflikt zwischen ver.di einerseits und IG Metall und IG BCE andererseits. Ein solcher Konflikt ist sowohl aus ökonomischer wie gewerkschaftspolitischer Sicht unnötig und unsinnig. Auch die Industriegewerkschaften müssen an einer Ausbalancierung der Leistungsbilanzsalden in Europa und gegen­über den USA interessiert sein, weil eine Weiterverfolgung des gegenwärtigen Exportmodells erhebliche ökonomische Risiken mit sich bringt, wie wir es mit dem abrupten Rückgang des Bruttoinlandsprodukts 2009 für Deutschland erlebt haben.

Die rasche Erholung der Konjunktur 2010 war nicht nur von den vielen nationalen Konjunkturprogrammen, sondern auch davon abhängig, dass andere Länder in der Eurozone solche dramatischen Einbrüche in der Wirtschaftsleistung nicht hatten und deshalb als Nachfrager deutscher Produkte nicht ausgefallen sind. Gerade die Industriepolitik kann nicht auf den weiteren Ausbau einer bereits international überlegenen Wettbewerbsposition zielen, sondern muss die inzwischen international gewordenen makroökonomischen Zusammenhänge berücksichtigen. Aus einer solchen Überlegung heraus ist die­se Initiative von ver.di innovativ. Die spannende Frage ist, wie es ver.di gelingen kann, diese Überlegungen in der eigenen Organisation und in den DGB-Gewerkschaften zu verankern.

Bei einer ersten Bewertung des Kongresses fällt die Politisierung der gewerkschaftlichen Interessenvertretung ins Auge. Demgegenüber treten die durchaus vorhandenen Versuche,
ver.di auf antikapitalistische oder »systemüberwindende« Aussagen und Forderungen zu orientieren, zurück. Der Kongress ist in mehreren kontroversen Debatten über Mindestlohn, Arbeitszeitpolitik und in der Frage der Vergesellschaftung wichtiger Wirtschaftsbereiche nicht der Versuchung erlegen, vermeintlich einfache und radikale Forderungen zu beschließen. Das liegt nicht nur daran, dass der Mehrheit der Delegierten die tarifpolitische Handlungsschwäche durchaus präsent ist, sondern auch daran, dass es mehrheitlich ein realistisches Bewusstsein über die politischen Kräfteverhältnisse in Deutschland und in Europa gibt. Frank-Walter Steinmeier hat in einer Kontroverse mit Gregor Gysi über die Bewertung der Agenda 2010 auf dem Kongress deutlich gemacht, dass sich die SPD von ihrer neoklassisch geprägten Sicht auf den Arbeitsmarkt noch lange nicht verabschiedet hat. Der offene Niedergang der FDP ist gerade nicht mit einer Stärkung der politischen Linken verbunden.

Was auf diesem Kongress nur am Rande angesprochen wurde, waren Auseinandersetzungen mit den ver.di-internen tarifpolitischen und organisationspolitischen Differenzen. Diese gibt es ohne Zweifel, sowohl was die interne »Verbetriebswirtschaftlichung« (»Chance 2011«) als auch die Tarifpolitik im öffentlichen Dienst und die am internen Widerstand gescheiterte gesetzliche Initiative mit DBG und DBA in Sachen »Tarifeinheit« betrifft. Eine große Mehrheit hat sich dafür entschieden, diese Differenzen zurückzustellen und den gesamten Vorstand (mit einer Ausnahme) bei den Wahlen mit einem eindeutigen Vertrauensbeweis in die nächsten vier Jahre zu schicken. In der gegenwärtigen politischen Situation ist diese Haltung einer Demonstration weitgehender Geschlossenheit auch angemessen.

Michael Wendl ist Mitherausgeber von Sozialismus.

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