25. September 2010 Bernhard Sander

Frankreich: Rückkehr der sozialen Frage

Am 7. September 2010 zogen überall in Frankreich 2,5 Mio. bis 3 Mio. Menschen durch die Straßen. Die Streikbeteiligung lag in den öffentlichen Bereichen höher als sonst und auch im Sektor der Privatunternehmen (Ölkonzern Total, Telekom usw.) wurde eine Beteiligung von über 30% gemeldet. Gerade hier aber findet der Ansatz Sarkozys, die Rentensysteme des öffentlichen Dienstes und der Privatwirtschaft anzugleichen, großes Verständnis. Der Aktionstag übertraf damit die Mobilisierung vor den großen Ferien bei weitem und lag sogar über der von 1995 und 2003.

Die Wahrnehmung im Ausland, hier ginge es um den Beweis, ob Frankreich  reformfähig im neoliberalen Sinne sei, trifft den Kern. Sarkozy und sein skandalöser Arbeitsminister zeigten sich unerschütterlich. Lediglich als Spaltungsmanöver ist zu verstehen, dass nun bei besonders belastenden Berufen Zugeständnisse signalisiert werden. Daher ist bereits ein weiterer Aktionstag in Planung und "kein gewerkschaftliches Mittel mehr ausgeschlossen" (CGT-Vorsitzender Thibault).

Die Rentenkürzungen resultieren aus insgesamt 20 Maßnahmen, um bis 2018 das derzeitige Defizit von 32 Mrd. Euro zur Hälfte auszugleichen. Der Stellenabbau im öffentlichen Dienst soll etwa 4 Mrd. Euro Beitragszahlungen einsparen. Weitere 4,4 Mrd. Euro will man durch zusätzliche Steuereinnahmen bei höheren Einkommen erzielen.

  • Das gesetzliche Renteneintrittsalter wird schrittweise bis 2018 auf 62 Jahre angehoben, beginnend mit vier Monaten für die Jahrgänge, die nach 1951 geboren wurden.
  • Der Bezug der vollen Rente wird damit von 65 auf 67 Jahre verschoben. Allein von dieser Maßnahme verspricht sich die Regierung langfristig einen Wachstumsimpuls von 4% und die "Schaffung von 1,2 Mio. Arbeitsplätzen" (Le Monde vom 16.6.2010). Die öffentlichen Beschäftigten werden ebenfalls länger arbeiten müssen. Polizisten, Feuerwehrleute und Angehörige des Militärs gehen dann mit 55 oder 57 Jahren in Rente.
  • Um die volle Rente zu beziehen, sind für die Jahrgänge ab 1953 künftig 41 Jahre und drei Monate Beiträge nötig. Durch Arbeitslosigkeit und längere Ausbildungszeiten werden also immer mehr Menschen gezwungen sein, länger zu arbeiten.
  • Nur etwa 10.000 Menschen werden aufgrund arbeitsbedingter gesundheitlicher Einschränkungen weiterhin mit 60 Jahren aussteigen können. Etwa 50.000 bis 90.000 Lohnabhängige der Jahre bis 2015, die vor ihrem 18. Lebensjahr ins Erwerbsleben getreten sind, behalten ihr Recht, zwischen dem 58. und 60. Lebensjahr auszusteigen.
  • Die Beitragssätze im öffentlichen Dienst (7,85%) werden auf die des Privatsektors angehoben (10,55%) und die Regelungen für die Garantierente werden ebenfalls angeglichen. Gestrichen wird die Regelung, dass man nach 15 Dienstjahren vorzeitig in Rente gehen kann, wenn man drei Kinder aufgezogen hat.
  • Für junge Erwachsene in Arbeitslosigkeit ohne Bezüge werden sechs statt bisher vier Vierteljahre als Ausfallzeiten bei der Rentenberechnung berücksichtigt.
  • Für Frauen im Mutterschutz werden Beiträge in Höhe des Bezugseinkommens bei der Rentenberechnung unterstellt.
  • Die Mindestrente für Bauern wird auf 709 Euro p. P. angehoben, gleichgültig wie groß der Hof ist.

Diesen Gesetzentwurf bezeichnen die Gewerkschaften als Kriegserklärung an die ArbeitnehmerInnen. Zwei Drittel der Lohnabhängigen betrachten die Rente als ihren sozialen Eigentumstitel. Die gesetzliche Rente mit 60 Jahren aus dem Jahre 1983 ist ein Erbe des "Sozialismus in den Farben Frankreichs", den die Linke unter Mitterrand aufbauen wollte.

Die Frage der sozialen Gerechtigkeit und der Kampf um den Erhalt des Status Quo in den Sozialversicherungssystemen ist von systemischer Bedeutung für die Lebenslage der Menschen und damit für die politischen Kräfteverhältnisse. Die soziale Frage ist durch den Massenprotest wieder das alles beherrschende Thema in Frankreich. In der Rentenfrage wird nun der Erfolg auch davon abhängen, ob es in Europas führender Wirtschaftsmacht gelingt, den Druck auf die anderen Länder, den die deutsche Rente ab 67 bewirkt, zurückzunehmen.

Schleppende wirtschaftliche Erholung

Frankreich ist schlecht durch die Krise gekommen. Jeder zehnte Arbeitsplatz im produzierenden Gewerbe ist zwischen 2008 und 2010 verschwunden. Die Investitionen blieben um 9,2% zurück, die in Deutschland "nur" um 7,8%. Dennoch wuchs die Produktivität in Frankreich in diesem Zeitraum um 1%, während sie in Deutschland infolge der arbeitsplatz­erhaltenden Maßnahmen (Kurzarbeit) um 3,4% sank. Die Arbeitskosten liegen je geleisteter Stunde in Frankreich bei 32,90 Euro brutto und damit 2 Euro höher als in Deutschland und rund 10 Euro über dem EU-Durchschnitt. Infolgedessen gilt die Steigerung der privaten Nachfrage (+1,4%) immer noch als Stabilitätsfaktor der Konjunktur (Rückgang in Deutschland -0,5%).

Der Spielraum für die Regierung unter Staatspräsident Sarkozy ist begrenzt: Mittlerweile ächzt auch Frankreich unter der deutschen Konkurrenz. Der Importüberschuss aus Deutschland beträgt fast 20 Mrd. Euro, das sind rund 28%. Jeder zweite Euro, der im deutschen Export­überschuss verdient wird, stammt aus der Eurozone. Dezent mahnte die französische Wirtschaftsministerin im Mai an, man müsse die "Wirtschaftsmodelle auf die Solidität des ganzen Euroraumes ausrichten. Man muss also auf die Exporte achten, aber auch auf die Importe und den Inlandskonsum" (FAZ-Interview 17.5.2010).

Die Politik der schwarz-gelben Koalition stellt sich taub gegenüber Appellen aus der französischen Politik, die deutsche Binnenkonjunktur anzuregen, um so etwas Spielraum für Importe und damit Absatzmöglichkeiten für französische Produkte zu schaffen. Stattdessen setzt die Bundesregierung auf ihr 82 Mrd. Euro Kürzungsprogramm und die durch Hartz IV und Minijobs deregulierten Arbeitsmärkte, um die Produkte so preiswert zu halten, dass Deutschland wieder Exporteuropameister auf Kosten seiner Nachbarn wird. Bereits im 2. Quartal des laufenden Jahres erreicht das deutsche BIP einen Zuwachs von 2,2% und das französische nur 0,6%, obwohl man annähernd so viel wie in Deutschland in den letzten beiden Jahren für Wachstumsimpulse ausgegeben hat (rd. 5,2% des BIP). Entsprechend ist der binnenwirtschaftliche "Spardruck" in Deutschland eigentlich geringer als in der europäischen Umgebung. Die Defizite infolge der Stabilisierungsaktionen in der Finanzkrise können leichter abgebaut werden.

Auch Frankreich hat bereits ein "Spar"paket im Umfang von 45 Mrd. Euro aufgelegt, um die hohe Verschuldung abzubauen. Dennoch ist mit einer dauerhaften Verletzung der Maastrichtkriterien und einem entsprechenden Verfahren und Strafzahlungen zu rechnen. Die französische Regierung rechnet im laufenden Jahr mit rund 8% Neuverschuldung und in 2011 mit 6%. Deutschland liegt schon wieder viel günstiger mit geschätzten 5,5% bzw. 4,5%. Auch dies erklärt den Zwang, die Rentenkürzungen durchzusetzen. Denn damit könnte es gelingen, die Defizite der Rentenkasse und entsprechende Haushaltszuschüsse bis 2018 auf Null zu bringen – mit dem Effekt, dass die Neuverschuldung ab 2013 um 0,5% und ab 2020 um 1,9% gesenkt werden könnte (FAZ 17.6.2010).

Zu Beginn des Sommers hatte sich der französische Staatspräsident für eine Art Wirtschaftsregierung der 16 Euro-Länder stark gemacht, deren Sekretariat die nationalen Politiken stärker hätte beeinflussen können. Die deutsche Bundeskanzlerin wehrte diese Form der Konzertation ihrer Widersacher in der EU ab und setzt dabei auf die neoliberalen Musterschüler aus den neueren Beitrittsnationen. Dabei geht es um drei Dimensionen: "Die erste betrifft die Forderung, es müsse ein stärkeres Gegengewicht zur unabhängigen Europäischen Zentralbank geben. Die zweite betrifft den angeblich politisch zu bewerkstelligenden 'Ausgleich' makroökonomischer Ungleichgewichte. Die dritte betrifft die Frage, wie die Mitgliedsstaaten zu haushaltspolitischer Disziplin angehalten werden." (FAZ 16.6.10) In allen drei Dimensionen bestehen Differenzen in der Konzeption. Hier ordnet sich auch der Vorschlag des EU-Kommissars Rehn ein, in die nationalen Haushaltsrechte der Parlamente eingreifen zu können.

Im Kern ist Europa seit der Griechenlandkrise gespalten zwischen den PIGS unter Führung von Sarkozy und Barroso (vornehm Olivengürtel genannt) und den neoliberalen Krondomänen Benelux und Deutschland unter Führung Merkels. Der französischen Wirtschaftsministerin erscheint es "seltsam, wenn man Ländern mit großen Zahlungsschwierigkeiten … auch noch Strafzahlungen auferlegt… Ein Ausschluss wäre kompliziert. Griechenland würde seine Verschuldung mit einem Schlag verdoppeln." (FAZ-Interview 16.5.2010)

Verkommenheit der politischen Klasse

Die Luft für Sarkozy und seine Truppe wird also nicht nur wegen der ruchbar gewordenen Skandale über die Verfilzung mit dem Geldadel dünn. Seit er seinen Amtsantritt mit einer Clique allerhand Neureicher (Telecom-Unternehmer Bouygues), Sportgrößen (Rugby-Nationaltrainer Laporte) und Schauspielern (Jean Reno) im Nobelrestaurant Le Fouquet´s gefeiert hatte, war Sarkozy samt der Millionärstochter Carla Bruni immer wieder durch seine besondere persönliche Nähe zu den Reichen & Schönen aufgefallen, um zu demonstrieren, dass Reichtum keine calvinistisch zu verbergende Schande sei. Im Gegenteil sei es höchstes Staatsziel, viel Geld zu verdienen. Der Staat werde jedem Leistungswilligen dabei helfen.

Das erstaunte Publikum wurde während der Ausarbeitung des Rentengesetzes medial in Atem gehalten durch die Tonbandmitschnitte der offenbar altersdementen Erbin des L`Oreal-Konzerns, die dem Schatzmeister der Präsidentenpartei und vielleicht auch diesem selbst Bargeld-Umschläge zwischen 50 und 150 Tsd. Euro zugesteckt haben soll. Der Vermögensverwalter der alten Dame hatte wiederum diesen Schatzmeister und damaligen Finanzminister um die Aufnahme in die Ehrenlegion angegangen und zur Beförderung dieses Ansinnens dessen Frau mit einem einträglichen Job in der Vermögensverwaltung der alten Dame versorgt. Der mit der Untersuchung der Vorwürfe beauftragte Staatsanwalt wiederum war schon selbst in den Genuss des Prestige-Ordens gekommen, nachdem er vor ein paar Jahren einige Unregelmäßigkeiten im Umfeld des damaligen Innenministers Sarkozy nicht hatte aufklären können. Jener Finanzminister versuchte, sich durch Rücktritt vom Schatzmeister-Job aus der Affäre zu ziehen und als heutiger Sozialminister die Hände für die Rentenkürzung freizuhaben.

Die für die Wiederwahl 2012 so dringend notwendige wirtschaftliche Belebung ist nicht in Sicht. Die Wachstumsraten bleiben aufgrund der verteilungspolitischen Beschädigung der an sich robusten Binnenkonjunktur hinter den deutschen BIP-Zahlen zurück. Das macht die besitzenden Schichten nicht froh und die Nichtbesitzenden wenden sich ebenfalls ab, denn das Versprechen "Mehr Leistung für mehr Netto" hat sich in der bisherigen Amtszeit als leer erwiesen, während die vermögenden Klassen sich schamlos gegenseitig die Taschen vollstopfen.

Bestes Beispiel sind die jüngsten Zahlen des "Steuerschutzschirms", den Präsident Sarkozy schon zu Beginn seiner Amtszeit aufgespannt hat, um die Abgaben auf maximal 50% der Einkünfte zu begrenzen: Er kostete den Staat im vergangenen Jahr 679 Mio. Euro und brachte Rückerstattungen an 18.764 Steuerzahler. Unter diesen Begünstigten befand sich auch jene spendable alte Dame vom L’Oreal-Konzern, an die der Staat 30 Mio. Euro zurücküberwiesen hat, was ihre spendable Dankbarkeit verständlich macht. Umso größer muss am anderen Ende die Empörung über die soziale Ungerechtigkeit der Rentenkürzungen ausfallen.

Die Präsidenten-Partei UMP ist vom selbst gesteckten Ziel einer "halben Million Mitglieder vor dem Wahljahr" weit entfernt. Offenbar sanken die Mitgliedszahlen von 370.000, die man im Dezember 2007 meldete, auf 228.000 Ende 2009 bzw. 210.000 im Juli 2010. Zum Vergleich: Der Sinkflug der eingeschriebenen Anhängerschaft bei der PS verläuft sanfter. Sie hatte Ende 2009 rund 200.000 Mitglieder. Ein Teil der im Präsidentschaftswahlkampf gewonnenen Anhängerschaft wendet sich der nationalen Front zu.

Autoritäre Wende

Frankreich hat seinen Sarrazynismus im Staatspräsidenten und im Innenminister. Die "autoritäre Wende" sollte den Befreiungsschlag für den Staatspräsidenten bringen. Während der Sommerpause wurde die Bevölkerung mit schwerem Geschütz belegt: Die Staatsbürgerschaft müsse wieder aberkennbar sein bei schweren Straftaten wie Polizistenmord, Bigamie und Erschleichung von Sozialhilfen. Den Präfekten wurde in Erinnerung gerufen, dass sie die Büttel der Zentralmacht sind, die wegen Befehlsverweigerung bei der Erfassung der (migrantischen) SchulschwänzerInnen umgehend strafversetzt würden. Jeder Bürgermeister ab 10.000 EinwohnerInnen hat Statistiken über die öffentliche Sicherheit zu führen.

Stellvertretend für einen Teil der Zivilgesellschaft wies ein PS-Bürgermeister zurück, zum "Alleinverantwortlichen" für den Sicherheitszustand seiner Gemeinde gemacht zu werden, wenn in seinem Beritt durch staatliche Finanzkürzungen seit 2007 40 Polizisten weniger zum Einsatz kämen. Wenn in seiner Stadt (bei Dünkirchen) durch die willkürliche Schließung der Raffinerie Hunderte von Arbeits- und Ausbildungsplätzen wegfielen, nütze die verordnete Installation von Überwachungskameras gar nichts. Er fühle sich in seinen Werten und Überzeugungen beleidigt. Im Gegenzug fordern andere Kommunalpolitiker, dass es die "Pflicht der Opposition im Stadtrat ist, diese Haltung bereitwilliger Aufgabe zu denunzieren" (Le Monde 20.8.2010). Gerade verabschiedete das Parlament ein Gesetz, nachdem die Familienunterstützung gekürzt werden kann, wenn der "Schulbesuch verweigert" wird. Frauen mit einem Ganzkörperschleier werden mit Geldbußen aus dem Straßenbild verbannt und Frau Schwarzer in Deutschland begrüßt dieses Gesetz.

Am Übelsten führt sich Sarkozy jedoch bei Verfolgung der Roma auf, die zu 95% die französische Staatsbürgerschaft besitzen, nachdem es in Grenoble Ende Juli zu Zwischenfällen gekommen war – einer Stadt, in der die Buchführung über das Schulschwänzen und die Installation von Video-Überwachung bisher nicht vorangekommen waren. Aufgrund der über Jahrhunderte erzwungenen Lebensweise der Nichtsesshaftigkeit eignet sich gerade das "fahrende Volk" als rechtlose und billige Arbeitskraft in der saisonabhängigen Landwirtschaft. Die Erlasse zur Räumung der wilden Camping-Lager (es werden nicht genug kommunale Plätze vorgehalten) sind explizit mit der ethnischen Gruppenzugehörigkeit begründet. Das stellt eine neue Qualität der Fremdenfeindlichkeit in Europa dar. Allerdings reagierte man dort eher verhalten – ganz anders als vor einigen Jahren als die fremdenfeindliche FPÖ des Herrn Haider Teil der Regierung wurde.

Durch die Deportation der im Rahmen der EU-Freizügigkeitsregelungen vorwiegend aus Südosteuropa eingereisten Roma bringt sich der Staatspräsident in die Konfrontation mit Brüsseler Behörden, mit der offiziellen katholischen Kirche und mit rund 100.000 Demonstranten (am 5.9.2010). Auch sein Namensvetter Prof. Sarkösi aus dem Stadtrat von Wien und ebenfalls Roma wies den Präsidenten zurecht. Allerdings wird die autoritäre Wende Sarkozys von 80% der Bevölkerung für gut befunden (und gleichzeitig finden 70% die Maßnahmen uneffektiv). Der Innenminister Hortefeux ätzt über die "Gutmenschen" der neureichen Linken, die statt die Sicherheitsgesetze zu verschärfen nur die "Steuern erhöhen und auf immer mehr Haushalte ausdehnen will", um mehr Stellen im öffentlichen Dienst zu schaffen (Le Monde 21.8.2010). Einzelne Abgeordnete der Mehrheitspartei UMP ventilieren mittlerweile angewidert und offen den Gedanken an eine Spaltung der Fraktion in der Nationalversammlung.

Aber die Hatz auf die Roma hat auch ihren Sinn: Wenn man den Besitzlosen etwas wegnehmen will, muss man dies über Ausgrenzung tun. Frau Le Pen lobt unterdes das "Sommerliche Herumgefuchtele" des Staatspräsidenten, das wenigstens den Wert habe, "offiziell den Kriminalität hervorbringenden Charakter gewisser Einwanderung zu bestätigen und damit die Wahrheit dessen, wofür die Nationale Front seit drei Jahrzehnten verfolgt wird" (Le Monde 31.7.2010).

Durch die Konfrontation mit den europäischen Institutionen kann sich Sarkozy als "Souveränist" präsentieren, der er wirtschaftspolitisch schon längst nicht mehr ist. Im europäischen Wettbewerb, den die Neoliberalen zum entscheidenden Maßstab politischer Entscheidungen erhoben haben, sind die "Lohnnebenkosten" in Frankreich einfach zu hoch: 2009 entfielen auf 100 Euro Bruttoverdienst 50 Euro Lohnnebenkosten, während es im europäischen Durchschnitt nur 36 Euro und beim Exporteuropameister Deutschland gar nur 32 Euro sind. Aber der präsidiale Rassismus mobilisiert keineswegs auch eine Unterstützung für seine wirtschaftspolitischen Reformvorschläge in den europäischen Institutionen. Der Angriff auf den Sozialstaat, den der Staatspräsident mit der Verschlechterung der Altersversorgung zum letzten großen Projekt seiner Amtszeit erhoben hat, fordert Protest heraus, gerade weil den Worten des Präsidenten nicht mehr getraut wird, der sich von den Superreichen aushalten lässt.

Ob die Rückkehr der sozialen Frage dauerhaft den menschenverachtenden Rassismus aus dem politischen Diskurs verdrängen kann, wird von der politischen und gewerkschaftlichen Linken abhängen. Aus dem Reihen der Sozialistischen Partei hört man gegensätzliche Stimmen: Referendum zur Rentenkürzung, Rücknahme des Gesetzes, Schaffung von freiwilligen flexiblen Übergängen zur Rente usw. ... Die Linke der Linken kabbelt sich, als gäbe es nichts Wichtigeres, um die Kandidatur zur Präsidentenwahl 2012. Die Gewerkschaften beschwören die Gefahr einer "tiefen gesellschaftlichen Krise". Gleichwohl hat die Machtdemonstration von Anfang September die präsidiale Mehrheit nicht davon abgehalten, das Gesetz in der Nationalversammlung durchzustimmen.

Bernhard Sander ist Redakteur von Sozialismus.

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