26. Mai 2011 Ingar Solty: Konservativer Wahlsieg und historische Verschiebungen im Parteiensy

Laytongrad in Harperland?

Wäre es nach Friedrich Engels gegangen, dann könnte man sich die Mühe sparen, im Jahre 2011 einen Artikel über nationale Parlamentswahlen in Kanada zu schreiben. Als der »General« im September 1888 die USA und Kanada bereiste, urteilte er nicht gerade schmeichelhaft über die elf Jahre junge Nation: »Es ist ein sonderbarer Übergang von den Staaten nach Kanada. Erst kommt’s einem vor, als wär’ man wieder in Europa, dann meint man, man wäre in einem positiv zurückgehenden und verkommenden Land... [I]n zehn Jahren wird dies schläfrige Kanada zur Annexion frei sein – die Farmer in Manitoba etc. werden sie dann selbst verlangen.«[1]

Spötter würden sagen, Engels habe Recht behalten. Denn die nationale Eigenständigkeit Kanadas steht auf wackligen Beinen: Angesichts der Tatsache, dass sich fast jede größere Stadt in Kanada weniger als 100 km zur US-Grenze befindet, vollzieht sich der wirtschaftliche Austausch eher in Nord-Süd- als in Ost-West-Richtung. Gleichzeitig beschränken der starke Föderalismus und die damit einhergehende Betonung der Unabhängigkeit der Provinzen (nicht nur des frankofonen Quebecs, sondern auch Albertas) den Spielraum für eine unabhängige Wirtschaftspolitik. Verschärft wurde dies durch das 1994 beschlossene nordamerikanische Freihandelsabkommen (NAFTA), das insbesondere durch die Gleichbehandlungsklausel von inländischem und ausländischem Kapital durch den Staat der Vorstellung einer nationalen Emanzipationspolitik gegen das American Empire enge Grenzen setzt.

Die ökonomische Verflechtung bedeutet indes nicht, dass in Kanada keine unabhängige politische Vertretung gewählt würde. Im Gegenteil, die am 2. Mai 2011 durchgeführten Wahlen waren die vierten Parlamentswahlen in sieben Jahren. Nötig geworden waren sie durch ein geschlossenes Misstrauensvotum der aus Liberalen, Neuer Demokratischer Partei (NDP) und dem Bloc Quebecois (BQ) bestehenden Opposition gegen die konservative Minderheitenregierung unter Premierminister Stephen Harper. Ausschlaggebend hierfür war die Ablehnung der Pläne seiner Regierung, die für den Zeitraum 2006-2013 bereits um 220 Mrd. Kanadische Dollar (CAD) gesenkten Unternehmenssteuern um weitere 60 Mrd. zu senken und gleichzeitig für 30 Mrd. CAD Jagdbomber aus den USA zu kaufen sowie für 10 Mrd. CAD neue Gefängnisse zu bauen. Auch nicht sonderlich populär war die beispiellose Ausnutzung von Machtbefugnissen, wie z.B. die monatelange Schließung des Parlaments inmitten der größten Krise des Kapitalismus seit den 1930er Jahren.

Die für den 2. Mai 2011 angesetzten Neuwahlen endeten mit zwei Ergebnissen: einem Durchbruch der Konservativen und einer scheinbar historischen Verschiebung des Parteiensystems. Die Harper-Konservativen erlangten zum ersten Mal eine absolute Mehrheit der Parlamentssitze. Dies verleiht ihnen eine solide Mehrheit und eine uneingeschränkte Machtfülle. Denn im Gegensatz zu den USA existieren im politischen System Kanadas, das nach dem britischen System modelliert worden ist, keine Checks-and-Balances. Harper besitzt damit die Möglichkeit, seine strikten Austeritätspläne zur Finanzierung des kleinen Konjunkturpakets, der Bankenrettung und der Steuersenkungen durchzusetzen. Theoretisch kann er sogar den neoliberalen Umbau des kanadischen Wohlfahrtsstaats vorantreiben. Dies scheint nicht unwahrscheinlich, denn mit Harper hat Kanada den wohl rechtesten Premierminister in seiner Geschichte, dessen bisherige Politik nicht zuletzt im Umgang mit sozialen Protestbewegungen (G8 in Toronto) oder im neuen kanadischen Militarismus dazu geführt hat, von Kanada als einem neuen »Harperland« zu sprechen.

Die Tatsache, dass die Konservativen als Regierungspartei die Wahlen gewonnen haben, ist angesichts der durch das Krisenmanagement resultierenden Repräsentations- und Legimitätskrise erklärungsbedürftig. Drei Faktoren scheinen für den Ausgang der Wahlen ausschlaggebend gewesen zu sein:

1. Kanada ist aufgrund der eher konservativen Geschäftspolitik der Banken und angesichts steigender Rohstoffpreise vergleichsweise gut durch die Krise gekommen. Zwar brach die Wirtschaft 2009 um 2,5% ein, 2010 verzeichnete Kanada jedoch wieder ein Wirtschaftswachstum von 3,1%. Die Schätzungen für das Jahr 2011 gehen von etwa 2,7% Wachstum aus. Angesichts weltweit steigender Rohstoffpreise boomt auch die Torontoer Börse; und die Arbeitslosigkeit ist mit 7,6% allgemein und 13,6% unter Jugendlichen zwar relativ stark angestiegen, aber bspw. im Vergleich zu den USA deutlich moderater.

2. Gerade in Kanada kann ein Wahlsieg ganz gleich welcher Partei nicht mit einem gesellschaftlichen Mandat verwechselt werden. Für die Harper-Konservativen bedurfte es nur rund 24% der Stimmen aller Wahlberechtigten, um mit 54% aller Parlamentssitze die solide Mehrheit von 167 aller 308 Parlamentssitze zu erreichen. Möglich wurde dieses Kunststück, das selbst bei Überläufern der Partei genügend Mandate für fünf Jahre uneingeschränkte Macht verleiht, nicht nur durch die seit Ende der 1980er Jahre sinkende Wahlbeteiligung (2011: 61,4%), sondern auch durch die Spezifik des kanadischen Mehrheitswahlrechts. So profitierten die Konservativen trotz geringer Stimmenzuwächse auf 40% aller abgegebenen Stimmen von der Konkurrenz zu ihrer »Linken«, auf die im Prinzip die übrigen 60% aller Stimmen fielen. Zu dieser Konkurrenz gehörten neben den bereits genannten Parteien auch die kanadischen Grünen, die trotz eines Stimmenverlusts von 6,78 auf 3,91% der Stimmen mit Elizabeth May zum ersten Mal eine Abgeordnete im Parlament haben.

3. Die für den Neoliberalismus typischen Erosionserscheinungen der bürgerlichen (Volks-)Parteien und ihr Federlassen insbesondere zugunsten von rechtspopulistischen Formationen sind in Kanada nicht direkt festzustellen. Das hängt ebenfalls mit der Spezifik des Wahlsystems zusammen, in dem sich analog zu den USA oder auch dem autoritären Populismus des britischen Konservatismus von Thatcher bis Cameron der Rechtspopulismus als Teil der Konservativen Parteien artikuliert. Tatsächlich ist die Konservative Partei 2003 aus der Fusion mit einer rechtspopulistischen Formation, der 1987 gegründeten Reformpartei, hervorgegangen. Überdies erlaubt die Tatsache, dass Kanada kein Listenwahlrecht hat, die Möglichkeit, mit relativ unterschiedlich temperierten politischen Plattformen in den einzelnen Wahlbezirken anzutreten. So gewannen die Konservativen nicht nur in den verarmten ländlichen Regionen, insbesondere in den ehedem agrarpopulistischen und heute ähnlich den USA rechtspopulistischen Westprovinzen, sondern auch in den proletarischen Vororten der metropolitanen Regionen, in denen sich ein Großteil der 33 Millionen Kanadier konzentriert, an Sitzen hinzu. Dabei gelang es ihnen in Großräumen wie Toronto, mit einer Mischung aus wertkonservativer und Antisteuer-Rhetorik Stimmenzuwächse unter den »Neukanadier« genannten Einwanderergruppen zu erzielen. So wurden vor dem Hintergrund der historischen Verlagerung der Gewerkschaftsmacht vom Privat- zum öffentlichen Sektor die Beschäftigten des Privat- gegen die Beschäftigten des öffentlichen Sektors ausgespielt. Dies wurde z.B. dadurch erleichtert, dass die Vorortbevölkerung für ein öffentliches Transportsystem Steuern bezahlt, von dem sie aufgrund seines unterentwickelten Charakters nicht profitiert, sondern für den Weg zur Arbeit in die Stadt auf das Auto oder äußerst schlechte Busverbindungen angewiesen ist. Nichtsdestotrotz waren die Wahlsiege der Konservativen im Torontoer Speckgürtel (Ajax, Pickering, Brampton etc.) auch auf die Stimmenspaltung der Mitte-Links-Parteien zurückzuführen, die dort zum Teil zusammengenommen Zweidrittelmehrheiten bekamen. Dies beförderte unter neuen Vorzeichen (siehe unten) Debatten über einen möglichen Zusammenschluss jenseits der Rechten.

Mit ihrem Wahlsieg können die Konservativen hoffen, die Liberalen als die »natürliche Regierungspartei« Kanadas abgelöst zu haben. Denn das zweite entscheidende Ergebnis der Wahlen ist eine womöglich historische Niederlage der Liberalen, die sogar das Ende der einst so stolzen Partei bedeuten könnte. Der Stimmenanteil der Liberalen sank im Vergleich zu den Wahlen von 2008 nochmals von 26,26 auf 18,91%. Das bedeutet eine Reduzierung der Sitze von 77 auf 34, das schlechteste Ergebnis seit der Nationengründung 1867. Dies ist besonders deshalb so gravierend, weil bis vor wenigen Jahren die Liberalen als die unangefochtene »natürliche Regierungspartei« galten. Sie regierten im 20. Jahrhundert fast 70 Jahre lang. Damit waren sie selbstverständlich auch die »natürliche« Partei der Bourgeoisie.

Hintergrund der Verschiebungen im bürgerlichen Lager sind auch die Umstrukturierung der kanadischen Wirtschaft im Neoliberalismus. Die sich als gesellschaftliche Mitte inszenierenden Liberalen haben ihren sozialen Rückhalt insbesondere im Industriekapital. Die korporatistischen Strukturen, denen dieses im Rahmen des Fordismus unterworfen war, machten die Liberalen als ausgleichsorientierte Partei des Kapitals (im englischen Sprachgebrauch als »corporate liberalism« bezeichnet) zur bevorzugten Partei des Kapitals, während sie gleichzeitig in den exportorientierten Sektoren Unterstützung in wettbewerbskorporatistischen Industriegewerkschaften fanden, die bis heute i.d.R. zur Wahl der Liberalen aufrufen. Mit der Durchsetzung des Finanzmarktkapitalismus und der Preisgabe des fordistischen Klassenkompromisses wuchs jedoch die Unterstützung der Konservativen durch das Kapital, das v.a. in den Bereichen Handel, Rohstoffe und dem Finanzsektor eng mit der Konservativen Partei verflochten ist. Diesbezüglich ist nicht zuletzt der Aufstieg der Provinz Alberta im Zuge des steigenden Erdölpreises zu nennen, der die immens umweltschädigende Ölsandproduktion profitabel und das bislang rückständig-konservative Alberta im Hinblick auf den Provinzfinanzausgleich sozusagen zum Bayern Kanadas gemacht hat.

Aufstieg der Neuen Demokratischen Partei

Von der historischen Niederlage der Liberalen hat neben den Konservativen insbesondere die 1961 gegründete Neue Demokratische Partei (NDP) profitiert. Hervorgegangen ist diese aus dem in der Großen Depression entstandenen Kanadischen Arbeiterkongress (CLC) und der religiös-sozialistischen Kooperativen-Commonwealth-Föderation (CCF). Bis heute hat sie ähnlich wie die Labour-Partei in Großbritannien feste Quoten für die Gewerkschaften und dient in Ermangelung an sozialistischen und kommunistischen Alternativen als Auffangbecken für viele Linke. Ihr erster Vorsitzender, der sozialistische Baptistenprediger Tommy Douglas, gilt als der Urvater des (angesichts des privatwirtschaftlichen US-Negativbeispiels äußerst populären) universellen Gesundheitssystems, das so tief in der kanadischen Nationalidentität verankert ist, dass Douglas vor wenigen Jahren zum »größten Kanadier« gewählt wurde. Dabei war es dem Druck der NDP zu verdanken, dass die Liberalen das universelle Gesundheitssystem national verankerten. Während die NDP in Saskatchewan, aber auch in der bevölkerungsreichsten Provinz Ontario, regional bereits über Regierungsmehrheiten verfügt hat, blieb sie auf der nationalen Ebene bis zu diesen Wahlen eine Drittpartei. In allen bisherigen Wahlen wurde sie immer wieder Opfer von strategischem Wahlverhalten zugunsten der Liberalen. Ihre soziale Basis besitzt die NDP heute vor allem unter den gewerkschaftlich organisierten Beschäftigten des öffentlichen Dienstes und den gutausgebildeten Wissensarbeitern in den Städten. Gleichzeitig appelliert sie auch an das Kleinbürgertum.

Mit ihrem Wahlerfolg hat die NDP wenigstens vorerst und womöglich dauerhaft die Liberale Partei als erste Oppositionspartei im Land abgelöst. Sie steigerte ihren allgemeinen Stimmenanteil von 18 auf 30% und legte damit von 34 auf 102 Parlamentssitze zu. Dies entspricht fast einer Verdreifachung des historischen Rekordergebnisses der NDP aus den 1980er Jahren. Besonders bemerkenswert war der Durchmarsch in Quebec. Hier hatte die NDP bislang überhaupt nur zwei Parlamentssitze erlangt und steigerte sich nun von einem einzigen Sitz auf 58 der insgesamt 75 Sitze. Konsequenz dieses Durchbruchs war die womöglich historische Erledigung des separatistischen Bloc Quebecois. Diesem verblieben von den ursprünglichen 49 Sitzen bei einem nationalen Stimmenanteil von 6% nur 4 Sitze. Der BQ-Parteiführer Gilles Duceppe schaffte es nicht einmal, in seinem eigenen Wahlbezirk gewählt zu werden und trat in der Folge genauso von seinem Amt zurück wie der Harvard-Geschichtsprofessor und Romanautor Michael Ignatieff als Parteichef der Liberalen.

Der Erfolg der NDP in Quebec scheint v.a. auf eine Erschöpfung der BQ-Rhetorik zurückzuführen zu sein, die die soziale Frage der nationalen Frage unterordnete. Das Bild eines Konflikts zwischen einer in Subalternität gehaltenen frankofonen Mehrheit und einer in Montreal konzentrierten, ökonomisch herrschenden, anglofonen Minderheit entspricht, seitdem mit der Parti Quebecois 1976 zum ersten Mal die Separatisten die Macht übernahmen (was u.a. eine Kapitalflucht nach Toronto zur Folge hatte), nicht mehr der Wirklichkeit. Vor dem Hintergrund der so genannten Stillen Revolution, in der im Verlauf einer Generation aus einer der konservativsten eine der sozial wie kulturell fortschrittlichsten Provinzen mit einer vergleichsweise aktiven Arbeiter- und Studierendenbewegung entstand, hat sich die soziale Frage innerhalb der frankofonen Gesellschaft zugespitzt. Dabei war es insbesondere die Gegnerschaft zu Stephen Harpers Rechtskurs, die zur Stärkung der NDP führte, weil man sich von Jack Layton, dem Vorsitzenden der NDP, und seiner Partei eine effektivere Opposition zur Regierung vorstellt.

Mit der NDP füllt damit nun eine Parteifraktion die Funktion der politischen Opposition aus, die vor großen Herausforderungen steht. Mit Layton steht ihr ein immens populärer Parteiführer vor, der sich im Interview mit Leo Panitch und Sam Gindin 2003 noch als »stolzer Sozialist« bezeichnete. Layton, der nach seiner Promotion in Politikwissenschaft an der York University in Toronto jahrelang als Professor an allen drei Toron­toer Universitäten lehrte, konnten die Vorwürfe von rechts, ihm mangele es an Volksnähe, im Gegensatz zum liberalen Parteichef Michael Ignatieff, den die gleichen Vorwürfe ereilten, nichts anhaben. Im Gegenteil, der Wahlerfolg in Quebec wird zum Teil auch auf Laytons Bemühungen um ein authentisches Quebecois-Französisch zurückgeführt.

Der Wahlerfolg der NDP in Quebec stellt diese vor große Herausforderungen. Viel Aufhebens ist darum gemacht worden, dass viele Kandidaten Karteileichen gewesen sind, die von dem kurzfristigen Aufschwung der Partei wenige Wochen vor den Wahlen völlig überrascht wurden. Das pikanteste Beispiel ist das einer Kandidatin, die für viel Erheiterung sorgte, weil sie anstatt Wahlkampf zu machen, in den »schon lange zuvor gebuchten« Urlaub in Las Vegas verschwand und in Abwesenheit trotzdem ihren Bezirk gewann. Neben erfahrenen politischen Kräften aus den Gewerkschaften oder auch den First-Nations-Bewegungen der kanadischen Ureinwohner ziehen mit dem Wahlerfolg der NDP damit unzählige unerfahrene Kandidaten ins Parlament ein. Dazu gehören vier lückenfüllende B.A.-Studierende der englischsprachigen Mc-Gill-Universität in Montreal, die nun frankofone Wahlbezirke repräsentieren müssen, in denen sie nicht einmal Wahlkampf gemacht haben. Die Unerfahrenheit und mangelnde soziale Basis erschwert damit die Möglichkeit einer organischen Oppositionspolitik gegen das neoliberale Krisenmanagement der Harper-Regierung in den Parlamenten und in den außerparlamentarischen Widerstandsbewegungen zugleich.

Zwischen Euphorie und Warnungen

Die kanadische Linke oszilliert seit den Wahlen zwischen einer gedämpften Euphorie und Warnungen nicht nur vor einer schrankenlosen konservativen Politik, sondern auch vor allzu viel Hoffnungen auf die NDP. Während einige der ansonsten so abgeklärten Marxistinnen und Marxisten, die in so großer Zahl den politikwissenschaftlichen Fachbereich der York University bevölkern, an dem auch Jack Layton promovierte, sich kurzfristig von der Euphoriewelle anstecken ließen, enthielt sich die neugegründete politische Linksformation Quebec Solidaire einer direkten Wahlempfehlung für die NDP, sondern unterstützte einzelne linke Kandidaten vor Ort.

Zwar ist die NDP im Gegensatz zu anderen sozialdemokratischen Parteien den Dritten Weg offiziell nicht mitgegangen, im Großen und Ganzen akzeptiert aber auch die NDP die Rahmenbedingungen des Neoliberalismus. So soll der von der NDP avisierte Erhalt und Ausbau des kanadischen Sozialstaats auf der Grundlage einer wettbewerbsfähigen Privatwirtschaft erfolgen. Dazu gehört auch das Festhalten am Freihandel im Rahmen der NAFTA. Und des Weiteren, dass die NDP zwar den Unternehmenssteuersatz wieder auf 19% anheben will, aber gleichzeitig keine Alternative zu einem dauerhaft niedrigeren Satz im Vergleich zu den USA sieht. Gleichzeitig versprach die NDP im Wahlkampf, dass die Finanzierung des Gesundheitssystems (Einstellung neuer Ärzte und Krankenpflegepersonals etc.) und die geplante grüne Investitionspolitik so gegenfinanziert werden solle, dass der Haushalt bis 2014-2015 ausgeglichen sei. Dabei legt sich die NDP programmatisch selber Fesseln an, indem sie mit dem neoliberalen Mittel von Steuervergünstigungen für Arbeitsplätze schaffende Mittelstandsunternehmen operiert, das nicht nur vom Ansatz her falsch ist, sondern auch gewaltige Haushaltsrisiken birgt. Die Appelle an den Mittelstand sind dabei auch Folgen der besonderen Hürden, die das politische System Kanadas linken Formationen auferlegt. Die Tatsache, dass die NDP rhetorisch an »Familien« und die »Mittelschicht« appelliert, ist auch eine Folge davon, dass das Mehrheitswahlrecht keinen stufenweisen Aufbau einer antineoliberalen Widerstandspartei nach dem Vorbild bspw. der deutschen LINKEN erlaubt. Denn das Ziel muss stets sein, eine Mehrheit hinter sich zu versammeln. Das ist dann aber keine auf Klassenformierung aufbauende Hegemonie, sondern die Suche nach Unterstützung aus der kapitalistischen Klasse. Dementsprechend richtete Layton den NDP-Wahlkampf in den letzten Wochen vor den Wahlen, in denen ein Wahlsieg der NDP möglich schien, auf eine Beschwichtigungspolitik gegenüber den ökonomischen Eliten aus.

Insofern wäre es übertrieben, wie Stephen Harper von einer Polarisierung im politischen System Kanadas zu sprechen. Die absolute Mehrheit gibt den Konservativen unter dem alten und neuen Ministerpräsidenten Raum, seine zentralen Vorhaben durchzusetzen. Dazu gehört neben einer strikten Austeritätspolitik und dem Muskelspiel in der Verbrechensbekämpfung vor allem die Abschaffung der staatlichen Parteienfinanzierung, die besonders zulasten der »Liberalen« ausfallen wird. Eingeführt worden war sie, um den wachsenden Einfluss des Kapitals auf die Wahlen, von dem die Rechte naturgemäß am meisten profitiert, zu unterbinden.

Ob die Krise als Vorwand für einen Frontalangriff auf den öffentlichen Sektor nach dem US-Vorbild dienen wird, ist noch unklar. Eine kanadische Tea Party von den Ausmaßen der USA gibt es nicht. Der urplötzliche und unvorhergesehene Aufstieg der NDP könnte Harper dabei von einem solchen Konfrontationskurs abhalten. Dass seine Partei politisch rechts vom Mainstream Kanadas steht, hat er selbst eingeräumt und nach seinem Wahlsieg erklärt, dass es keine Überraschungen geben werde. Sollte der Durchmarsch der NDP aber tatsächlich eine historische Verschiebung der politischen Tektonik des ansonsten so stabilen kanadischen Schildes in Richtung eines Zweiparteiensystems mit den Konservativen auf der einen und der NDP auf der anderen Seite bedeuten, so wird es sich lohnen, die weitere Entwicklung Kanadas im Auge zu behalten. Sie ist vor dem Hintergrund linker Wahlmiseren seit Anbruch der Krise in gewisser Weise eine Anomalie. Entscheidend wird, wie gesagt, sein, wie sich die NDP zu den zu erwartenden außerparlamentarischen Bewegungen gegen die Harper-Regierung stellen wird. Dies gilt insbesondere vor dem Hintergrund der Gewichtsverschiebung der Partei ins klassenkämpferischere Quebec. Gleichzeitig ist von Illusionen dringend abzuraten. Denn wie einer der von der Globe and Mail, der kanadischen Variante der FAZ, befragten Finanzmarktakteure den Aufstieg der »linken« NDP kommentierte: Wahlerfolge der Linken in Kanada seien nicht gleichzusetzen mit Wahlerfolgen der Linken in Europa. Auch wenn das rechte Fußvolk von einem zukünftigen Laytongrad schwadronierte, noch hat niemand die Errichtung einer solchen Metropole vor. Und doch ist das bis heute politisch souverän gebliebene Kanada seit dem 2. Mai 2011 nicht mehr ganz so schläfrig wie es Friedrich Engels vor fast eineinviertel Jahrhunderten erlebte.

Ingar Solty ist Redakteur der Zeitschrift Das Argument und Doktorand am Fachbereich Politikwissenschaft der York University in Toronto/Kanada.

[1] Friedrich Engels an Friedrich Adolph Sorge, 10. September 1888, in: MEW 37, S. 93

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