1. September 2006 Redaktion Sozialismus

Lebenslügen und Politikwechsel

Eine Erfolgsstory ist die schwarz-rote Regierungskoalition nicht. Beide Parteien haben bei Meinungsumfragen deutlich an Zustimmung eingebüßt. Auch die aktuelle positive Konjunkturentwicklung können die Akteure nicht auf ihre Habenseite buchen.

Zwar sprudeln Steuereinnahmen und Sozialabgaben stärker als erwartet, doch auf dem Arbeitsmarkt bewegt sich wenig. Immer wieder schockieren die großen Kapitalgesellschaften die Öffentlichkeit mit ihren zwiespältigen Botschaften: Sie jubeln über die höchsten Gewinne ihrer Unternehmensgeschichte und verkünden gleichzeitig einen radikalen Personalabbau. Unternehmensberatungen rücken mit ihren Prognosen in die Schlagzeilen der überregionalen Zeitungen: Durch den Einsatz moderner Kommunikationstechnologien würden in den Verwaltungen in den nächsten Jahren weit über 100.000 Arbeitsplätze eingespart werden können.

Die Abwendung der Wähler entfacht die latente Krise der Volksparteien. Im Geist des modernen Marktmythos wird eine Unklarheit über den Markenkern von Unionsparteien und Sozialdemokratie ausgemacht. Da gibt es auf der einen Seite einen christdemokratischen Ministerpräsidenten, der mit der Aufforderung an seine Partei von sich Reden macht, sich von neoliberalen Lebenslügen zu verabschieden, wie der, dass durch fortgesetzte Unternehmenssteuersenkungen Arbeitsplätze erhalten und neue geschaffen werden könnten. Wovon ist die Rede? Für die zum 1. Januar 2008 angekündigte "Reform" liegen zur Zeit zwei Modelle (Stiftung Marktwirtschaft und Sachverständigenrat) auf dem Tisch, die unisono auf eine Absenkung der Steuerbelastung der Unternehmen auf 25-30% hinauslaufen. Nicht nur, dass dadurch in einer Zeit massiver Gewinnmaximierung weitere rund 22 Mrd. Euro von öffentlichen in private Unternehmenskassen umverteilt werden. Damit verbunden ist ein Systemwechsel in einen Zwei-Klassen-Steuerstaat, denn für alle Arbeitseinkommen gilt weiterhin eine progressive Besteuerung bis zum Spitzensatz von 42%. Dass die Finanzierung eines zukunftsfähigen Gemeinwesens torpediert wird, wenn sich eine Klasse in zunehmendem Maße der Besteuerung entzieht, ist in der Logik eines Wettbewerbs- oder Markt-Staates intendiert. Selbst die vom Finanzministerium erstellte Schätzung, dass im vergangenen Jahr Unternehmensgewinne in Höhe von rund 65 Mrd. Euro am Fiskus vorbei ins Ausland verlagert wurden, wird mit Achselzucken quittiert.[1]

Auf der anderen Seite fordert der sozialdemokratische Finanzminister dazu auf, Urlaubsreisen zu streichen, um das Geld für die private Alterssicherung anzulegen. Auch ihm darf man unterstellen, zumindest grob über die Problemdimensionen unterrichtet zu sein. In den kommenden anderthalb Jahrzehnten fällt das Niveau der Alterseinkommen auf rund die Hälfte der Erwerbseinkommen. Mit jedem Jahr, um das die Lebensarbeitszeit verlängert wird, sinkt dieser Wert de facto weiter. Auch hier müssen wir von einem Systemwechsel sprechen: Die Abschaffung der dynamischen Rente mündet in Jahr um Jahr wachsende Altersarmut. Wohlgemerkt: Dies betrifft nicht nur jene, die z.B. eine wegen Arbeitslosigkeit oder Kindererziehung diskontinuierliche Erwerbsbiografie aufweisen, nicht nur jene, die aufgrund längerer Ausbildungszeiten auf weniger Erwerbsjahre kommen und nicht nur jene, die Teilzeit arbeiten oder aus Niedriglohnjobs nicht herauskommen. Altersarmut werden wir künftig verstärkt in der so genannten Mitte der Gesellschaft haben – unter jenen, die ihr Leben lang Vollzeit gearbeitet haben und die allein in der Lage wären, Steinbrücks Überlegungen zu folgen und den politisch organisierten Ausstieg aus der öffentlichen Altersvorsorge durch private Lebensversicherung etc. zu kompensieren.

Zwei unterschiedliche Themen – zwei unterschiedliche Stoßrichtungen? Keineswegs. Nur die Ausgangspunkte sind verschieden. Dass unter Christdemokraten die Forderung nach Ausbalancierung antagonistischer sozialer Interessen der Anstoß zu einer Lagerauseinandersetzung ist, macht deutlich, wie mächtig der Groll jener wirtschaftsliberalen Kräfte in den letzten Monaten angewachsen ist, die sich mit dem Wahlkampfprogramm der Union bereits kurz vor dem Startschuss zur Durchkapitalisierung der Gesellschaft wähnten. Rüttgers, für den die NRW-CDU zur größten "Arbeiter-Partei" zwischen Rhein und Ruhr aufgestiegen ist, befürchtet nicht zu Unrecht, dass damit die Potenz zur strukturellen Mehrheitsfähigkeit auf Dauer verloren geht. Steinbrück nähert sich von der anderen Seite: Für ihn ist das Absacken der SPD auf deutlich weniger als ein Drittel der noch aktiven Wähler Ausdruck seiner als Tatsache empfundenen Position, dass sich die Sozialdemokratie noch nicht konsequent genug auf der Strecke des Dritten Wegs modernisiert hat. Aber hinter den Interventionen der beiden politischen Akteure steckt noch mehr. Der Finanzminister hat es angesprochen: Das Wahlvolk muss darauf vorbereitet werden, dass die Zeit der berühmten "Grausamkeiten", die man tunlichst zu Beginn einer Legislaturperiode begehen sollte, sich keineswegs dem Ende zuneigt. Sein Nachfolger in der Düsseldorfer Staatskanzlei hat die weitere Richtung skizziert: "Wir werden künftig nicht nur länger für das gleiche Geld arbeiten müssen, sondern auch flexibler sein müssen"; "Eigenvorsorge geht vor staatlicher Fürsorge"; "Freiheit heißt, dass Arbeitgeber und Arbeitnehmer flexiblere Bedingungen für ihre Vertragsabschlüsse bekommen müssen, denn starre Tarifverträge sind in Zeiten von Globalisierung und demografischem Wandel Gift für den Arbeitsmarkt"; "Sozial ist: ... Wir geben die Ladenöffnungszeiten weitgehend frei – aber der Sonntag muss den Familien gehören."[2]

Das Problem ist: Die Rezepturen sind bereits alle verabreicht. Auch die etwas höheren Tarifabschlüsse vom Frühjahr reichen nicht ansatzweise aus, den seit Jahren anhaltenden Rückgang der Reallöhne auszugleichen. Der Prozess der Privatisierung beschleunigt sich: Mit 32,1 Mrd. Euro ist der Anteil der privaten Haushalte an den Gesamtausgaben des Gesundheitssystems bis Ende 2004 (das sind die aktuellsten Zahlen) auf 14% gestiegen – die private Krankenversicherung nicht mitgerechnet. Und getreu dem geflügelten Wort, dass aus der Not eine Tugend wird, hat auch die Flucht in die Riester-Rente mittlerweile an Tempo zugelegt.

Nun gut: Tarifverträge, die diesen Namen verdienen und nicht kollektive Erpressungs- und Demütigungsmanöver festschreiben, gibt es noch – das Adjektiv "starr" meint, auch sie durch "betriebliche Bündnisse für Wettbewerbsfähigkeit" schleifen zu müssen. Und was die Ladenöffnungszeiten betrifft, halten wir uns ausnahmsweise an den deutschen Michel in Funktion der offiziellen Wirtschaftsexperten: Einen Euro kann man nur einmal ausgeben – egal, ob in 12 oder 24 Stunden. Die Folge wird ein erneuter Schub im Konzentrationsprozess des Handels sein.

Diese Politik schwächt die Binnenkonjunktur. Das Gerede der Politiker von einer Balance aus wirtschaftlicher Vernunft und sozialer Gerechtigkeit hilft uns nicht aus der gesellschaftlichen Sackgasse und überzeugt die WählerInnen immer weniger. Die Unternehmen fordern immer intensivere und höhere Leistungen ab, erwarten mehr Flexibilität und zugleich sollen sich die Menschen mit geringeren Anteilen am Ertrag zufrieden geben und dem harten Gesetz von Knappheit und Konkurrenz Tribut zollen. Immer bohrender werden die Fragen, weshalb nie die Kapital- und Vermögensseite Abstriche hinnehmen muss. Die Formel von den "Lebenslügen" markiert unübersehbar: die neoliberale Hegemonie hat deutliche Risse bekommen.

Steinbrück erweist sich als der coolere Politiker. Die berühmten "kleinen Leute", die sich in der Politik der großen Koalition immer weniger wiederfinden, sprechen selbst davon, dass der Urlaub im gnadenlosen alltäglichen Überlebenswettbewerb ihr kleiner verbliebener Luxus ist, über den ein Großteil der Arbeitslosen und Teile der Lohnabhängigen schon nicht mehr verfügt. Es ist die bekannte Bewegungsform: Verzicht auf Urlaub, um andere Existenznotwendigkeiten weiterhin bedienen zu können. Der Zynismus dieser Ansprache liegt darin, dass im entwickelten Kapitalismus der Verzicht auf elementare Lebensbedürfnisse als unvermeidlich und alternativlos propagiert wird. Solange der Mythos von der Kapitalknappheit greift, werden große Teile der Bevölkerung die kaum mehr zu überbietende Einseitigkeit bei der Aneignung des Reichtums akzeptieren und auf den engeren Verteilungsspielraum mit Verzicht reagieren.

Was jetzt als Lebenslüge neoliberaler Politik die gesellschaftliche Aufmerksamkeit erregt – es gilt den Mythos zu entlarven, dass Gewinne und Vermögenserträge steuerlich privilegiert werden müssen, weil nur so die Kapitalknappheit behoben und zusätzliche Arbeitsplätze geschaffen werden können –, für diese überfällige Entmythologisierung des Kapitals steht die Wirtschaftspolitik von Keynes, nicht für simples defizit spending. Keynes hat in seiner Langfristprognose der Entwicklung der kapitalistischen Länder nach dem Zweiten Weltkrieg nicht nur eine säkulare Stagnationsentwicklung – in der wir uns offenkundig befinden – vorausgesehen, sondern sich auch mit geeigneten Rezepturen auseinandergesetzt: "Es wird notwendig sein, sinnvollen Konsum zu ermutigen, vom Sparen abzuraten und einen Teil des unerwünschten Surplus durch vermehrte Freizeit zu absorbieren – mehr Urlaub (eine wunderbare Art, Geld loszuwerden!) und weniger Arbeitsstunden."[3]

Die Schwächung des Binnenmarktes zum 1. Januar 2007 durch eine höhere Besteuerung des privaten Konsums – wodurch man wiederum höhere (Unternehmens-)Einkommen entlastet – erfolgt in einer Phase der Abschwächung der Konjunktur auf dem Weltmarkt, vor allem in den USA. Wie stark dort die Nachfrage infolge der Wende auf den Immobilienmärkten, damit der Kreditfähigkeit der privaten Haushalte, der Zinswende und einer wieder deutlich werdenden Investitionsschwäche zurück gehen wird, ist ungewiss. Aber für die deutsche Exportnation kann sich auch ein Husten des weltgrößten Binnenmarktes schnell zu einer Lungenentzündung auswachsen – wenn der Patient zusätzlich geschwächt wird.

Bereits in diesem Sommer ist auch in Deutschland der Höhepunkt der Konjunktur im 12. Nachkriegszyklus überschritten. Was wir gegenwärtig erleben, ist Ausdruck jenes berühmt-berüchtigten time-lag, in dem spekulative Überhitzung,[4] statistische Effekte[5] und Sonderkonjunkturen[6] im bereits auslaufenden Boom als Indizien eines nunmehr verstärkt einsetzenden Aufschwungs genommen werden (Glos: "Der konjunkturelle Knoten ist geplatzt"). Im Rückblick wird man feststellen, dass dieser Konjunkturzyklus der schwächste in der jüngeren deutschen Geschichte ist.[7]

Im Winter, wenn die letzten aufgrund der Mehrwertsteueranhebung vorgezogenen Konsumausgaben getätigt sind, werden die Gewinnwarnungen zunehmen und die Arbeitslosigkeit schließlich auch saisonbereinigt wieder ansteigen. Die Mehreinnahmen in den öffentlichen Kassen erweisen sich dann von ebenso kurzer Dauer wie die der Sozialversicherungsträger. Und damit sind wir wieder bei Rüttgers und Steinbrück, d.h. der Ankündigung, auf diese Entwicklung mit einer neuen Spar- und Privatisierungsrunde zu antworten: "sozial balanciert" und "modern" versteht sich.

Der Circulus vitiosus der großen Koalition besteht darin, dass sie auf die durch neoliberale Politik herbeigeführte bzw. verstärkte Problemkumulation doch wieder mit neoliberalen Rezepturen reagiert, die im neuen Anlauf entweder besser ausbalanciert oder konsequenter in Anwendung gebracht werden sollen. Dass dieser Teufelskreis zu einem Abbröckeln von Hegemonie führt, liegt auf der Hand. Genauer: Von den beiden Elementen von Hegemonie – Herrschaft bzw. Unterordnung und intellektuell-moralische Führung – verschieben sich die Gewichte zu ersterem. Die große Koalition hat schnell die ihr anfangs noch attestierte Fähigkeit eingebüßt, einen breiten Block sozialer Kräfte zu formieren und breitere Teile der subalternen Klassen einzubeziehen. Ihr politisches "Kapital" besteht darin, nach wie vor mit globalisierungs-, demografie- und finanzpolitischer Sachzwangargumentation der politischen Opposition den Anspruch auf die Vertretung realistischer Alternativen streitig zu machen.

Doch das kann sich ändern. Zum 21. Oktober mobilisieren die DGB-Gewerkschaften für einen Politikwechsel in dieser Republik. Das Motto "Das geht besser – aber nicht von allein" ist zwar nicht berauschend, lässt aber erkennen, dass offensiv für Bündnisse geworben werden soll, mit denen die Zivilgesellschaft gegen ein sich zunehmend verselbständigendes politisches System in Stellung gebracht werden soll: gegen die Verlängerung der Lebensarbeitszeit auf Kosten der sowohl älteren Langzeitarbeitslosen wie vor allem der skandalösen Ausbildungs- und Arbeitslosigkeit hunderttausender Jugendlicher; gegen die Privatisierung einer Zwei-Klassen-Medizin im Zuge einer im Ansatz untauglichen Gesundheits"reform"; gegen Harz IV und die soziale Verelendung Arbeitsloser; gegen die Ausweitung von Niedriglohnsektoren und prekärer Arbeit; gegen die Demontage auch der bescheidensten Ansätze wirtschaftlicher Mitbestimmung – wobei ebenso stark wie das "gegen" auch das "für", die Benennung politischer Alternativen, sein soll. Dezentral, mit möglichst beeindruckenden Demonstrationen und Kundgebungen in München, Stuttgart, Wiesbaden, Dortmund und Berlin. In den regionalen Gliederungen haben (Gegen-)Aufklärung und Mobilisierung bereits begonnen. Aus der fehlenden Nachhaltigkeit der großen Frühjahrsdemonstrationen des Jahres 2004 in Stuttgart, Köln und Berlin hat man gelernt: Nicht nur durch einen bündnispolitischen Ansatz, sondern auch dadurch, dass der 21. Oktober nicht das Ende, sondern der Auftakt einer weiterführenden Mobilisierung in den kommenden Monaten sein soll. Nicht "Dampf ablassen", sondern effektiver Widerstand, der auf eine Veränderung der politischen Entwicklung zielt, ist das Programm.

Das ist ambitioniert – und mit Skepsis wird nicht hinter dem Berg gehalten werden. In der Tat: Man hätte sich eine lebendigere, widerstandsfähigere Zivilgesellschaft gewünscht, in der die Gewerkschaften stärker eingebunden sind. Zum Beispiel durch Sozialverbände, die – durchaus auch mit den Kirchen – Gegenwehr formieren, statt innerlich durch die eigene Nutzung von Niedrigstlohnarbeitsmärkten gebremst zu werden. Auch eine agilere Linksopposition, die die Sozialdemokratie in die Zange nimmt und politische Aufklärung vorantreibt. Aber das kann man sich nicht backen. Ebenso wenig wie Gewerkschaften, die keinen Flügel hätten, der abblockt, weil er an der Hoffnung festhält, durch sozialpartnerschaftliche Politik die Reste des Rheinischen Kapitalismus erhalten zu können.

Dass Gewerkschaften die politische Speerspitze im Herbst 2006 sind, mag ein Anachronismus sein – haben sie doch in ihren tarif- und organisationspolitischen Kernfeldern genügend Probleme zu schultern. Doch die bewusste Wahrnehmung des politischen Mandats seitens der Mehrheit der DGB-Gewerkschaften kann als Anstoß zur Veränderung der politischen Weichenstellungen ja auch ein Anstoß zur Vitalisierung von Zivilgesellschaft und politischer Linker sein.

[1] "Unternehmen entziehen sich dem deutschen Fiskus", in: FAZ v. 15.8.2006, S. 9.
[2] Jürgen Rüttgers: Der Markenkern der CDU, in: FAZ v. 19.8.2006, S. 8.
[3] John Maynard Keynes: Das langfristige Problem der Vollbeschäftigung, in: Karl Georg Zinn: Jenseits der Markt-Mythen, Hamburg 1997, S. 155.
[4] Die jene zu spüren bekommen, die versuchen, Unternehmen neu an die Börse zu bringen.
[5] Eine höhere Wachstumsrate im laufenden Jahr als Folge der statistischen Anhebung des Wachstumsniveaus im vergangenen Jahr.
[6] Darunter eine nachholende Wachstumsentwicklung im Bauhauptgewerbe im 2. Quartal 2006 nach einem außergewöhnlich langen Winter im 1. Quartal.
[7] Nach einer Stagnation im Jahr 2002 ging die gesamtwirtschaftliche Leistung in 2003 um 0,2% zurück. Nunmehr hat das Statistische Bundesamt die Wachstumsrate für 2004 von 1,6% deutlich auf 1,2% zurück genommen. Für 2005 beträgt die (vorläufige) Wachstumsrate des BIP 0,9%.

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