24. Februar 2011 Otto König / Richard Detje

Leiharbeit: Lohndumping mit System

Die Leiharbeit boomt. Allein 2010 ist die Branche um knapp 30% gewachsen. Die Unternehmen decken den aufschwungbedingten Mehrbedarf an Arbeitsplätzen durch prekäre Beschäftigung ab. Im Bereich der Metall- und Elektroindustrie erhielten nur 15% der neu Eingestellten einen unbefristeten Arbeitsvertrag, 42% wurden befristet eingestellt und 43% waren Leiharbeiter – so das Ergebnis einer Umfrage der IG Metall bei rund 7.000 Betriebsräten.

Etwa eine Million Beschäftigte arbeiten mittlerweile als Leiharbeitskräfte – mehr als vor der Krise. Damit steigt auch der Anteil von Beschäftigten mit Billigjobs. Schon 2009 mussten sich 6,7 Millionen mit nicht ausreichend bezahlter Arbeit durchschlagen. Tendenz steigend.

Seit Mitte der 1980er Jahre sind immer mehr gesetzliche Schranken für die Leiharbeit niedergerissen worden. Die Deregulierung des Arbeitsmarktes durch die rot-grüne Bundesregierung im Zuge der Hartz-Reformen 2003 ließ Leiharbeitsfirmen wie Pilze aus dem Boden schießen. Kanzler Schröder und Wirtschaftsminister Clement eröffneten ihnen eine »Hauptverkehrsstraße für die Ausweitung prekärer Beschäftigung« (so DGB-Bundesvorstandsmitglied Annelie Buntenbach). Gab es damals erst 300.000 Leiharbeitnehmer, so waren es Ende 2010 fast 900.000. »Wir dürfen ja erst richtig wachsen, seit die Hartz-Reformen das Instrument der Zeitarbeit offiziell für politically correct erklärten«, so Jeffrey Joerres, Chef der drittgrößten Verleihfirma Manpower (Welt v. 10.2.2011). Hartz IV entwickelte sich als Treibsatz für die Verdrängung regulärer Arbeit.

Denn den Industrieunternehmen geht es nicht mehr nur darum, mit Leiharbeit Auftragsspitzen aufzufangen, Urlaubs- oder krankheitbedingte Ausfallzeiten zu überbrücken. Inzwischen werden Leiharbeitnehmer im ganz normalen Geschäftsbetrieb eingesetzt. So nutzen die Arbeitgeber in der Metall- und Elektroindustrie neben der »internen Flexibilität« (Arbeitszeitkonten und betriebliche Öffnungsklauseln durch das Pforzheimer Abkommen) mit der Leiharbeit nun auch vermehrt die »externe Flexibilität«. Hinzu kommt: Prekäre Arbeit wird als strategisches Instrument zur Etablierung einer neuen Billiglohnlinie eingesetzt. Diese Entwicklung bedroht Stammbelegschaften. Die abhängig Beschäftigten werden unter Druck gesetzt, gleichzeitig werden die tariflichen Standards der Flächentarifverträge unterlaufen und die Mitbestimmungsrechte angegriffen. Letztlich werden damit die Grundlagen des Sozialstaats und der Arbeitsgesellschaft in Frage gestellt.

Lohndumping und Disziplinierung

Dumpinglöhne breiten sich aus. Leiharbeitnehmer bekommen im Schnitt 40 bis 50% weniger Gehalt als ihre festangestellten KollegInnen – schwankend je nach Qualifikation und Einsatzbetrieben. So nachzulesen in einer Studie des
Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB). Darin heißt es: Im Westen lag das mittlere Bruttoeinkommen aller Vollzeitbeschäftigten 2009 bei 2.805 € im Monat gegenüber nur 1.456 € für Leiharbeitskräfte. Bei vergleichbarer Arbeitszeit ergibt sich ein Einkommensgefälle von 48,1%. Bei einem Lohn von 50% unterhalb des Medianlohnes handelt es sich um »Armutslöhne«. In den neuen Bundesländern sind die Löhne insgesamt deutlich niedriger und auch der Einkommensabstand etwas geringer: Dort verdienten alle Vollzeitbeschäftigten im Schnitt 750 € brutto im Monat weniger als im Westen und Leiharbeitskräfte 230 € monatlich weniger als die Beschäftigten im westdeutschen Verleihgewerbe. Im Vergleich zum typischen Vollzeitbeschäftigten in den neuen Ländern verdienen Leiharbeitskräfte aber auch hier im Schnitt gut 40% weniger als die Vollzeitbeschäftigten im Osten insgesamt.[1]

Trotz wirtschaftlicher Erholung steigt das ohnehin sehr hohe Verarmungsrisiko der Leiharbeitskräfte weiter an. Ihre schwierige finanzielle Situation führt dazu, dass viele trotz Erwerbstätigkeit nicht einmal das gesellschaftliche Existenzminimum sichern können. Mehr als jeder achte Leiharbeitnehmer verdient so wenig, dass die staatliche Fürsorge einspringen und den niedrigen Lohn auf das gesellschaftliche Existenzminimum anheben muss. Mitte 2010 waren 92.000 von ihnen – Vollzeit- wie sozialversicherungspflichtige Teilzeitjobs – auf zusätzliche Hartz IV-Leistungen angewiesen. Insgesamt musste immerhin bei 13,1% aller sozialversicherten Leiharbeitskräfte der Lohn über Hartz IV-Leistungen aufgestockt werden. Über alle Branchen hinweg waren demgegenüber 2,7% aller sozialversicherten Beschäftigten auf Hartz IV angewiesen. »Das Verarmungsrisiko der erwerbstätigen Leiharbeitskräfte ist damit vier bis fünf Mal größer als in der Gesamtwirtschaft. In keiner anderen Branche ist das Risiko der Hartz IV-Bedürftigkeit bei Erwerbstätigkeit so groß wie im Verleihgewerbe«, so der Autor der Studie, Wilhelm Adamy.

Schließlich erweist sich die Leiharbeit auch als Disziplinierungsinstrument im Unternehmen. Die Leiharbeiter möchten im Einsatzbetrieb auf einen festen Arbeitsplatz übernommen werden. Doch dies geschieht nur selten. Nur rund 8% der zuvor Arbeitslosen schaffen durch die Leiharbeit den Sprung aus der Arbeitslosigkeit in eine Anstellung. Und wenn, dann nur auf Druck der Betriebsräte. »Eine Übernahme ist für viele so etwas wie ›ein Sechser im Lotto‹. Um durch das dünne Nadelöhr der Übernahme zu passen, versuchen die meisten Leiharbeiter daher, ihre direkten Vorgesetzten permanent von ihrer Leistungsfähigkeit und Leistungsbereitschaft zu überzeugen«.[2] Zwar habe die Krise gezeigt, dass die Leiharbeiter den Arbeitsplatz der Stammbeschäftigten »sicherer« machen können, dennoch registrieren diese, dass Leiharbeiter sich seltener krank melden und bereitwilliger Mehrarbeit erledigen. »Jede Stammkraft hat im Extremfall einen Leiharbeiter vor Augen, der ihn ersetzen kann«, lautet ein Fazit der Studie »Funktionswandel von Leiharbeit«.[3]

Alle prekären Jobs haben eines gemeinsam: Im Abschwung stehen diese Menschen sofort als »Reservearmee«, wie in der Krise geschehen, vor den Betriebstoren. Die Personalabteilungen können sie schnell wieder loswerden. »Im Boom werden damit Lohnkosten gespart, in der Krise fallen die Entlassungskosten weg« (Klaus Dörre). Übrigens ein Grund, warum es um die über Jahre leidenschaftlich geführte Debatte über die Abschaffung des Kündigungsschutzes ruhiger geworden ist.

Equal-Pay für Leiharbeit

Seit geraumer Zeit mobilisieren IG Metall und DGB gegen die Lohndrückerei und für eine gesetzliche Regulierung der Leiharbeit. Ein strategischer Ansatzpunkt sind die von Betriebsräten durchgesetzten Betriebsvereinbarungen – so genannte »Besservereinbarungen«, in denen bessere Regelungen und Obergrenzen der Zahl der einzusetzenden Leiharbeiter festgelegt wurden. Im Bereich der IG Metall gibt es inzwischen 800 davon. Im Herbst 2010 wurde darüber hinaus in der Eisen- und Stahlindustrie ein Tarifvertrag vereinbart, in dem »gleiches Geld für gleiche Arbeit« durchgesetzt wurde. Doch das alles reicht nicht aus, um Leiharbeit flächendeckend sozial gestalten und eindämmen zu können. Deshalb fordern die Gewerkschaften, den Grundsatz »gleiche Arbeit – gleiches Geld« in geltendes Recht umzusetzen.

Die Wirtschafts- und Arbeitgeberverbände laufen gegen die Festschreibung des Grundsatzes eines »Equal Pay« Sturm. Sie warnen davor, durch eine schärfere Regulierung der Zeitarbeit den »Aufschwung am Arbeitsmarkt abzuwürgen«. Die Politik laufe Gefahr, »das Instrument Zeitarbeit unbrauchbar zu machen«, so Hannes Hesse, Hauptgeschäftsführer des Maschinenbauverbandes VDMA. Die Arbeitgeber der Leiharbeitsbranche drohen, dass dadurch zehntausende Arbeitsplätze verloren gingen. Und der Präsident der Bundesvereinigung der Arbeitgeberverbände (BDA), Dieter Hundt, kündigte an, dass eine strengere Regelung unterlaufen werde: »Die großen Unternehmen werden Wege finden, um durch Auswechseln der Zeitarbeitnehmer mit dem Problem fertig zu werden«. Hundt geht also davon aus, dass Konzerne in Zukunft immer dann neue Leiharbeiter anfordern, wenn sie die bisherigen Kräfte genauso bezahlen müssten wie die Stammbelegschaft.

Schweres Geschütz! Dabei war der ursprünglich von Bundesarbeitsministerin Ursula von der Leyen vorgelegte Gesetzesentwurf eher als Leiharbeitsförderprogramm gedacht, das weder den Missbrauch noch den Abbau von Stammarbeitsplätzen begrenzt hätte. Weder eine Höchstüberlassungsdauer noch ein Verbot der Synchronisation (Koppelung von Arbeitsvertrag und Leiharbeitseinsatz) war vorgesehen. Ebenso wenig Regelungen, die eine gleiche Bezahlung von Leiharbeitnehmern sichern. Das waren jedoch Punkte, die die SPD gleichsam als Wiedergutmachung für die Deregulierung der Leiharbeit unter Rot-Grün auf ihre Fahnen geschrieben hatte und im Rahmen des aktuellen Vermittlungsverfahrens zu den Hartz-IV-Regelsätzen durchsetzen wollte. Aus guten Gründen: Immerhin muss der Bund jährlich elf Milliarden Euro aufwenden, um die Verdienste von Leiharbeitern und Niedriglöhnern über Hartz IV aufzustocken.

Ob nun als Tiger gesprungen und als Bettvorleger gelandet, sei dahingestellt. Jedenfalls ist es der Bundesarbeitsministerin gelungen, das gesamte Forderungspaket zu pulversisieren. Keine gleiche Bezahlung, kein Synchronisationsverbot, keine Höchstdauer. Heraus kam noch nicht einmal ein Placebo. Denn die »neuen« Mindestlöhne sind nichts anderes als die untersten Entgelte im Tarifvertrag zwischen DGB und den großen Zeitarbeitsfirmen. Die liegen für ungelernte Leiharbeiter im Westen bei 7,59 und in den neuen Bundesländern bei 6,65 Euro.       Das ist Festschreibung von Lohnkonkurrenz und Armutslöhnen – die die Gewerkschaften aufgrund ihrer Organisationsschwäche flächendeckend in der Branche nicht verhindern konnten. Sinnvoll ist diese Regelung nur im Hinblick auf die Arbeitnehmerfreizügigkeit in Europa ab dem 1. Mai dieses Jahres, die die Arbeitgeberverände der Leiharbeitsbranche vor neuer Konkurrenz aus Osteuropa fürchten ließ. Dem wird mit der Neuregelung im Arbeitnehmerüberlassungsgesetz unterhalb von 7,59/6,65 Euro nun ein Riegel vorgeschoben. Mehr nicht. Das wars!

Mobilisierung für sichere und faire Arbeit

Umso wichtiger war, dass die Gewerkschaften nach dem »Scheitern« der Politik am 24. Februar mit vielen betrieblichen und öffentlichen Aktionen autonom mobilisierten. Zehntausende setzten bundesweit ein Zeichen für sichere und faire Arbeit statt Befristungen und Leiharbeit; Einstellungen im Betrieb statt Werk- und Dienstleistungsverträge und die Übernahme der Ausgebildeten in eine feste Beschäftigung. Das weitere Vorgehen kann – nachdem die Große Koalition aus CDU (nebst FDP) und SPD bei der Re-Regulierung der Leiharbeit »versagt«[4] – nur in einer Doppelstrategie bestehen: für Equal Pay in den Entleihbetrieben und Branchen zu kämpfen, wo die Gewerkschaften und Betriebsräte über die entsprechende Organisationsmacht verfügen; und in der Zivilgesellschaft dafür einzutreten, dass Arbeit und menschliche Würde Seiten einer Medaille sind. Deutschland ist das Land in Europa, dem im zurückliegenden Jahrzehnt ein Prekarisierungspush an die Spitze verordnet wurde und das hinsichtlich der Dimension des Niedriglohnsektors nur noch von den USA überflügelt wird. Das zu ändern erfordert, aus Gewerkschaften eine starke zivilgesellschaftliche Macht zu machen – in Bündnissen »auf Augenhöhe« mit sehr vielen anderen (»Mosaik-Linke«). In der Tat: ein Bohren »harter Bretter«. Aber anders ist die Versteinerung der politischen Verhältnisse wohl nicht aufzubrechen.

Otto König ist Mitherausgeber und Richard Detje Redakteur der Zeitschrift Sozialismus.

[1] DGB: Niedriglohn und Lohndumping im Verleihgewerbe. Berlin, Februar 2011.        [
[2] Karin Flothmann: »Jeden Tag neu bewerben«, in: Mitbestimmung 1+2/2011.
[3] Hajo Holst/Oliver Nachtwey/Klaus Dörre: Funktionswandel von Leiharbeit, neue Nutzungsstrategien und ihre arbeits- und mitbestimmungspolitischen Folgen. Studie im Auftrag der Otto Brenner Stiftung, 2009.
[4] Es macht die Crux der gegenwärtigen politischen Situation aus, dass die Protagonisten einschneidender Deregulierungspolitik zu Kritikern ihrer selbst mutieren müssten. Das ist im Einzelfall und in Einzelpunkten nicht ausgeschlossen, beispielsweise dann, wenn frühere »Reformen« sich als völlig dysfunktional erweisen – wie in Teilen des Steuerrechts. Nach wie vor scheint jedoch ein die großen Parteien übergreifender Konsens dahingehend zu bestehen, dass Konkurrenz das Geschäft belebt und der Erstarrung der Arbeitsmärkte vorbeugt, und dass Armut als Massen»schicksal« erhalten bleiben muss, um Löhne zu zügeln. In dieser Perspektive macht es Sinn, Hartz-IV-Regelsätze und Leiharbeit gemeinsam zu verhandeln und wechselseitig von Verhandlungserfolgen zu reden.

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