1. Mai 2005 Elisabeth Gauthier

"Nein"-Kampagne zur EU-Verfassung in Frankreich

Seit einem Monat zeigen alle Meinungsumfragen eine Mehrheit (derzeit zwischen 53 und 56%) für ein Nein im Referendum über die EU-Verfassung. Niemand bestreitet, dass die politische Dynamik soziologisch und politisch vom linken Spektrum der Gesellschaft getragen wird.

Nach den Arbeitern, öffentlich Beschäftigten und Landwirten sind mittlerweile auch die "cadres" (mittlere und höhere Angestellte) mehrheitlich zum Nein übergegangen; bei der Jugend zeigt sich besonders deutlich, dass das Nein antiliberal, aber nicht antieuropäisch ist. 92% der kommunistischen, 62% der sozialistischen, 62% der grünen Wähler stehen für das Nein, 72% der Wähler der Rechtsparteien UMP und UDF sind für Ja. Dies zeigt, dass die Auseinandersetzung klar links-rechts geprägt ist. Es geht aber nicht nur um eine Einordnung in politische Traditionen, sondern um die inhaltlichen Fragen des Neoliberalismus.

Nach einer mittelmäßigen Fernsehshow des konservativen Präsidenten Chirac verlieren die Kräfte des "Ja" ihr Selbstvertrauen, um eine offensive Kampagne führen und das Ruder noch herumreißen zu können. Das "Nein" ist populärer und dynamischer, sodass bisher die Versuche der Neoliberalen, eine Offensive in Gang zu bringen, versandeten. Das antiliberale "Nein" schöpft viel seiner Kraft aus der Artikulation, die die Akteure der heute sehr zahlreichen und vielfältigen sozialen Kämpfe in den unterschiedlichsten Kategorien des öffentlichen und privaten Sektors zwischen ihren Forderungen und dem Inhalt des Verfassungstextes herzustellen im Stande sind. Die Abgrenzung vom "Front nationale" wird instrumentell eingesetzt, aber das Amalgam zwischen linkem und rechtem "Nein" funktioniert in Frankreich aufgrund des Wissens in der Auseinandersetzung heute weit weniger als im Ausland. Im linken Spektrum besteht die Gefahr, die zentrale und zukunftsbestimmende Bedeutung des Referendums mit den in der nächsten Zeit zu bearbeitenden politischen Fragen zu verwechseln.

In der Kampagne kommt die gesamte Bandbreite des Verfassungstextes zur Sprache. In Sachen Demokratie wird der gesamte Prozess – ohne Constituante, ohne breite Debatte – kritisiert. Gleichermaßen wird die Aufrechterhaltung der Macht der Europäischen Kommission abgelehnt, bei einer nur äußerst geringfügigen Ausweitung der Rechte der Bürger und Parlamente. Kritisiert wird schließlich

  die Erhebung des Neoliberalismus in Verfassungsrang;

  die praktische Irreversibilität der Verfassung bzw. des politischen Programms, das sie beinhaltet;

  die im Verhältnis zu den anderen Teilen des Textes reduzierte Rechtskraft der vielgepriesenen Charta der Grundrechte, die im Gegensatz zu den anderen Abschnitten kein neues den Staaten übergeordnetes und einklagbares Recht schafft.

Je inhaltlicher der Text diskutiert wird, desto bewusster wird die Opposition. Schockierend wirkt die Durchbuchstabierung der freien und ungehinderten Konkurrenz als Leitmotiv, in allen Einzelheiten und zerstörerischen Konsequenzen, z.B. auf den öffentlichen Sektor, die Flexibilisierung der Arbeit, die Kommodifizierung aller Aktivitäten. Die Parallelen mit der Bolkestein-Initiative, GATS, den Direktiven zur Arbeitszeit, zum europäischen Transportwesen, werden hergestellt und die monetaristisch angelegte Rolle der Zentralbank zurückgewiesen. Zugleich kommen pazifistische und feministische Kritikpunkte zum Tragen.

In diesem gesellschaftlichen Lernprozess wächst auch das Bedürfnis nach der Formulierung von Alternativen. Diese gehen in drei Richtungen:
1. Welche politischen Hauptforderungen könnten und sollten bei einem Sieg der Antiliberalen in Frankreich, aber auch europaweit sofort ins Zentrum gestellt werden, um die veränderten Kräfteverhältnisse voll zu nutzen?
2. Welche Prinzipien sollten längerfristig von den Linken für eine verfassungsmäßige Neuordnung der Institutionen vertreten werden?
3. Und welche ökonomischen und sozialen Regulationen in der EU sollten Inhalt eines neuverhandelten Vertrages – nicht einer Verfassung, weil es hier um politische Programmatik geht – werden, im Sinne einer sozialen, demokratischen Umorientierung der europäischen Konstruktion?

Erste Ausarbeitungen zu diesen Fragen aus der Europawahlkampagne werden jetzt wieder aufgenommen. Klar ist, dass nicht alle für das linke "Nein" engagierten Kräfte sich hier zusammenfinden – Differenzen können nicht weggeredet werden –, aber ein gemeinsamer Sockel mit einer gewissen politischen Bandbreite scheint sich herauszubilden. Damit könnte es möglich werden, mit einigem Gewicht bereits vor dem 29. Mai Perspektiven für ein anderes Europa aufzuzeigen.

In der derzeitigen Auseinandersetzung erscheinen die Akteure des Neoliberalismus überraschend hilflos einerseits gegenüber der Akkumulation von kollektivem Wissen und anderseits gegenüber den politischen Erfahrungen aus den letzten Jahren. Der politische und soziale Zorn kristallisiert sich im Wesentlichen nicht als anti-europäisch, sondern als antiliberal. Das linke "Nein" bündelt gegenwärtig die diversen Kräfte, kristallisiert die sozialen und politischen Erfahrungen, ermöglicht Sanktionen gegenüber Regierungsrechten – seine Stärke führt zu gewissen Zugeständnissen – und leitet eine substanzielle Veränderung der Kräfteverhältnisse ein. Es geht diesmal nicht um eine Stimmabgabe für das "geringere Übel", sondern um die Möglichkeit, sich zu sammeln und mehrheitlich gegen den Neoliberalismus zu stimmen.

Die Sozialistische Partei hatte aus der Wahlniederlage 2002 keine Schlussfolgerungen gezogen, ihre Erklärungsansätze blieben an der Oberfläche, die von den Wählern verworfene Unterordnung unter die Dogmen des Neoliberalismus wurde offiziell und von der Mehrheit nicht zum Thema gemacht. Die Teilnahme des SP-Spitzenpolitikers Fabius an der Großveranstaltung der "Altermondialistes" im Sommer 2003 wurde mit Erstaunen, aber diskussionslos registriert. Die trotzkistische Linke ging davon aus, das 2002 erreichte Niveau (ca. 10% der WählerInnenstimmen) dauerhaft halten zu können, was sich aber unter den veränderten Vorzeichen einer rechten Regierung als Illusion herausstellte. Die PCF, im Jahr 2002 mit 3,37% auf dem Tiefpunkt ihrer Geschichte angekommen, musste ihre Politik gründlich infrage stellen. Die neue Leitung mit Marie George Buffet entwickelte ihre Linie in Richtung eines klaren Antiliberalismus und eines neuverstandenen Antikapitalismus, einer vom ESF Prozess begünstigten Annäherung an die sozialen Bewegungen. Eine gründliche Auseinandersetzung war nötig, um politische Autonomie zurückzugewinnen, weder auf Antisozialismus noch auf Ankoppelung an die Sozialdemokratie zu orientieren, und ausgehend von den Inhalten initiativ zu werden und Allianzen zu konstruieren. So konnten bei den Regional- und Europawahlen 2004 in einigen Wahlkreisen Bündnisse mit Vertretern der Sozialbewegungen begründet werden; manchen Parteimitgliedern schien allerdings der Preis zu hoch, als immerhin 130.000 Mitglieder zählende und landesweit verankerte Partei weitaus kleinere und weniger verankerte Gruppen von sozialen Akteuren als gleichberechtigte Partner anzuerkennen. Gleichwohl waren diese Bündnissignale entscheidend, um das Abgehen von jedweden traditionellen hegemonialen und avantgardistischen Ansprüchen konkret und nicht nur im Diskurs zu beweisen. Wenn heute in der Sammelbewegung für das linke "Nein" die PCF diejenige politische Kraft ist, die den breitesten Bogen der beteiligten Kräfte zusammenbringt, dann konnte sie zu einem solchen Gravitationsschwerpunkt (nicht zu verwechseln mit traditionellen Avantgarde-Ansprüchen) nur aufgrund ihrer inhaltlichen politischen Positionen und ihrer Experimentierbereitschaft – die Widersprüche nicht ausschließt oder übertüncht – werden.

Erste Schlussfolgerungen für die Linke werden bei den derzeit intensiven und sich beschleunigenden Erfahrungen möglich. Soll das ca.15% betragende links von der Sozialdemokratie angesiedelte Potenzial (wie es André Brie für Deutschland konstatiert [siehe Sozialismus 4-2005]; auch in Frankreich kann man von dieser Größenordnung ausgehen) wirksam gesammelt werden, dann kann die politische Ambition nicht darin bestehen, linken Druck auf die Sozialdemokratie auszuüben. Keine der linken Kräfte in Frankreich kann allein oder bei hegemonialem Auftreten eine entsprechende Dynamik im Sinne einer "refondation de la politique" erzeugen. Neue Formen sind gefordert, um einen gemeinsamen Handlungsrahmen zu entwickeln. Der "Appel des 200", den bereits vor Monaten führende Politiker des linken Nein sowie soziale Akteure und Intellektuelle gemeinsam unterschrieben haben, hat einen solchen Rahmen geschaffen, der es allen, auch den Minderheiten in den anderen Parteien und den sich später positionierenden Gewerkschaftern und Attac-Vertretern erlaubte, ein einheitliche Aktionen förderliches Klima vorzufinden.

Inzwischen haben sich mehr als 500 lokale Kollektive, je nach örtlichen Gegebenheiten gebildet, die eine äußerst intensive Aktivität entwickeln, ohne dass damit die unterschiedlichen Organisationen gehindert werden, ihre eigene spezifische Kampagne gleichzeitig durchzuführen. All dies produziert eine seit 20 Jahren nicht mehr bekannte Intensität der politischen Arbeit "von unten", mit täglich zig größeren und kleineren Veranstaltungen in den Ortschaften, Stadtvierteln und zunehmend auch in den Universitäten und Betrieben: 300 Beschäftigte der Pariser Verkehrsbetriebe bei einer Veranstaltung mitten in der Eingangshalle der Zentrale, unter Teilnahme führender Politiker – das wurde schon lange nicht mehr gesehen. Die übliche Arbeitsteilung: hier soziale Kämpfe, dort politische Aktion wird tendenziell überwunden. Ob es auf dieser Grundlage zur Herausbildung eines neuen politischen antiliberalen Blocks kommen kann, kann zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht prognostiziert werden. Eine solche Entwicklung ist allerdings auch nicht auszuschließen, insbesondere wenn es gelänge, die "dynamique citoyenne" nach dem 29. Mai fortzusetzen, um in diesen neuen Formen die Fortsetzung der Europapolitik und eine innenpolitische Alternative, wie es Marie George Buffet kürzlich vorgeschlagen hatte, zu diskutieren.

Das linke "Nein" aus Frankreich bereitet sich auf die noch bevorstehenden Schwierigkeiten vor: unter anderem auf den sich voraussichtlich verstärkenden Druck "aus Europa". Der gesamte Ratifizierungsprozess in den 25 europäischen Ländern findet angesichts eines unakzeptablen Demokratiedefizits statt, die überwiegende Mehrheit der europäischen Bürger werden zur Stimmabgabe aufgerufen, ohne über die Sachlage auch nur einigermaßen informiert zu sein oder bekommen überhaupt nicht die Möglichkeit, sich zu äußern. Täglich werden neoliberale Verteidiger der Verfassung aus verschiedenen Ländern in die französischen Medien bemüht. Gleichzeitig wurde ein geplanter großer Fernsehauftritt des Präsidenten der EU-Kommission Barroso wieder abgesagt, um dem antiliberalen "Nein" nicht neue Argumente zu liefern. Mehrere Parlamente, wie in Deutschland und Österreich, haben ihre Ratifizierung kurz vor dem französischen Referendum als Beistand für Giscard d’Estaing, Chirac und Hollande programmiert. Die holländische Regierung – von der Panik des französischen "Ja" angesteckt und mit einer Nein-Mehrheit in den Meinungsumfragen konfrontiert – überlegt, das von ihr für den 1. Juni angesetzte Referendum im Falle eines französischen "Nein" zu vertagen.

Gegenüber der europaweiten Koalition für die neoliberale Verfassung muss in Frankreich deutlicher als bisher gezeigt werden, dass es auch eine europaweite potenziell anwachsende Opposition gibt, die durch ein französisches "Nein" stärker würde und mit der in Zukunft gemeinsam für eine Umorientierung der europäischen Konstruktion gekämpft werden kann. Ein mit dem linken Nein solidarischer "Appell von 200 Europäern" – im Anschluss an den französischen "Appel des 200" – soll konkret aufzeigen, dass ein Erfolg des linken, stark antiliberal gefärbten "Nein" in Frankreich für viele in Europa eine große Hoffnung darstellt. In diesem Text wird argumentiert, dass ein solcher Sieg über den Neoliberalismus die Kräfteverhältnisse in ganz Europa und damit die Bedingungen für die neu zu eröffnenden Verhandlungen positiv beeinflussen würde. Für ganz Europa wäre das ein kräftiges Signal. Die Diskussion käme somit endlich breiter in Gang – in den Gewerkschaften, Bewegungen, Institutionen, Medien und in der Gesellschaft. Wie in Frankreich würde eine präzise Kenntnis des liberalen Verfassungsprojektes den Widerstand verstärken, die Befürworter herausfordern, die Kräfte des antiliberalen "Nein" bündeln. Die fortschrittlichen und antiliberalen Kräfte würden in ihren Kämpfen ermutigt und ein gemeinsames kritisches Europabewusstsein und die Kapazität europaweiter Mobilisierungen könnten beschleunigt entwickelt werden. Damit käme auch die Frage nach dem Sinn der europäischen Konstruktion, nach den möglichen und notwendigen Alternativen auf den Tisch. Dies wäre auch der Weg, um in breiterem Maßstab Vorstellungen, wie sie bisher in kleinerem Rahmen während der Sozialforen oder in linken Netzwerken in ersten Ansätzen erarbeitet wurden, zu diskutieren und in Richtung auf ein Europa der Demokratie, der sozialen Gerechtigkeit, der Solidarität, der individuellen und kollektiven Rechte, der Aktion für den Frieden, für ein neues Entwicklungsmodell auszubauen. In diesem Sinne rufen wir zur europaweiten aktiven Solidarität mit dem linken "Nein" in Frankreich auf.

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