1. Dezember 2002 Redaktion Sozialismus

Neu-Justierung des Sozialstaates

Die politische Stimmung in der Berliner Republik ist miserabel. Die SPD und ihr Frontmann Gerhard Schröder sind in der Wählergunst schlagartig um zehn Prozentpunkte abgesackt. Teile der Bevölkerung fühlen sich betrogen. Die bürgerliche Opposition müht sich kräftig, den Eindruck eines Wahlbetrugs zu verstärken. Was ist an dem Vorwurf dran?

Schröder hat unmittelbar nach der Wahl erklärt, dass ein Teil der Sozialtransfers und Steuervorteile keinen Bestand mehr haben könnte. Deutschland brauche eine "Neu-Justierung des Sozialstaates". Das bedeutet u.a.:
– Der Arbeitsmarkt wird radikal umgekrempelt; die Fristen für Lohnersatzleistungen werden zeitlich verkürzt und abgesenkt, die Deregulierung wird vorangetrieben, Weiterbildung und Umschulung sollen billiger und der Niedriglohnsektor mit Mini-Jobs und (Schein-)Selbständigkeit ausgebaut werden. Kurzum: Hier soll das Gros der Einsparungen realisiert werden.
– Die Sozialabgaben für die Altersrenten und die Krankenversicherung steigen, obwohl mit der Einführung einer kapitalgedeckten Zusatzversorgung das Rentensystem vermeintlich krisenfest gemacht worden ist. Leistungskürzungen stehen in beiden Sozialversicherungszweigen ins Haus.

Und das "ist erst der Anfang einer schmerzhaften Entwicklung", versichert der Kanzler. Noch setzt er nicht auf eine "Blut, Schweiß und Tränen"-Rethorik, sondern auf gesellschaftlichen Ausgleich: "Alle müssen Ansprüche aufgeben". In begrenztem Umfang werden Gewinne aus Immobilien- und Wertpapierverkäufen besteuert; Möglichkeiten zur steuerlichen Verminderung von Kapitaleinkommen werden beschränkt; mit Kontrollmitteilungen von Banken an die Steuerbehörden soll die verbreitete Steuerhinterziehung von Zinseinkommen etwas eingedämmt werden. Doch an die Korrektur der unzulänglichen Unternehmens- und Vermögensbesteuerung geht man nicht heran. Und ob in den kommenden Jahren die Luftbuchungen aufgehen, muss doch sehr bezweifelt werden. So sollen die ausgebluteten Kommunen die Ganztagsbetreuung für Kleinkinder (mit einer Quote von 20%) aus den Einsparungen bei der Sozialhilfe (die der Bund z.T. mit dem neuen Arbeitslosengeld II übernimmt) finanzieren. Selbst in Großstädten liegt das Ganztagsangebot derzeit selten über 3-4% - mit 1,5 Mrd. ist da wenig "Staat" für das sozialdemokratische Glanzreformstück zu machen.

Der tägliche Blick in die Medien erweckt den Eindruck, der ökonomische Vizemeister Deutschland stehe acht Wochen nach der Wahl kurz vor dem Abstieg in die Regionalliga. Den Vogel hat Arnulf Baring in einem umfänglichen Essay in der FAZ (19.11.) abgeschossen: Deutschland stehe kurz vor dem "Staatsbankrott" und sei auf "dem Weg in eine westliche 'DDR light'". Das ist Quatsch. Aber Ernst nehmen muss man Barings politische Bewertung. Für die Spielchen der bürgerlichen Opposition, den Hessen Eichel vor einen (rot-grün majorisierten) Untersuchungsauschuss zu zerren, um dem Hessen Koch den Wahlkampf zu organisieren, findet er nur noch Spott. "Der mittlerweile immer raschere Verfall wird ... schon deshalb fortschreiten, weil nicht nur Rot-Grün, sondern auch Schwarz-Gelb mehr und mehr energielos in sich zusammensacken. Die beiden Oppositionsparteien, die man früher bürgerlich nannte, lassen keine grundsätzlich andere, größere Handlungsbereitschaft erkennen." Hier deutet sich nicht mehr nur an, hier wird konsequent der Weg in eine andere Republik eingefordert. "Führung" brauche die Demokratie mehr als jedes andere System, betont Baring. Und: "Wir müssen ernsthaft darüber nachdenken, ob die Verfassung von 1949 mit ihrer vorsichtig ausgeklügelten Machtverteilung nicht jede energische Konsolidierung Deutschlands verhindert." Der Rechtsradikalismus im bürgerlichen Lager bläst zum Fanal: "Bürger, auf die Barrikaden".

Der Ärger über den Kurs der Regierung geht weit über die bürgerliche Opposition hinaus. Für Irritation sorgt vor allem das konzeptionslose, entnervende Hin- und Her der vorgeschlagenen Regelungen. Die miserable Handwerkelei hat einen eindeutigen Grund: Bis zum 22. September hatten die rot-grünen Wahlkämpfer die schlechte Konjunkturentwicklung und deren Folgen für die öffentlichen Kassen erfolgreich verdrängt. Offenkundig sind alle politischen Akteure selbst der Illusion von einem bevorstehenden Wirtschaftsaufschwung aufgesessen. Überrascht konstatiert man nach der Wahl, dass die Kürzungen und Streichungen in den Sozialkassen und öffentlichen Finanzen durch die Flaute im laufenden und in den Folgejahren weitgehend zunichte gemacht worden sind. Die Regierung bemüht sich hektisch um Schadensbegrenzung. Aber selbst wohlwollende ZeitgenossInnen können keinen Ansatz erkennen, wie die Akkumulations- und Wachstumsdynamik gestärkt werden kann.

Es ist keineswegs so, dass allein die Bundesregierung wie der König ohne Kleider dasteht. Auch die Bundesländer und Gemeinden sind zu umfassenden Ausgabenkürzungen und einer Umwidmung der Prioritäten gezwungen. Trotz der mühselig durchgesetzten Korrekturen bei Ausgaben und Einnahmen steigt die Neuverschuldung bei allen öffentlichen Gebietskörperschaften, so dass die Bundesrepublik ein Strafverfahren wegen Überschreitung der Neuverschuldung (3% vom BIP) durch die Europäische Kommission über sich ergehen lassen muss.

Der von der neoliberalen Ideologie geprägte bürgerliche Block fordert energische Einschnitte in das soziale Netz und Lohnkürzungen. Die Gewerkschaften haben noch massivere Einschnitte bei den sozialen Transferleistungen verhindern können. Das trägt der Regierung und den Koalitionsparteien den Vorwurf der Gewerkschaftshörigkeit ein. Per Saldo haben jedoch die subalternen sozialen Schichten die größte Last der Schröderschen Neu-Justierung des Sozialstaates zu tragen. Die Tarifverhandlungen im öffentlichen Dienst werden das tatsächliche gesellschaftliche Kräfteverhältnis enthüllen. Es ist keineswegs sicher, dass die Beschäftigten lediglich mit kleineren Blessuren aus dem Kräftemessen herauskommen.

Die Bundesregierung versucht mit fiskalischen Notstandsmaßnahmen und dem moderaten Auspressen bestehender Steuerquellen eine Gradwanderung zwischen der Stabilisierung der öffentlichen Haushalte und der weiteren Beschädigung der gesellschaftlichen Nachfrage mit der Konsequenz eines fortschreitenden wirtschaftlichen Niedergangs zu bewerkstelligen – um so die nächsten Monate über die Runden zu kommen. Man versucht sich durch das Konjunktur- und Steuertief durchzumogeln, in der Hoffnung, dass die Konjunkturlokomotive USA den Karren aus dem Druck zieht.

Kritik wird schroff abgebürstet. Im Fall des ehemaligen SPD-Vorsitzenden Lafontaine, der in der Bild-Zeitung an die gefährliche Konstellation am Ende der Weimarer Rpublik erinnert, als Reichskanzler Brüning mit seiner Sparpolitik den Absturz in eine deflationäre Abwärtsspirale beförderte, wird sogar nach einem Parteiausschluss gerufen. Die zaghafte Erinnerung an eine keynesianisch inspirierte Wirtschaftspolitik findet keine Resonanz.

Nicht nur in den Gewerkschaften wird in dieser gesellschaftspolitischen Zuspitzung das Ausscheiden der PDS aus dem Parlament der Republik und deren Parteikrise beklagt. Allerdings wäre auch eine starke PDS-Fraktion von dem "Terror" des Konjunkturzyklus und den düsteren Zukunftsperspektiven überrascht worden. Welch jammervolles Bild die PDS unter den Bedingungen einer manifesten ökonomischen und politischen Krise bieten kann, lässt sich gegenwärtig in der Hauptstadt Berlin eindrucksvoll studieren. Rasch sind radikale Kritiker dabei, einen Rückzug aus der Regierungsverantwortung zu fordern. Welch bodenlose Naivität drückt sich in dieser Forderung aus! Sozialisten müssen davon ausgehen, dass eine Rückkehr zu beschleunigter Kapitalakkumulation mit geringen Arbeitslosenraten nur in der Folge einer massiven Entwertung von Kapital möglich sein wird. Das bedeutet, dass sie auf jeden Fall mit einer krisenhaften Zerrüttung des gesellschaftlichen Reproduktions- und Lebensprozesses bei gleichzeitiger sozialer Spaltung und ideologischer Aufladung konfrontiert sind. Abtauchen in bessere Zeiten kann man nur im Traum.

Wie schwer ein Richtungswechsel fällt, lässt sich ablesen an der Auseinandersetzung um eine Mindestbesteuerung von Unternehmensgewinnen und der von Rot-Grün auf den Weg gebrachten Steuer auf Veräußerungsgewinne aus dem Verkauf von Aktien, sonstigen Wertpapieren und Termingeschäften, sowie von Grundstücken und Gebäuden, die nicht für eigene Zwecke genutzt werden. Die Polemik gegen diese moderate Steuer erreicht in der deutschen Republik eine sagenhafte Lautstärke. Man erinnert sich an die ersten Versuche, eine Zinsquellenbesteuerung in den 70er Jahren einzuführen, was mit dem Argument erfolgreich blockiert wurde, man könne doch nicht die Sparbücher der kleinen Leute sozialisieren. Auch bei der mäßigen Steuer auf Veräußerungsgewinne werden sämtliche Register der Vulgärökonomie gezogen. Dass jeder Wertzuwachs etwas mit der gesamtgesellschaftlichen Wertschöpfung zu tun hat und als solcher – wie alle anderen Wert- und Revenuequellen auch – einer Besteuerung zu unterwerfen ist, will die besitzende Klasse nicht akzeptieren. Sie mobilisiert den Alltagsverstand der breiten Massen, als ginge es um die Vergesellschaftung der Produktionsmittel. Vergleichbare Besteuerung gibt es in anderen kapitalistischen Metropolen wie den USA, Großbritannien, Frankreich etc. Angesichts der Härte der Auseinandersetzung dürfte die den Bundesländern zugeschobene Wiedererhebung der Vermögensteuer und eine wünschbare Erhöhung der Erbschafts- und Schenkungssteuer ein zur Zeit unrealisierbares Vorhaben bleiben.

Es liegt an der sozialistischen Linken selbst, ob in den nächsten Jahren die machbare Alternative einer grundlegenden Umgestaltung der zerrütteten bürgerlichen Gesellschaft gesellschaftlichen Einfluss gewinnt.

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