1. Juni 2000 Joachim Bischoff / Richard Detje

Neue Allianzen

Die nordrhein-westfälische Sozialdemokratie würde das Bündnis mit den Grünen gerne beerdigen und für die neue Legislaturperiode eine Koalition mit der Möllemann-FDP eingehen. Auch Bundeskanzler Schröder wird eine Neigung zu einer sozial-liberalen Koalition nachgesagt. Diese Öffnung in den bundesdeutschen Koalitionspräferenzen ist einigermaßen überraschend und ergibt sich keineswegs zwingend aus den jüngsten positiven Wahlergebnissen für die FDP. Was macht die Freidemokraten so attraktiv?

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Innerhalb der christdemokratischen Parteien wird der Verlust der Hegemonie bei der Bundestagswahl 1998 u.a. als Folge einer zu starken Abhängigkeit von der FDP gesehen. Die CDU hätte sich zu sehr im Schlepptau der eigentlichen Kerntruppe der neoliberalen Ideologie bewegt. Wegen ideologischer Pluspunkte, nicht etwa, weil hier ein erklecklicher Reichtum umzuverteilen gewesen wäre, habe man etwa beim Ladenschluss, der Absenkung der Lohnfortzahlung im Krankheitsfall oder bei der Zuzahlung auf Gesundheitsleistungen eine politische Frontstellung gegenüber einem Großteil der bundesdeutschen Bevölkerung in Kauf genommen. Das christdemokratische Lager habe sich von der neoliberalen FDP einen Konfrontationskurs gegen Gewerkschaften, Sozialverbände und Kirchen aufzwingen lassen und damit seinen Charakter als bürgerliche Volkspartei gefährdet – vergleichbar den Entwicklungen bei den britischen Konservativen und dem bürgerlichen Lager in Frankreich.

In der Tat hatten die bundesdeutschen Liberalen die Interessen des Finanzkapitals – d.h. der Banken, der Fonds- und Vermögensverwalter – seit den 80er Jahren zur Richtschnur des politischen Handelns erhoben. Eine Minderheit in der FDP, die mit Blick auf die rechtskonservativ-nationalistischen Parteierfolge in Österreich und Frankreich für einen radikalen Kurswechsel nach rechts votierte, konnte isoliert und aus der Partei gedrängt werden. Im Konflikt über die Beschränkung der Bürgerrechte (Lauschangriff, Asylrecht) verloren die Liberaldemokraten in der Partei deutlich an Einfluss, und die neoliberale Ideologie bestimmte die politische Praxis. Es war ein naheliegendes Kalkül, dass die rot-grüne Bundesregierung den Frontmann der Wirtschaftsliberalen, Otto Graf Lambsdorff, mit den Verhandlungen über Entschädigungszahlungen an NS-Zwangsarbeiter beauftragte; so konnte sie von vornherein sicher sein, von den Wirtschaftsverbänden keine Kritik an Verlauf und Ergebnis der Verhandlungen erwarten zu müssen. Der politische Aufsteiger in NRW, Jürgen Möllemann, war in der FDP-Bundestagsfraktion zuständig für den Bereich der Gesundheitspolitik und profilierte sich nicht nur in diesen Fragen, sondern auf dem gesamten Gebiet der sozialen Sicherungssysteme als ein radikaler Befürworter von Deregulierung und Privatisierung. Dennoch ist ihm das Kunststück gelungen, das Image eines eingefleischten Neoliberalen vergessen zu machen. Die FDP konnte – befördert durch das dramatische Absinken der Wahlbeteiligung – mit dem forschen Auftritt als Event- und Spaßpartei eine überraschende Attraktion auf die Wähler der jüngeren Generation entwickeln. Es ist entschieden zu früh, bereits von einer erfolgreichen Transformation des bundesdeutschen Liberalismus zu reden. Aber auch ohne die Landtagswahlergebnisse von NRW und zuvor in Schleswig-Holstein überschätzen zu wollen: Auch die Freidemokraten haben begriffen, dass sich mit der radikalen Deregulierungspolitik und der sozialen Kälte des Neoliberalismus allein nicht genügend Stimmen für das politische Überleben holen lassen. Die wendigen Kräfte in der FDP orientieren darauf, dass mit einem konsequenten Engagement in Sachen Bildungspolitik und dem Interesse der jüngeren Generation an verschlankten, damit billigeren und modernisierten Institutionen sozialer Absicherung der Abstiegsprozess der Liberalen zu stoppen ist. Allerdings ist das Überleben der FDP als politisch-parlamentarischer Kraft erst dann gesichert, wenn das Image der bürgerlichen Leistungsträger mit höherem Einkommen und Vermögen erfolgreich mit der Interessenvertretung der aufstrebenden jungen Generation der »Wissensgesellschaft« verbunden werden kann.

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Viele Sozialdemokraten sehen das Bündnis mit den Grünen als politisches Auslaufmodell. Das überrascht nicht, ist es doch den Bündnisgrünen bislang nicht gelungen, ihre Wählerbasis zu stabilisieren und eine zukunftsorientierte Programmatik zu präsentieren. Seit längerem plädiert eine starke Strömung in der SPD für die Beschleunigung des wirtschaftlichen und sozialen Strukturwandels, für eine Politik der offensiven Eroberung der globalisierten Weltmärkte und eine weitreichende Veränderung im Machtgefüge der Gesellschaft zwischen Lohnarbeit und Kapital. Die große Mehrheit der bundesdeutschen Sozialdemokratie teilt die Auffassung, dass der »Sozialversicherungsstaat«, wie er aus den Schutzbedürfnissen des Industriezeitalters im 19. und 20. Jahrhundert entstand, überholt ist und grundlegender, struktureller Veränderungen für die postindustrielle Ära des 21. Jahrhunderts bedarf. Wolfgang Clement, stellvertretender Parteivorsitzender der SPD und alter wie neuer NRW-Ministerpräsident, würde daher am liebsten in einer Koalition mit der FDP die politische Landschaft weitgehend verändern. Clement plädiert für eine deutliche Verschiebung des politischen Koordinatenkreuzes der Sozialdemokratie, die ähnlich weitreichend sei wie vor 40 Jahren die »Wende von Bad Godesberg«. Das lässt aufhorchen: Bad Godesberg ist das Symbol für den letztlich auch programmatischen Verzicht der deutschen und dann der ganzen westeuropäischen Sozialdemokratie auf eine grundlegendere Veränderung der kapitalistischen Gesellschaftsordnung. Bis dahin wurde die strategische Konzeption der Sozialdemokratie mit der umstrittenen Formel vom »Arzt am Krankenbett des Kapitalismus« beschrieben. Ende der 50er Jahre flüchteten sich die sozialdemokratischen Parteien dann unter das Dach der so genannten »sozialen Marktwirtschaft«.

Die SPD müsse sich im Übergang zum 21. Jahrhundert – so Clement – von der Auffassung verabschieden, »dass alles sozial gerecht sei, was die Ungleichheit in der Einkommens- und Vermögensverteilung verringert.« Die SPD solle sich auf eine Neudefinition des Grundwerts der »Chancengleichheit« konzentrieren: als Gleichheit der Chancen, aber nicht Gleichheit der Ergebnisse. Eine modernisierte Sozialdemokratie müsse in der Konsequenz auch mehr soziale Ungleichheit – z.B. in Form prekärer Beschäftigungsverhältnisse – in Kauf nehmen, wenn sich dadurch letztlich die Arbeitsmarktchancen verbesserten und die Inanspruchnahme sozialstaatlicher Leistungen zurückgehe. Wie allerdings unter Bedingungen weiter wachsender Ungleichheit auch nur ein Quentchen mehr Chancengleichheit gewährleistet werden kann, bleibt in den Plädoyers für einen »aktivierenden Staat« ein gut gehütetes Geheimnis. Gleichwohl ist in der deutschen Sozialdemokratie wenig Widerstand gegen diese neue strategische Orientierung zu erwarten.

Die von Clement beförderte Revision der sozialdemokratischen Programmatik zielt zum zweiten auf die Formierung einer so genannten Wachstumskoalition. Der erfolgreiche US-Kapitalismus (»new economy«) zwinge die europäische Sozialdemokratie zu einer entschiedenen Politik der Umverteilung zur Stärkung »innovativer« Investitionen, zur Qualifizierung des »Humankapitals«, zur Entbürokratisierung des Staates und zur Flexibilisierung der industriellen Beziehungen.

Eine strategische Allianz mit innovativen Teilen des Kapitals bringt einen wesentlichen Fortschritt gegenüber der neoliberalen Deregulierungspolitik: In der individualistischen Grundanlage der neoliberalen Konzeption wird die »produktive Kraft des gesellschaftlichen Zusammenhalts systematisch unterbewertet«. Wenn man – da ist sich Clement mit seinen Freunden aus den Kapitalfraktionen sicher – nur Deregulierung betreibt und das öffentliche Eigentum privatisiert, bleibt die für eine moderne Ökonomie unverzichtbare Infra- und Qualifikationsstruktur auf der Strecke. Auf der anderen Seite ist die Abgrenzung selbst gegenüber einer moderaten sozialdemokratischen Linken eindeutig: Umverteilung von oben nach unten sei eine falsche Orientierung; da die Erwirtschaftung des Wohlstandes der Verteilung vorausgesetzt sei, müsse Umverteilung zugunsten der Kapitaleinkommen in Kauf genommen werden, um eine effizientere Reichtumsproduktion organisieren zu können. Erst am Ende dieser Kette könnten soziale Wohltaten wie z.B. eine Mindestsicherung stehen, um den sozialen Zusammenhalt bei wachsenden gesellschaftlichen Unterschieden sicherzustellen. Clement verspricht sich von dieser Politik, dass sich die Individuen als »Wirtschaftsbürger« stärker engagieren, wenn Leistungsorientierung ganz oben auf der politischen Agenda steht. Kann man zudem sicher sein, im Falle des wirtschaftlichen Scheiterns oder auch nur der Überforderung nicht ins Bodenlose zu fallen, wird die Produktivität steigen. Die wirtschaftlichen Aktivitäten werden riskanter, innovative Durchbrüche wahrscheinlicher, Investitionen in Real- und Humankapital ertragreicher.

Kurzfristig findet diese Neudefinition des sozialdemokratischen Grundwerts der »Chancengleichheit« möglicherweise eine wahlarithmetische Mehrheit, auf längere Sicht müssen die größeren Ungleichheiten im Ergebnis aber selbst auf die Produktion zurückschlagen. Die Anerkennung der Markt- und Kapitalsteuerung ist keine tragfähige Zukunftskonzeption. Eine Modernisierungskoalition mit der Möllemann-FDP würde den angepeilten Strukturwandel in die neusozialdemokratische »Wissensgesellschaft« beschleunigen – damit würden aber zugleich die Widersprüche des Clementschen Konzepts der Chancengleichheit umso deutlicher zu Tage treten. Die FDP übernimmt hierbei die Rolle des Katalysators – doch die entscheidenden Weichenstellungen werden in der Sozialdemokratie selbst vorgenommen.

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Grüne und Sozialdemokraten haben auf ihrem dritten Weg in die ominöse Mitte die Linke hinter sich gelassen – gleichwohl haben die realexistierenden Sozialisten eine herbe Niederlage eingefahren. Die PDS hat die knapp 140.000 Stimmen aus der Bundestagswahl nicht halten können und ist auf 89.000 abgesackt. Allein für sich betrachtet ist das miserable Polittheater auf dem Parteitag in Münster ebensowenig für die Missachtung durch die Wähler verantwortlich wie die revolutionären Turnübungen einiger Strömungen in der Westlinken. Aber die Summe der Ereignisse – wenig überzeugende Programmdiskussion, viel internes Gerangel um die Nachfolge von Gysi und Bisky, der ermüdende Wettbewerb um die revolutionärste Kür auf politischem Parkett usw. – lässt die PDS in der Wählergunst abstürzen. Die jüngsten Meinungsumfragen signalisieren, dass die Linkssozialisten wieder das Hochsprungtraining aufnehmen müssen, wollen sie in zwei Jahren nicht an der 5%-Hürde scheitern.

Auf mittlere Sicht kann die Strategie einer modernisierten Sozialdemokratie in Allianz mit den »innovativen Wachstumskapitalen« nicht mehrheitsfähig bleiben. Allerdings muss eine sozialistische Linke die Herausforderung einer Steuerung der Ökonomie, einer gründlichen Reform der Verteilungsverhältnisse und die Entwicklung einer Zivilgesellschaft aufgreifen. Die Chancen für eine linkssozialistische Partei sind beträchtlich, allerdings müssen linke oder sozialistische Politiker die Unzufriedenheit mit den herrschenden politischen Zuständen, wie sie sich in der Wahlbeteiligung und wachsender Ablehnung gegenüber herkömmlicher Parteipolitik ausdrückt, endlich ernst nehmen. Es gibt kein Patentrezept zur Überbrückung der sich ausbreitenden Parteienverdrossenheit. Es muss eine Mischung zwischen neuer Interessenvertretung der Wähler und langfristig verfolgter Umgestaltungspolitik der kapitalistischen Gesellschaft entwickelt werden.

Sechshunderttausend (in Zahlen: 600.000) Stimmen hat die NRW-SPD gegenüber den letzten Wahlen verloren - Wähler, die der neusozialdemokratischen Umwertung sozialer Werte keine Zukunftsorientierung entnehmen können. Wenn das keine Herausforderung für eine nichtsektiererische Linke ist ...

Joachim Bischoff und Richard Detje sind Redakteure von Sozialismus.

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