1. Januar 2000 Joachim Bischoff / Richard Detje

Neue Chance für die Neue Mitte?

Die rot-grüne Bundesregierung hat ihre Position zum Jahreswechsel deutlich verbessert. Die Talfahrt bei den demoskopischen Umfragen ist beendet und die Koalition kann sich wieder Chancen ausrechnen, die Landtagswahlen in Schleswig-Holstein und NRW zu gewinnen. Die Stabilisierung der politischen Macht ist nicht das Ergebnis einer Kurskorrektur hin zu mehr »sozialer Gerechtigkeit«.

Die Regierung hat ihr Sparprogramm ohne wesentliche Abstriche durch die parlamentarischen Beratungen gebracht. Lediglich bei der Erhöhung des Kindergeldes gab es eine kleinere Korrektur, so dass auch Sozialhilfeempfänger an der familienpolitischen Umverteilung teilhaben. Im Gegensatz zu den Wahlversprechen im Herbst 1998 wurde die rasche Absenkung des Niveaus der Altersrenten beschlossen und die gemeinsamen Beratungen mit der bürgerlichen Opposition über eine »große Rentenreform« lassen eher weitere Verschlechterungen erwarten.

Kontinuität ist auch die Botschaft der Steuerreform, die neben der Entlastung der Familien eine Absenkung der Steuertarife für alle Einkommensklassen bringen soll. Ob die Steuerschlupflöcher für Besserverdienende tatsächlich gestopft werden, bleibt abzuwarten; bislang setzt die neue Bundesregierung die Politik der Steuergeschenke an Unternehmen, vor allem aber an Banken und Versicherungen fort – belohnt mit einem weihnachtlichen Allzeithoch auf den deutschen Börsenplätzen. Bei der Unternehmens- und Gewinnbesteuerung hat die Bundesrepublik im Steuersenkungswettbewerb deutlich nachgezogen und zwingt nun die anderen kapitalistischen Metropolen zu weitergehenden Schritten. Eine Korrektur der Verteilungsverhältnisse steht nicht auf der Tagesordnung.

Durch die Steuerreform wird der Anteil des öffentlichen Sektors an der gesellschaftlichen Wertschöpfung zurückgefahren. Mit der Absenkung der Steuer- und Abgabenquote – erklärtes Ziel der rot-grünen Regierung – werden weitere Sparprogramme programmiert. Zwar werden durch die Stärkung der Einkommen der privaten Haushalte auch Konjunkturimpulse freigesetzt, aber im Grundsatz läuft diese politische Konzeption auf eine Verringerung öffentlicher Investitionen, Absenkung der öffentlichen Dienstleistungen, Verschlechterung der Sozialeinkommen sowie auf eine Verstärkung der Eigenvorsorge der privaten Haushalte hinaus. Schlussfolgerung: Die Regierungskoalition hält an dem weit vor den zurückliegenden Bundestagswahlen definierten Politikkonzept fest, dass sie »gerade diejenigen anspricht, die in dieser Gesellschaft das Sagen haben oder von der Entwicklung profitieren.« Die Konzeption der »Neuen Mitte« zielt auf eine spezifische ökonomische Konstellation: »Die fiskalischen Möglichkeiten der öffentlichen Haushalte sind strukturell erschöpft. Öffentliche Transferleistungen sind nicht mehr ausweitbar, die sog. Staatsquote, zu der ein immer geringerer Teil der Bevölkerung heute und in der Zukunft beiträgt, muss zurückgeführt werden... Alle Vorschläge zur Verbesserung der Situation auf den zweiten und dritten Arbeitsmärkten müssen gleichzeitig benennen, wie die Reformen im heutigen Sozialsystem aussehen müssen. Nicht nur, um Anreize zur Einkommenserzielung aus Arbeit zu stärken, also diese Modelle funktionsfähig zu machen, sondern auch und vor allem, um diejenigen Arbeitnehmer zu schützen, die mit ihren Steuern und Abgaben diesen Sozialstaat finanzieren.« (Schröder) Rot-grün betreibt eine Bündelung der Interessen der beschäftigten Lohnabhängigen und jener Unternehmer, die in der weiteren Verbesserung der nationalstaatlichen Wettbewerbsposition ihre Expansions- und Überlebenschance sehen.

Vordergründig entsteht eine Allianz oder ein Block sozialer Kräfte, die ihre Lage dadurch verbessern können, dass die Abgabenbelastung aus Steuern und Sozialbeiträgen vermindert wird. Allerdings schließt der damit herbeigeführte Umbau des Sozialstaates eine erkennbare Verschlechterung nicht nur der von Sozialeinkommen lebenden BürgerInnen ein: die Belastungen durch Aufwendungen für Gesundheit, die Eigenvorsorge für die Alterssicherung, Fortbildung und Bildung und selbst die Wohnungskosten steigen. Es handelt sich um ein fragiles Bündnis: Damit die Nettohaushaltseinkommen steigen, wird in Kauf genommen, dass auf den Arbeitsmärkten die Leistungsvoraussetzungen verschärft werden, dass die Aufwendungen für Bildung wieder mehr auf die privaten Haushalte verlagert werden, dass der Lebensstandard im Rentenalter auch von eigener Vorsorge oder Ersparnissen abhängt. Die gesamtgesellschaftliche Verteilungsrechnung bleibt für viele verschwommen.

Auf welche Argumente stützt sich die Skepsis, dass mit der Strategie der »Neuen Mitte« ein stabiler Block sozialer Kräfte formiert werden könnte? Laut Wohlfahrtssurvey 1998 – durchgeführt vom Statistischen Bundesamt – ist die Lebenslage keineswegs so stabil wie in den Strategiekonzeptionen unterstellt. Mehr als ein Drittel aller Deutschen kann sich keine zusätzliche private Krankenversicherung oder Altersvorsorge leisten, ein Viertel kann im Monat nicht einmal 100 Mark sparen; 44% können sich nicht jederzeit eine Zahnbehandlung leisten, 50% können sich seltener als einmal im Monat einen Restaurantbesuch leisten und knapp 20% können nicht in Urlaub fahren. Vor allem Familien mit Kindern leiden unter Verarmungsrisiken. Mehr als eine Million Kinder und Jugendliche – und fast jedes zehnte Kleinkind – sind auf Sozialhilfe angewiesen. Zwar wurden – verstärkt durch die Rechtsprechung des Verfassungsgerichtes – Familieneinkommen besser gestellt, aber ohne eine grundlegende Reform der Mindesteinkommen ist eine Trendumkehr in der Armutspolitik nicht zu erreichen.

Die Politik der Stärkung der Primäreinkommen durch Steuer- und Abgabensenkung verbessert die Haushaltssituation vieler Lohnabhängiger, aber durch die Kürzungen bei öffentlichen Dienst- und Sozialleistungen wird dieser Effekt vielfach aufgezehrt. Dennoch hat dieser Politikansatz – gewürzt mit bürgerlicher Sozialstaats- und Bürokratiekritik und dem Versprechen auf lukrative Renditen privater Kapitalanlagen – positive demoskopische Effekte. Die Opposition, die über den Parteispendenskandal und die mögliche Käuflichkeit von politischen Entscheidungen massiv diskreditiert ist, demaskiert sich mit den Forderungen nach einer rascheren Steuerentlastung und einer noch stärkeren Entlastung der höheren Einkommensschichten selbst. Die Gefahr, dass das christdemokratische Lager sich dermaßen in den Sumpf des »System Kohls« und der politischen Korruption verstrickt hat, dass wie in anderen Metropolen eine strukturelle Hegemonieunfähigkeit der neokonservativen Parteien droht, ist nicht von der Hand zu weisen. Allerdings zeichnet sich in Deutschland anders als in Österreich, Italien oder der Schweiz noch keine rechtspopulistische Alternative ab, die den moralischen Verfall und die Konzeptionslosigkeit der bürgerlichen Parteien ausbeuten könnte. Dass das System der massendemokratischen Willensbildung durch die autoritäre Gestaltung der innerparteilichen Demokratie und den Anschein der Käuflichkeit von Politikern durch Manager und Immobilienbesitzer selbst weiter an Glaubwürdigkeit verloren hat, muss auch die rot-grüne Koalition in Rechnung stellen.

Das Versprechen der Verbesserung der Nettoeinkommen gilt nur für eine kürzere Frist. Seine Wirkung wird nicht bis zum Jahre 2005 anhalten, wenn der letzte Schritt der Steuerreform wirksam werden soll. Entscheidender ist für die politische Stimmungslage, ob der versprochene kräftige Konjunkturaufschwung in den nächsten Monaten eintrit und ob die Lohnabhängigen, vor allem die Einkommensklassen mit einem realen monatlichen Nettoeinkommen zwischen 2000 bis 4000 DM, einen deutlichen Zuwachs oberhalb der Preissteigerungsrate herausholen können.

Wichtig für die Stabilität des rot-grünen Regierungskurses ist ferner das Schicksal des Bündnisses für Arbeit. Die Unternehmerverbände versuchen, zügig Verhandlungen mit der IG Bergbau, Chemie, Energie über verbesserte Anspruchsvoraussetzungen für Altersteilzeitregelungen zum Abschluss zu bringen. Doch Gewerkschaften, die sich dafür auf längerfristige moderate Lohnpolitik einlassen, hätten sich für ein Linsengericht verkauft. Bleibt die IG Metall bei ihrer Distanz zu diesem Wettbewerbskorporatismus, bietet die kommende Tarifrunde die Chance einer offensiven Vertretung der Interessen der abhängig Beschäftigten. Wenn uns Lohnleitlinien erspart bleiben, dann ist die Gefahr eines Wettlaufes um die geringsten Steuersätze und Lohnzuwächse unter den kapitalistischen Hauptländern zwar immer noch nicht gebannt. Aber die Bedingungen sind etwas günstiger für eine Desillusionierung über die Verteilungspolitik der »Neuen Mitte«.

Bundeskanzler und SPD-Chef Schröder fasst das Grundrezept seiner Politik in der Formel zusammen: Die Verlierer in der kapitalistischen Gesellschaft zu Gewinnern machen, indem man die grundlegenden ökonomischen Entwicklungstendenzen in Dienst nimmt. Aber auch die Strategie der »Neuen Mitte« kann die Verteilungsverhältnisse nicht außer Kraft setzen. Rot-grün will jenen sozialen Schichten eine Perspektive bieten, die noch in einem »Normalarbeitsverhältnis« stecken, das Partizipation, Entwicklung, Auskommen und soziale Sicherheit bietet, die sich aber auch von sozialer Unsicherheit, Arbeitsplatz- und Realeinkommensverlusten bedroht sehen. Selbstverständlich kann man auf kurze Sicht über eine optimierte Wettbewerbsfähigkeit und die nochmalige Ausweitung der Exporte den sozialen Abstieg dieser sozialen Schichten hinausschieben. Rückführung der Staatsquote, Privatisierung des öffentlichen Eigentums und Umbau des Sozialstaates sind allerdings keine tauglichen Mittel, um eine neue Prosperitätskonstellation zu organisieren.

Joachim Bischoff und Richard Detje sind Redakteure von Sozialismus.

Zurück