1. Dezember 2000 Michel Wendl

Neue Chance für ver.di

Der Verzicht von Herbert Mai auf eine erneute Kandidatur zum ÖTV-Vorsitzenden war für viele überraschend, aber er war folgerichtig. Gerade 65,5% der anwesenden Delegierten hatten ihre Zustimmung zu den nicht mehr änderbaren Verschmelzungsverträgen und Fusionsrichtlinien für die vereinte Dienstleistungsgewerkschaft gegeben.

Gemessen an den abstimmenden Delegierten war das ein klares Votum. Gemessen am Ziel des 80%-Quorums, das von der Zahl der eingeladenen Delegierten abhängig ist, schrumpft dieser Anteil auf 62,3% – es fehlten rund 18% zum erforderlichen Quorum. Die Nichtkandidatur wurde von Herbert Mai mit dem durch die Abstimmung besiegelten Scheitern von ver.di begründet. Diese Einschätzung ist falsch, da exakt nur durch den Rückzug von Mai eine neue Chance für ver.di entstehen konnte.

Der Führung der ÖTV waren in den vergangenen drei Jahren des Fusionsprozesses schwerwiegende Fehler unterlaufen. Einmal war in der Auseinandersetzung um die Matrixstruktur des Organisationsmodells und das darauf aufbauende Modell der Finanzverteilung der Eindruck entstanden, die Interessen der ÖTV an einer mitglieder- und betriebsnahen Betreuung würden grob vernachlässigt. Offiziell hielt die ÖTV an der Zahl von mindestens 125 ver.di-Bezirken fest, hatte aber zugleich Budgetierungsrichtlinien vereinbart, die für ca. ein Viertel dieser Bezirke den finanziellen Ruin bedeuten. Das wurde entweder als Unehrlichkeit oder als Unfähigkeit der Verhandlungsführung bewertet. Zum zweiten hatte die Führung auf die wachsende Kritik an diesem Organisationsmodell mit einer Politik der Polarisierung reagiert. Auf die Einwände der kritischen Minderheiten wurde nicht eingegangen, sondern diese wurden massiv unter Druck gesetzt, um sie in der Schlussphase des Prozesses zum Nachgeben zu zwingen. Diese Strategie hatte von vornherein wenig Erfolgsaussichten. Es war ein fataler Fehlschluss zu glauben, eine kritische Minderheit »besiegen« zu müssen, wenn man sie nicht überzeugen kann. In einer demokratischen Gewerkschaft kann das nicht funktionieren.

Neben der Auseinandersetzung um ver.di wurde die ÖTV-Führung zweifach kritisiert. Erstens wegen der völlig unzureichend vorbereiteten Tarifrunde des öffentlichen Dienstes im Frühsommer 2000, die – um einen Arbeitskampf zu vermeiden – mit einem geradezu peinlich schlechten Kompromiss endete. Zum zweiten wegen ihrer auch in anderen Fragen zu rücksichtsvollen oder auch subalternen Rolle gegenüber der Bundesregierung, insbesondere in der Sozial- und Gesundheitspolitik. Dass diese Anpassung von der Bundesregierung nicht honoriert wird, dass mit schwachen Gewerkschaften im Konfliktfall eher rücksichtslos umgegangen wird, demonstrierte der Kanzler mit seinem »Wir machen das, basta«.

Das Abstimmungsergebnis zu ver.di wäre allerdings missverstanden, wenn es als Zeichen einer Abrechnung mit der Politik von Herbert Mai insgesamt interpretiert würde. Ein nicht kleiner Teil der innergewerkschaftlichen Kritiker der ÖTV-Tarifpolitik hatte in der Abstimmung für ver.di votiert. Mai musste damit rechnen, dass nach der unzureichenden Entscheidung für ver.di ein noch schlechteres Wahlergebnis für ihn und die meisten Mitglieder des geschäftsführenden Hauptvorstandes folgen würde. Mit einem solchen Gesamtresultat wäre die Gewerkschaftsfusion dann tatsächlich gescheitert.

Nach der Krise folgte der neue Aufbruch. Zunächst in Sachen ver.di. Mit einer deutlichen Mehrheit von 77,8% stimmten die Delegierten für die Einberufung des außerordentlichen Gewerkschaftstages im März 2001, auf dem die Auflösung der ÖTV und die Verschmelzung zu ver.di beschlossen werden soll. Gemessen an der Zahl der eingeladenen Delegierten sind das 73,6%, also nur noch knapp 7% unter dem erforderlichen Quorum. Dieser Aufbruch setzte sich fort mit der Wahl des neuen Vorsitzenden Frank Bsirske, der mit 94,7% der abgegebenen Stimmen einen enormen Vertrauensvorschuss bekam. Dieser basiert auf drei Faktoren. Einmal lieferte Bsirske eine sowohl rhetorisch wie politisch überzeugende Vorstellung. Zweitens wurde er in den letzten drei Jahren als Personal- und Organisationsdezernent in Hannover durch die ÖTV-internen Auseinandersetzungen um ver.di nicht beschädigt und hat daher die Chance für einen Neuanfang im Endspurt des Prozesses. Drittens wird er von nahezu allen Strömungen in der ÖTV akzeptiert, wohl auch, weil er den Eindruck vermitteln konnte, er wolle zwar »zuspitzen, aber nicht polarisieren«.

Nach den Wahlen setzte eine verkürzte Antragsberatung den Aufbruch fort. Insgesamt hat die ÖTV in den wichtigen gewerkschaftspolitischen Fragen, u. a. zum Bündnis für Arbeit, zum Systemumbau in der Rentenversicherung und zur Modernisierung des öffentlichen Dienstes Positionen beschlossen, die zwar keine direkte Kehrtwende zur Politik des alten Vorstandes beinhalten, aber wesentliche Korrekturen in Richtung einer stärker konfliktorientierten Politik mit Arbeitgebern und Bundesregierung bedeuten. Es hat insgesamt eine politische Verschiebung nach links stattgefunden: programmatisch wie auch durch eine zugleich offene und kontroverse Diskussionskultur. Wer, wie mehrfach geschehen, sowohl die Rolle der Gewerkschaften im Bündnis für Arbeit oder das teilweise unkritische Mitmachen der ÖTV bei der »Modernisierung« kommunaler Verwaltungen offen kritisiert, wurde in dieser Diskussion nicht mehr als Gegner zu stigmatisieren versucht. Dieser Kritik wurde zwar letztlich politisch nicht gefolgt, aber sie wurde als durchaus berechtigte Kritik an der Gewerkschaftspolitik der letzten Jahre akzeptiert. Wenn die ÖTV dieses gehobene Niveau an demokratischer Streitkultur halten kann, sind Voraussetzungen geschaffen, die letzten Hürden zu ver.di doch noch zu überwinden.

Michael Wendl ist Vorsitzender des ÖTV-Bezirks Bayern.

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