25. März 2014 Max Lill

Neue Gramsci-Lektüre als politischer Brückenbau?

Gramsci lesen! Diese Aufforderung fällt in der jüngeren Generation der akademischen und bewegungsorientierten Linken schon seit einigen Jahren wieder auf sehr fruchtbaren Boden – und zwar quer zu historisch-materialistischen oder kulturalistischen Prägungen.

Über die Deutung Gramscis kommen beide Entwicklungslinien der intellektuellen Kritik derzeit wieder in ein (wenn auch noch stockendes) Gespräch miteinander. Das macht die neue Lektürebewegung politisch wichtig. Ein jüngst erschienener Auswahlband,[1] der dezidiert auf diese Integrationswirkung setzt, gibt Anlass, das Phänomen etwas näher zu diskutieren.

Der Beginn des aktuellen Zyklus in der langen und heterogenen Geschichte der Gramsci-Rezeption datiert bereits vor dem tiefen Konjunktureinbruch von 2008/09. Die seither entfesselte Kaskade gesellschaftlicher Krisenprozesse hat der These von einer »gramscianischen Konstellation« allerdings wachsende Überzeugungskraft verliehen.[2] Ähnlich wie Gramsci in der Zeit zwischen den Weltkriegen sind wir demnach heute mit einer Schwellensituation konfrontiert, in der sich die historischen Formen kapitalistischer Herrschaft grundlegend wandeln. Gewachsene hegemoniale Bündnisse erodieren, das politische und zivilgesellschaftliche Feld gerät in Bewegung und muss ständig neu vermessen werden.[3]

Gramscis Vermächtnis bleibt in diesem Zusammenhang sein Insistieren auf einer wechselseitig verflochtenen Analyse von Kämpfen um Politik, Ökonomie und Kultur. Dieses Verdienst ist in der Linken heute im Prinzip breit anerkannt. Den damit formulierten Anspruch für die eigene Zeit einzulösen, bereitet allerdings nach wie vor erhebliche Schwierigkeiten. Die ausufernde und globale Geschichte der Gramsci-Rezeption, ihr Vordringen bis in den Alltagssprachgebrauch, spiegelt selbst das Problem der Verselbständigung verschiedener Diskussionsstränge, Konfliktfelder und Strategien der Linken. Die fragmentarische Form von Gramscis Hauptwerk, den unter Bedingungen der faschistischen Kerkerhaft entstandenen Gefängnisheften, hat die über weite Strecken selektive Aneignung begünstigt. Gramscis Texte sind immer wieder als »Steinbruch« beschrieben worden: Einzelne Elemente wurden her­ausgebrochen und in ganz unterschiedliche, sich nicht selten widersprechende Gebäude eingefügt.

Wie die Herausgeber_innen in Erinnerung rufen, wurde Gramsci in den 1950er und 60er Jahren häufig noch in die Tradition Lenins gestellt – nicht nur von Palmiro Togliatti, Gramscis Nachfolger an der Spitze der Kommunistischen Partei Italiens, der die ersten Manuskriptzusammenstellungen herausgab, sondern auch in Übersetzungen aus der DDR. Später, zur Zeit des Eurokommunismus der 1970er Jahre, wurde er dagegen aus der autonomen Arbeiter- und Studentenbewegung heraus als Gewährsträger des Reformismus kritisiert.[4] Inzwischen ist die Wahrnehmung ideologisch weniger polarisiert, dafür aber von akademischer Spezialisierung gezeichnet. Gramsci begegnet uns mal als Kunst- und Kulturtheoretiker, mal als Philosoph und Staatstheoretiker. Er wird uns als pädagogischer Denker oder Chronist historischer Klassenkämpfe in Italien und Frankreich vorgestellt, nur noch selten dagegen als kommunistischer Par­teistratege mit einer Faszination für Machiavelli. Gramscis Denken scheint allgegenwärtig, aber auch ungreifbar und zerstückelt: eine flexibel einsetzbare Referenz, die einen wohl dosierten »radical chic« suggeriert – und die nicht selten für einen bloß inszenierten linken Schulterschluss herhalten muss.

Angesichts dieser Beschwörung multipler Gramsci-Geister betonen die Her­ausgeber_innen des jüngst erschienen Auswahlbandes zu Recht als Hauptanliegen, den »›ganzen‹ Gramsci zu entdecken« (S. 9). Das klingt nach einer Herkulesaufgabe, meint aber kein Durcharbeiten der über zweitausend Seiten starken Gefängnishefte. Die ausgewählten Paragrafen, die einen Großteil der besonders intensiv diskutierten Abschnitte einschließen, sind themenübergreifend zusammengestellt und kapitelweise nach Problemgebieten gebündelt. Gramscis fließende, lebendig-assoziativ verknüpfte Gedankengänge, die eine auch biografisch höchst faszinierende Einheit von Theorie und Praxis spiegeln, lassen sich so deutlich leichter als bisher überblicken.

Gramsci sollte, so das Anliegen der Herausgeber_innen, dabei nicht als Klassiker gelesen werden, sondern »als Teil eines pluralen Erbes marxistischer Gesellschaftstheorie« (S. 7). Die Chancen für eine solche, auch stärker praxisbezogene »Popularisierung von Gramscis Werk jenseits akademischer Zirkel, … in Gewerkschaften, Asten, Politgruppen, NGOs oder Bildungsinitiativen« (S. 13) dürften nicht schlecht stehen: Denn Gramcsi ist derzeit eine der tragfähigsten intellektuellen Brücken bei der Wiederentdeckung historisch-materialistischen Denkens nach dem cultural turn. Gerade die Auseinandersetzung mit den oft nur noch diskursanalytischen oder mikro-politischen Lesarten Gramscis bildet hierfür einen Ausgangspunkt – so etwa in der Betrachtung des Verhältnisses von Produktions- und Lebensweise in den aktuell wieder intensivierten feministischen Diskussionen um Reproduktion, Geschlechterverhältnis und Wandel der Arbeit. Umgekehrt können die in der kulturwissenschaftlichen Linie gewonnen Erkenntnisse bei den polit-ökonomisch und arbeitssoziologisch geprägten Spektren des deutschsprachigen Marxismus (wie sie auch in Sozialismus stark vertreten sind) eine überfällige Perspektiverweiterung zugunsten alltagskultureller und symbolischer Kämpfe forcieren. Dies wäre auch aus gewerkschaftlicher Perspektive dringend erforderlich, wenn die programmatische Neuorientierung zugunsten einer stärkeren Beteiligungsorientierung und einer Rückgewinnung von eigenständiger gesellschaftspolitischer Deutungsmacht beim Wort genommen werden soll (Stichworte: organische Intellektuelle, Alltagsverstand, Spontaneität und Führung).[5]

Die jetzt veröffentlichten Einstiege in die Gefängnishefte bieten eine gute Diskussionsgrundlage für solche Öffnungsprozesse – gerade weil sie nicht eine bestimmte Lesart oder eine bestimmte inhaltliche Fokussierung stark machen. Stattdessen ist den nach Stichworten sortierten Paragrafen (die meist in voller Länge abgedruckt sind) jeweils eine didaktische »Brücke« vorangestellt, die allgemeinverständlich auf zentrale Fragen, Begriffe und Probleme hinführt – in Einzelfällen ergänzt durch Schlüsseltexte von Marx, auf die Gramsci sich bezieht. Die Herausgeber_innen greifen dabei auf eigene Erfahrungen aus Lesekreisen und politischen Bildungsveranstaltungen zurück, halten sich mit weitergehenden Interpretationen aber zurück.

Etwas schade ist, dass nur relativ wenige Erläuterungen und Hintergrundinformationen zum historischen Kontext und zu den zahlreichen (und teilweise durch Umbenennungen verschlüsselten) Akteuren, auf die Gramsci sich bezieht, geliefert werden. Die sehr dichten zeitgenössischen Betrachtungen, die ohne genauere historische Kenntnisse oft schwer zu verstehen sind, bilden aber eine entscheidende Rezeptionshürde. Dabei ist es gerade diese eher induktive Entwicklung der Gedanken aus einer Reflexion der konkreten Kämpfe heraus, die Gramsci auszeichnet und die in vielen neueren Aneignungsversuchen leider zugunsten einer starken Theoretisierung einzelner Begriffe oder kultur- und staatstheoretischer Fragen vernachlässigt wird. Für mögliche Neuauflagen des Buches wäre den Herausgeber_innen daher etwa die Ergänzung durch ein Glossar und ggf. auch biografische Informationen zu empfehlen. In jedem Fall bleibt sehr zu wünschen, dass eine solche Neuauflage schon bald nötig wird.

Max Lill lebt in Berlin und forscht zu Fragen der Arbeits- und Geschlechtersoziologie. Letzte Buchveröffentlichung 2013: »the whole wide world is watchin‘ – Musik und Jugendprotest in den 1960er Jahren«. In Sozialismus 2/2014: »Rückkehr der Künstlerkritik? Über Bob Dylan, 1968 und die lange Frist der großen Krise«, S. 52-58.

[1] Gramsci lesen. Einstiege in die Gefängnishefte. Herausgegeben von Florian Becker, Mario Candeias, Janek Niggermann, Anne Steckner, Argument Verlag Hamburg 2013.
[2] Vgl. Candeias: Gramscianische Konstellationen. Hegemonie und die Durchsetzung neuer Produktions- und Lebensweisen, in: Merkens/Diaz (Hrsg.): Mit Gramsci arbeiten. Texte zur politisch-praktischen Aneignung Gramscis, Hamburg 2007, S. 15-32.
[3] Diese Feststellung gilt unabhängig von der näheren Charakterisierung der Krisenprozesse – etwa als »organische Krise des neoliberalen Finanzmarktkapitalismus«, als »Vielfachkrise« und Kulmination von Krisen in relativ unabhängigen gesellschaftlichen Teilbereichen oder als Verdichtungsmoment in einer seit den 1960/70er Jahren sich aufbauenden »großen Krise« (vgl. Organische Krise des Finanzmarkt-Kapitalismus: Szenarien, Konflikte, konkurrierende Projekte, Thesen des Instituts für Gesellschaftsanalyse, August 2011 (www.rosalux.de, letzter Zugriff: 08.03.2014); Demirović/Dück/Becker/Bader: VielfachKrise, Hamburg 2011; Bischoff/Detje/Lieber/Müller/Siebecke: Die Große Krise, Hamburg 2010).
[4] Insbesondere Gramscis differenzierte Betrachtung des Staates gibt aus linksradikaler Perspektive mitunter auch heute noch Anlass für diesen Vorwurf (vgl. etwa die »Freundinnen und Freunden der klassenlosen Gesellschaft« in ak Nr. 580, 2013).
[5] Neu zu entdecken ist hier insbesondere die intensive Gramsci-Aneignung der (britischen) Cultural Studies seit den 1970er Jahren, die in der Tradition der Neuen Linken stand und entscheidend vom kürzlich verstorbenen Stuart Hall vorangetrieben wurde. Im Umfeld des Birminghamer Center for Contemporary Cultural Studies (CCCS) war dies auch als politisch-pädagogisches Projekt auf gesellschaftliche Breitenwirksamkeit hin angelegt (vgl. Merkens in Sozialismus 3/2014 und als gelungene Einleitung Marchart: Cultural Studies, Konstanz 2008).

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