1. April 2008 Elisabeth Gauthier

Neue linke Dynamik?

Ein wichtiges Merkmal der Gemeinderats-[1] und Kantonalwahlen[2] in Frankreich war der erneut starke Anstieg der Stimmenthaltung[3] – ganz im Gegensatz zum Referendum 2005 und zur Präsidentschaftswahl 2007.[4] 54% der NichtwählerInnen sind Arbeiter und Angestellte, 39% höhere Angestellte, freie Berufe oder Mittelschichten und 7% Handwerker, Händler oder Unternehmenschefs. 32% hatten bei den Präsidentschaftswahlen im letzten Jahr Sarkozy gewählt und 9% Royal.[5]

Die Stimmenverweigerung kommt massiv aus den "milieux populaires", die 2007 Sarkozy gewählt hatten, ohne unbedingt traditionelle Rechtswähler zu sein. Bei den Hausbesuchen im Wahlkampf fiel besonders die Enttäuschung bzw. Entrüstung der schlecht gestellten RentnerInnen (sie hatten weit überwiegend Sarkozy gewählt) und bei ArbeiterInnen und Angestellten (viele hatten in erster Linie eine Verbesserung der Kaufkraft erwartet) auf. Am Vorabend des zweiten Wahlganges wünschten sich in einer Umfrage[6] 62% der Befragten einen Politikwechsel der Regierung nach den Gemeinderatswahlen.

Die schlechte Bilanz der Regierenden ist eindeutig, und das bereits neun Monate nach ihrem Amtsantritt. Sie verlieren 38 Städte mit mehr als 30.000 EinwohnerInnen, was die Diskussion innerhalb Sarkozys "Union pour un mouvement populaire" (UMP) deutlich anheizt. 60% der Départements werden jetzt von der Linken verwaltet, vor den Wahlen war das Kräfteverhältnis 50:50. Zwei Departments werden von der PCF präsidiert. Insgesamt erzielte die Linke im zweiten Wahlgang 51,3% der Stimmen, gegenüber 44,5% der UMP und 3% des MODEM. Einige Stimmen insbesondere unterlegener Bürgermeister der UMP empfahlen bereits, "auf die Wähler zu hören" und die "Kaufkraftfrage" zur Regierungs-Priorität zu erklären. Sarkozy ließ sich bisher allerdings nur zu kosmetischen Korrekturen bewegen.

Die neue Partei MODEM erreichte ihr Wahlziel nicht, sich lokal als gewichtige Kraft zu installieren, und Bayrou gelang es nicht einmal, Bürgermeister seiner Stadt Pau zu werden. Das auf den Modus der Präsidentschaftswahl und Bayrous Ambitionen zugeschnittene Experiment scheint auf längere Sicht zum Scheitern verurteilt zu sein.

Der Front National (FN) zeigt sich deutlich geschwächt, wobei aber nicht übersehen werden darf, dass mehrfach Persönlichkeiten der extremen Rechten sowie FN-Themen (insbesondere Sicherheit, Immigration) von UMP-KandidatInnen in ihre eigenen Kampagnen integriert wurden.

Hauptnutznießer der beiden Wahlen ist die Sozialistische Partei (SP). Sie gewinnt 55 Städte mit mehr als 20.000 EinwohnerInnen, 169 Kantone und im Durchschnitt 4,3% bei den Kantonalwahlen.

Ganz besonders auf der Seite der Linken – wozu man in Frankreich die Sozialdemokratie und die davon links stehenden Kräfte zählt – muss die Analyse sehr detailliert ausfallen. In einer Vielfalt von Konfigurationen haben die Bündnisse und Sammelbewegungen sehr unterschiedliche Konturen. Ihre Aussagen spiegeln die Umbruchsprozesse in der Linken wider, die keineswegs abgeschlossen sind und bei den Kommunalwahlen in ihrer Widersprüchlichkeit eindrucksvoll sichtbar wurden.

Die traditionelle Linksunion bleibt weiterhin die dominante Form und erzielte oft gute Ergebnisse, wobei die einzelnen Stadt-Projekte z.T. inhaltlich und methodisch sehr unterschiedlich konzipiert waren. In dieser Konfiguration befinden sich PCF und Grüne meist in für sie ungünstiger gewordenen Kräfteverhältnissen, was sich in der Anzahl ihrer Mandatare äußert, aber auch im Charakter der Konstruktionen, die insgesamt relativ wenig auf die Einbeziehung der Zivilgesellschaft abzielen. Bündnisse der PS mit dem MODEM im ersten bzw. zweiten Wahlgang konnten in manchen, aber nicht allen Fällen durch Druck von links verhindert werden. Die Diskussion geht weiter um die Frage, ob die von der PS links stehenden Kräfte sich im Falle einer Beteiligung des MODEM in der Exekutive zurückziehen müssen, oder im Gegenteil mitzuwirken haben, um den Drift nach rechts zu bremsen.

Wenn sich die PCF auch in den von ihr regierten Gemeinden insgesamt gut hält und an Mandaten drittstärkste Partei bleibt,[7] so kommen doch die Neugewinne der Linken fast durchgehend der PS zugute. In einzelnen Fällen hielten sozialistische Kandidaten auch im zweiten Wahlgang ihre Kandidatur gegen kommunistische Bürgermeister, die im ersten Wahlgang die meisten Stimmen bekommen hatten, aufrecht und konnten diese schließlich mit Hilfe eines Teils rechter Stimmen im zweiten Durchgang aushebeln. Die ehemalige Vorsitzende der Grünen, Dominique Voynet, gewann auf diese Weise Montreuil. Die oftmals heftige primär antikommunistische Propaganda hatte allerdings im Allgemeinen dort wenig Wirkung, wo die Praxis der Betroffenen in den letzten Jahren diese unglaubwürdig gemacht hatte. Unbewegliche, für neue Anforderungen der Demokratie unsensible Haltungen kommunistisch geführter Städte wurden allerdings bereits früher und auch bei diesen Wahlen sanktioniert.

Gleichzeitig bildeten sich vielerorts neue Formen von linken Bündnissen heraus. Anlass dazu waren oftmals die Rechtsentwicklung der Bürgermeister-Kandidaten der SP oder auch ungerechtfertigte Hegemonieansprüche der SP gegenüber ihren Partnern. Neuartige linke Listen, häufig mit zahlreicher Beteiligung nicht organisierter engagierter BürgerInnen, kamen in solchen Fällen oft zustande.

Die PCF führt vielfach die "union de la gauche" unter für sie ungünstiger gewordenen Bedingungen fort, ist aber auch in einer nicht unbedeutenden Zahl von Orten in neuen Experimenten engagiert, wo versucht wird, aus unterschiedlichen Komponenten der alternativen Linken, inklusive kritischer Sozialisten und engagierter BürgerInnen neue Formen von Bündnissen mit links orientierten Inhalten zu formieren. Derartige Initiativen erzeugten häufig interessante Mobilisierungseffekte. Es handelt sich dabei nicht nur um vereinzelte Erscheinungen, aber von einer Verallgemeinerung kann gleichwohl nicht gesprochen werden.

Mancherorts entstanden "alternative", "antiliberale", "radikale" Listen in Absetzung zur SP, von denen einige lokal gute Ergebnisse erzielten. Die Ligue communiste révolutionnaire (LCR) hat zumeist ihre Praxis der Präsidentschaftswahlen fortgesetzt, und gestärkt durch die guten medialen Werte für Besancenot im Vergleich zu 2001 die Anzahl eigener Listen in großen Städten verdoppelt. Lutte ouvrière (LO mit Arlette Laguiller) nahm diesmal an einer großen Zahl von PCF, aber auch PS geführten Listen in konstruktiver Weise teil.

Veränderte politische Landschaft

Die Vielfalt der politischen Konstellationen bei den Gemeinderatswahlen beleuchten die diversen linken und rechten Umstrukturierungsprozesse. Sarkozy nannte als Ziel, 1.000 von der Linken kommende Persönlichkeiten auf die UMP-Gemeinderatslisten zu setzen. Die Ergebnisse waren nicht spektakulär. Die vom MODEM gleichzeitig und je nach Lokalität geschlossenen Bündnisse mit der UMP oder mit der SP betrachten 60% der WählerInnen als rein opportunistisch. Insgesamt fiel die Zahl der Rechts-Links-Brückenschläge geringer aus als angekündigt.

Nicht übersehen werden sollte die innerhalb der Rechten stattfindende Umstrukturierung. Im Saldo muss die Rechte den Verlust von 164 Kantonen hinnehmen. Dabei verliert die Rechte außerhalb der UMP 326 Kantone, während die UMP 162 gewinnt. Die Konzentrationsbewegung innerhalb der Rechten in Richtung der Sarkozy-UMP schreitet also zügig voran.

Auf dem Feld der "Linken" existiert zwar auch weiterhin vielfach die Form der ehemaligen "union de la gauche", wie die Anzahl gemeinsamer Listen PS-PCF-Grüne zeigt, aber dies vielfach unter großer Spannung und begleitet von heftigen Auseinandersetzungen mit der hegemoniesüchtigen PS.

Eine zentrale Frage ist die Beurteilung dieser Grundtendenzen. Geht es um die Verstärkung der Bipolarisierung zwischen einer liberal-reaktionären Rechten und einer sozial-liberalen Sozialdemokratie? Ist das ein neuer Schritt in Richtung der Herausbildung eines Zweiparteiensystems? Oder ist die Persistenz des Links-Rechts-Gefälles bzw. seine Reaktivierung der entscheidende Punkt?

Die Frage und ihre Beantwortung müssen allerdings komplexer ausfallen. Tatsächlich stellen die beiden großen Parteien UMP und PS 60% der Kantonalräte. Die Konzentrationsbewegung zu Gunsten der beiden Hauptparteien wird vielfach als Fortschritt des Zweiparteiensystems interpretiert. So erscheinen die Ergebnisse der Kommunal- und Kantonalwahlen als eine Verstärkung der Bipolarisierung, der Tendenz zum Zweiparteiensystem.

Gleichzeitig haben, wenn auch nur in beschränktem Umfang, Grenzüberschreitungen zwischen Links und Rechts stattgefunden. Oftmals ist es aber auch klar links orientierten Kräften innerhalb der Linken gelungen, das Links-Rechts-Gefälle sichtbar und zu einem Mobilisierungsfaktor zu machen.

Links ist die Landschaft stark aufgesplittert. Hegemonieanspruch und politische Orientierung der PS werden von unterschiedlichen, mehr oder minder einflussreichen Kräften bestritten. Der Anteil der Franzosen und der PS-Sympathisanten, die eine Allianz PS-MODEM wünschen, ging in den letzten drei Monaten allerdings deutlich zurück.[8]

Eine weitere Ebene der Analyse muss erschlossen werden. Es geht darum zu beurteilen, wie auf lokaler Ebene mit der Zersplitterung der Gesellschaft bzw. der Städte umgegangen wurde. Eine umfassende Studie wäre von großem Interesse. Gute Ergebnisse erzielten linke innovative KandidatInnen, denen mit ihren pluralistischen Listen demokratische, konstruktive und solidarische Mobilisierungen gelangen und die sich gleichzeitig als kompetente Bürgermeister-KandidatInnen präsentieren konnten. Von Interesse sind die Versuche, das paternalistische Verhältnis zu den BewohnerInnen der "banlieues" zu überwinden, und auf der Basis einer verstärkt klassenorientierten Haltung eine neue Solidarität zwischen BewohnerInnen der "cités populaires" und kritisch eingestellten mittleren Schichten unter Einbeziehung der jüngeren Generation herzustellen. Gleichzeitig zeigte sich bei den Gemeinderatswahlen auch wieder, dass Armut, Prekarität und soziale Unsicherheit keineswegs "automatisch" in linke Wahlentscheidungen münden, sondern mancherorts von weit rechts eingestellten und klientelistisch handelnden BürgermeisterInnen oder vereinzelt auch von kommunitären Listen instrumentalisiert werden konnten.

Zusammenfassend kann gesagt werden, dass die in Gang gesetzte generelle Rekomposition der politischen Landschaft noch nicht sehr weit ausgereift ist, was bei den Gemeinderatswahlen ein äußerst widersprüchliches Bild erzeugt hat.

Perspektiven

Die Diskussionen um die künftige politische Linie wird sich jetzt auf der Linken voll entfalten. Immer mehr spitzt sich für die konsequenten linken Kräfte die Frage darauf zu, ob es möglich wird, autonom eine linke Dynamik zu entwickeln, was nicht den Verzicht auf Bündnisse mit der Sozialdemokratie bedeutet, aber die eigene Aktion diesen nicht unterordnet.

Gleichzeitig tobt innerhalb der Linken die Auseinandersetzung um die politischen Linien. Die vielfältigen Bestrebungen innerhalb der Sozialdemokratie aufs (rechte) Zentrum zu orientieren, stoßen auch intern auf große Widersprüche. Bei den Kommunalwahlen haben sich traditionelle PS-WählerInnen dort, wo dazu die Möglichkeit bestand, oftmals offenen und prononcierten Linksprojekten angenähert. Auch im Parlament und im Senat war im Februar die Zahl der PS-Mandatare, die sich im Gegensatz zur offiziellen Linie für die demokratische Forderung eines neuerlichen Referendums über den EU-Vertrag aussprachen, höher als erwartet. Die Einbußen der Rechten können also nicht nur vereinfacht als Erfolge der PS und deren sozialliberal orientierten VertreterInnen gewertet werden.

Die LCR wird vermutlich weiterhin allein auf die Bildung einer "antikapitalistischen Partei" abzielen. Wie weit LO seine neue Orientierung auf breite linke Bündnisse fortführen wird, ist noch unbestimmt. Beim Parteitag der PCF im Spätherbst wird wohl die zentrale Frage sein, ob es zum Hauptziel wird, linksorientierte kritische Kräfte zu sammeln zu Gunsten eines alternativen solidarischen Projekts. Auch wird entscheidend sein, auf welche Weise in den Alltagsauseinandersetzungen die Kräfte der PCF dafür aktiviert werden können, und was dies für die Struktur der Partei bedeuten würde. Der politische Sinn der Präsenz von mehr als 13.000 PCF-Mandataren in den Institutionen wird verstärkt diskutiert, wobei eine kohärente Zusammenschau der Beteiligung in den Institutionen und einer konsequenten gesellschaftsverändernden Strategie noch aussteht. Ungelöst ist auch die Frage, wie man Teil der Linken sein, und gleichzeitig die Kapazität erwerben kann, unter den heutigen Bedingungen eine linke Dynamik unabhängig von der Sozialdemokratie zu gestalten. Innerhalb der PCF ist allerdings auch eine resignierende Haltung – besteht die "Zukunft" als Anhängsel der PS oder in einer zunehmend egozentrischen Isolierung? – nicht völlig auszuschließen. Auch ein neuerlicher "Kompromiss", der das notwendige innovative Handeln blockiert, wäre kontraproduktiv.

Nächste Etappe werden die Europawahlen 2009 sein, für die die Weichen bald gestellt werden müssen. Die Frage der Rekonstruktion einer transformatorischen Linken wird also in Kürze wieder auf dem Tisch liegen.

Turbulenzen auf Regierungsseite

Offensichtlich hat Sarkozy die seit Monaten zu hörenden Warnungen nicht ernst genommen. Das Umgehen der "Frage der Kaufkraft", die er mit der "Arbeit" und der "Leistung" artikulierte, beschädigt Sarkozys politisches Image, stellt Stéphane Rozès fest.[9] Allerdings bleiben die Werte für Premierminister Fillon hoch, was anzeigt, dass es auf der politischen Bühne noch keine linke Alternative gibt.

Die Turbulenzen sind heftig und dürften sich mit der Herausbildung einer globalen Krise der Finanzmärkte und Banken zuspitzen. Tatsächlich könnte es nur eine grundlegend andere Logik in der Wirtschafts- und Sozialpolitik ermöglichen, in der zentralen Frage der "Kaufkraft", d.h. der Löhne, vorwärtstreibende Antworten zu geben. Die derzeit rasch voranschreitende Demontage des Arbeitsrechtes, der 35-Stunden-Woche, der solidarischen sozialen Sicherheitssysteme, der Öffentlichen Dienste und Strukturen verschlimmern die Situation, und die Formel "Mehr arbeiten und mehr verdienen" geht – das wird jetzt allen klar – nicht auf.

Sarkozy und seine Regierung bereiten eine zweite "Reformwelle" vor,[10] allerdings unter für sie ungünstigeren Bedingungen als Mitte 2007. Dies einerseits wegen des mangelnden politischen Spielraums in der Krisensituation, anderseits wegen der massiven Desillusionierung[11] und auch z.T. neuer Potestbewegungen. "Nicolas Sarkozy – Président du pouvoir d’achat des milliardaires" (Präsident für die Kaufkraft der Milliardäre) – dieses Motto eines für eine Demonstration selbstgefertigten Transparents[12] drückt treffend die sich ausbreitende Stimmung aus.

Immer weiter geht es um "Individualisierung" der gesellschaftlichen Beziehungen: individuelles Eigentum, persönlicher Erfolg, selbstverantwortete Sicherheit, individueller Lohn etc. Konkret bedeutet dies z.B. Kostenabwälzung der Gesundheitsausgaben auf die PatientInnen (Selbstbehalt bis zu 50 Euro pro Jahr), womit PatientInnen für PatientInnen zahlen und nicht Gesunde für Kranke, und erste Schritte zur "flexicurité à la française" im Rahmen der schrittweisen Auflösung des Arbeitsrechtes und des als zu stark "schützend" bezeichneten französischen Sozialmodells. Allerdings konnte wegen der Widerstände nicht so weit dereguliert werden wie von Sarkozy gewünscht. Die Gewerkschaften befinden sich trotz der Widerstandsbewegungen in einer komplizierten Lage. Einerseits ist es schwierig für sie, all die einzelnen Aspekte der "Reformwellen" aufzugreifen. Andererseits werden sie gleichzeitig vom Unternehmerverband Medef und der Regierung unter Druck gesetzt: Entweder soll es ein rasches Abkommen der Sozialpartner geben oder kurzfristig ein noch schärferes Gesetz. Und neue harte politische Auseinandersetzungen stehen rund um die Pensionsreform, die "Sozial-Mehrwertsteuer", ins Haus.

Im Zentrum der Widerstände stehen Löhne sowie Arbeits- und Lebensbedingungen der Beschäftigten, und diese Konflikte kommen jetzt verstärkt im privaten Sektor zum Ausbruch. Der spektakuläre Erfolg des Streiks der Handelsangestellten (besonders der caissières), der 80% der Geschäfte von Carrefour, Lidl, Auchan, Champion und Intermarché betraf, zeigt eine neue Realität. Eine derart massive Bewegung im privaten und in einem stark aufgesplitterten Sektor, wo kollektive Aktionen bisher nur sehr schwer zustande kamen, ist ein deutlicher Indikator für das rasche Ansteigen der Enttäuschung. Bei diesen sozialen Kategorien, in denen vielfach sinkende Löhne und Unterbeschäftigung die Beschäftigten immer mehr unter Druck setzten, hatte Sarkozys "Mehr arbeiten und mehr verdienen" wohl gewisse Hoffnungen erzeugt. So demonstrierten z.B. unter Beifall der Kunden 350 Angestellte spontan in einer Kaufhalle in Portet-sur-Garonne mit den Rufen "Sarkozy, arrête ta comédie!" ("Sarkozy, hör mit deiner Komödie auf!") – was allerdings keineswegs automatisch eine Hinwendung zur Linken bedeutet.

Probleme entstehen auch mit der Individualisierung in den Betrieben. Betriebsleitungen sehen sich dazu veranlasst, äußerst vorsichtig mit dem "salaire au mérite" (Lohn nach Leistung) umzugehen, da dies großen Konfliktstoff und eine rapide Verschlechterung der Stimmung in den Belegschaften und damit deren Effizienz erzeuge.[13] Bei steigender Inflation, die laut INSEE insbesondere Treibstoff, Heiz- und Wohnkosten sowie Nahrungsmittel betrifft, werden das Ableisten von Überstunden und die Inkauf­nahme von Arbeitszeitverkürzungen ohne Lohnausgleich als einzige Antwort immer weniger akzeptiert.

Was den öffentlichen Sektor betrifft, wird dieser von 70% der Franzosen hoch geschätzt, wobei sie sich allerdings darüber beklagen, insbesondere in ländlichen Gebieten oder Vorstädten, zu wenig und ungleichen Zugang dazu zu haben.[14] Insofern stößt auch der Stellenabbau insbesondere im Erziehungswesen auf heftigen Widerstand.

Als weitere Konfliktfelder erweisen sich die Ausweisungspolitik, die Wohnungsfrage, der "Bericht Attali" und dessen Konsequenzen, die geplanten Verfassungsänderungen, die Justizreform, die Europapolitik, die Grundfreiheiten, das Verhältnis von Staat und Kirchen, die Bildungsinhalte, die Zerstörung der öffentlichen Medien und der Kulturförderung, die Außenpolitik und natürlich der Umgang mit der Finanz- und Bankenkrise.

Die von Sarkozy vertretene Vision der Gesellschaft ist mehrfach angeknackst. Der Schiffbruch der Eigenheimbesitzer untergräbt die Vorstellung der Eigentümergesellschaft. Die propagierte "méritocratie" erweist sich als Bumerang. Die Individualisierung der sozialen Beziehungen stellt sich immer mehr als soziale Regression für den Einzelnen und schließlich für (fast) alle Betroffenen heraus.

Die politische, soziale und ideologische Situation ist instabil. Die letzte Präsidentschaftswahl zeigt eklatant, dass Enttäuschung nicht automatisch zum Wechsel (alternance) nach links führt, sondern dass auch der rechte Vorschlag eines Bruchs (rupture) funktionieren kann. Auch wenn die Ergebnisse der Gemeinderatswahlen eine Sanktion für die UMP darstellen,[15] und eine gute Ausgangsbasis für die Gesamtheit der linken Parteien sind, bleibt doch zu befürchten, dass sie einmal mehr als "beruhigend" interpretiert und damit die entscheidenden unmittelbaren und Zukunftsfragen in den Hintergrund gedrängt werden.

Elisabeth Gauthier ist Direktorin von Espaces Marx, Paris, und Mit-Gründerin des europäischen Netzwerks "Transform!"
[1] Diese Wahlen betrafen die Gesamtheit der 36.000 Gemeinden.
[2] Jedes Departement ist in Kantone aufgeteilt, deren gewählte Vertreter einen "conseil général" in jedem Departement bilden. Bei dieser Wahl wurde die Hälfte der Kantonal-Abgeordneten neu gewählt.
[3] Mit 33,46% Stimmenthaltung am 9. März ist dies der höchste Wert bei einer Gemeinderatswahl seit 1959.
[4] 84% Beteiligung bei der Präsidentschaftswahl
[5] Umfrage CSA-Dexia vom 9. März 2008
[6] BVA – Orange – L’Express, 12./13. März. Die Meinung der Franzosen am Vorabend des 2. Wahlganges.
[7] Städte mit mehr als 3.500 EinwohnerInnen: PCF-Bürgermeister: 183 (2001) – 176 (2008). Kantonalwahlen: insgesamt Verlust von 10 conseillers généraux, 9,8% (2001) – 9% (2008). Verlust des Vorsitzes des Conseil Général de Seine St.Denis (Pariser Raum), Gewinn des Vorsitzes des Conseiller Général de l’Allier (Zentralfrankreich).
[8] Gegen eine Allianz: 55% im März 2008 / 44% im Dezember 2007. PS-Sympathisanten: für eine Allianz 58% im Dezember 2007, 51% im März 2008. MODEM Sympathisanten: 54% Dezember, 46% März. Quelle: BVA – Orange – L’Express, 12./13. März. Die Meinung der Franzosen am Vorabend des 2. Wahlganges.
[9] Stéphane Rozès, Humanité 8.3.2008
[10] Siehe zum Stand der Entwicklung in Frank­reich bis Oktober/November 2007: Joachim Bischoff/Elisabeth Gauthier, Sarkozy und die Hegemonie des Neoliberalismus, Supplement der zeitschrift Sozialismus 12/2007
[11] 58% der Franzosen beurteilen Sarkozys Wirtschaftspolitik inzwischen negativ und 39% halten sie positiv. (Jérôme Sainte-Marie, BVA, zitiert in Le Monde 25/1/2008)


[12 Foto Le Monde 24/1, "Nicolas Sarkozy – Präsident der Kaufkraft für Milliardäre"
[13] Laut Studie von SRM Consulting, auf Grund von Hearings in Großbetrieben, La Tribune 24.1.2008
[14] IFOP Umfrage, November 2007, La Croix 24.1.2008
[15] Auch die Regionalwahlen 2004 waren eine deutliche Sanktion für Chirac, was aber 2007 keinen Erfolg der Linken brachte.

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