1. Mai 2008 Redaktion Sozialismus

Neue Wege für Hamburg?

Die Parteiführungen von CDU und Grünen haben in Hamburg die erste schwarz-grüne Landesregierung verabredet. Der Bundesvorstand der Grünen begrüßt den Übergang in eine "neue (parteipolitische) Beweglichkeit". Aus den Unionsparteien gibt es vergleichbar positive Bewertungen, aber auch den Versuch, das Hamburger Experiment schroff zur regionalpolitischen Besonderheit zu erklären.

Keine Frage: Die neue Koalition ist zunächst auch ein Testfall. Erst nach ersten Erfahrungen mit der effektiven Regierungspraxis werden die Beteiligten entscheiden, ob die neue Konstellation ein "Modell" für andere Bundesländer oder die Bundesebene nach den Wahlen 2009 ist.

Richtig ist aber auch: Diese vordergründig überraschende Parteienkonstellation hat eine Vorgeschichte. In Hamburg wird auf Landesebene damit umgesetzt, was in den Hamburger Bezirken Altona und Harburg schon seit vier Jahren reibungslose Praxis ist: eine schwarz-grüne Ehe. Auch in vielen anderen (vor allem westdeutschen) Kommunen gibt es entsprechende Vorbilder.

Richtig ist weiterhin: Die Hamburger schwarz-grüne Koalition ordnet sich in einen Umbruch der bundesdeutschen Parteienlandschaft ein, der im Übrigen in anderen Kostümen auch in vielen europäischen Nachbarstaaten festzustellen ist. Der Souverän der Politik, das Wahlvolk, erzwingt Veränderungen. Ein großer Teil der StimmbürgerInnen hat sich von der politischen Willensbildung verabschiedet. Bei denen, die ihre Staatsbürgerrechte noch aktiv wahrnehmen, erhalten die bürgerlichen Parteien deutlich geringeren Rückhalt, sodass selbst in deren Vorständen von einer Tendenz zur strukturellen Hegemonieunfähigkeit ausgegangen wird. Von diesem Vertrauensverlust sind auch die sozialdemokratischen Parteien in Deutschland und Europa betroffen, die bei den Wahlen deutlich unter die 40- oder 30-Prozentmarke gedrückt worden sind. Auch sie haben ihre Führungs- und Regierungsfähigkeit eingebüßt.

Stellt nun Schwarz-Grün ein Zukunftsmodell für die vom Neoliberalismus beschädigte kapitalistische Metropole BRD dar oder sind wir mit einem politischen Laboratorium konfrontiert, das uns – wie schon in Italien, Frankreich, Belgien oder den Niederlanden – die Alternative zwischen Regierungsunfähigkeit oder autoritär-charismatischen Regimen a la Berlusconi oder Sarkozy eröffnet?

Die schwarz-grünen Akteure in Hamburg behaupten, die Region sei bei der neuen Konstellation in guten Händen. Trotz unterschiedlicher Ausgangspunkte würden "neue Wege" beschritten und das Regierungsbündnis verfolge das Ziel, die ökologisch-soziale Zerklüftung der hanseatischen Gesellschaft zu überwinden. "CDU und GAL sind durch unterschiedliche politische Erfahrungen und Ideen geprägt. Wenn sie dennoch zusammenarbeiten, müssen und wollen sie sich auf Neues einlassen." Gleichwohl wird hier die These vertreten: Der Koalitionsvertrag enthält wenig Neues und ist nicht ansatzweise ein Kompass für einen Politikwechsel. Im Gegenteil: Neoliberale Politik – gleich in welcher Version – hat eine massive soziale Spaltung produziert und mit einer moderaten ökologischen Modernisierung wird weder die negative Entwicklung bei der Naturzerstörung noch die massive Beschädigung von gesellschaftlicher Arbeit und sozialer Sicherheit gestoppt.

Dank Schwarz-Grün wird es bei den gravierendsten Fehlentwicklungen in Sachen Armut und sozialer Ausgrenzung kleine Verbesserungen geben, der CDU-Politik der Verschärfung der sozialen Spaltung werden gleichsam die skandalösesten Spitzen abgebrochen.

So soll es ein Sozialticket geben. Im Kitabereich will man das letzte Jahr gebührenfrei machen. Geplant ist, vor allem Migrantenkindern zusätzlichen Förderbedarf zu gewähren. Mit Härtefallregelungen soll auf Kinderarmut, Büchergeld etc. reagiert werden. Von einer Politik, die aktiv die soziale Spaltung angeht, sind diese Maßnahmen weit entfernt.

Zu einer solchen Politik wären u.a. ein kostenloses Mittagsessen für alle Kinder in den Kitas, die Wiedereinführung der Lernmittelfreiheit und der Fahrtkostenzuschüsse für SchülerInnen sowie ein Sozialticket für 15 Euro erforderlich – alles Maßnahmen, die durch kleinere Umschichtungen im Haushalt finanziert werden könnten. Die Politik der moderaten Korrektur der sozialen Spaltung verspricht den besonders benachteiligten Stadtteilen eine Aufstockung ihrer Ressourcen zur besseren Verwaltung der Armut. Bei grundsätzlicher Fortführung der Niedriglohnpolitik des alten CDU-Senats will Schwarz-Grün zukünftig Mittel der Arbeitsmarktpolitik für die Förderung von Quartiersarbeit in sozial benachteiligten Stadtteilen verwenden. Durch Quartiersarbeit will man in benachteiligten Stadteilen die soziale und kulturelle Infrastruktur verbessern, die lokale Ökonomie stärken und die Integration von Langzeitarbeitslosen in den ersten Arbeitsmarkt verbessern. Die in Aussicht gestellte Verbesserung der Lage in den betroffenen Stadtteilen ändert an der Grundtendenz der sozialen Polarisierung wenig. Wollte man sie umkehren, müssten u.a. die Ein-Euro-Jobs durch sozialversicherungspflichtige Beschäftigungsverhältnisse ersetzt, öffentliche Beschäftigung mit tarifvertraglich geregelten Einkommens- und Arbeitsbedingungen ausgedehnt und Mittel der Arbeitsmarktpolitik verstärkt für Qualifizierungsmaßnahmen verwendet werden. Zur Verbesserung der Situation in den sozialen Brennpunkten der Stadt bedürfte es zudem deutlich mehr Investitionen in die soziale und kulturelle Infrastruktur. Von alledem ist Schwarz-Grün weit entfernt.

Bildung

Dass Schwarz-Grün im Kitabereich einen Rechtsanspruch auf Kinderbetreuung für Kinder ab zwei Jahre und ein kostenloses vorschulisches Jahr einführen will, ist zu begrüßen. Auch die für den Schulbereich geplante grundlegende Strukturreform mit Primarschule (sieben Jahre gemeinsames Lernen – von der Vorschule bis Klasse sechs), Gymnasium und Stadteilschule kann unter bestimmten Voraussetzungen eine Verbesserung gerade für die sozial benachteilig­ten SchülerInnen bringen. Ob die für die Primarschulen geplante Senkung der Klassenfrequenzen auf 25 (in sozialen Brennpunkten auf 20) ausreicht, um die Lernbedingungen und die Qualität des Unterrichts für alle SchülerInnen zu verbessern, ist umstritten.

Ganz grundsätzlich ist Schwarz-Grün allerdings mit der verabredeten Strukturreform auf halber Strecke in Richtung "Eine Schule für alle" stehengeblieben. Dass gemeinsame Lernen endet mit Klasse sechs und danach geht es gegliedert und sortiert weiter. Die Reform kann nur dann einen ersten Schritt in Richtung "Eine Schule für alle" bedeuten, wenn bestimmte Rahmenbedingungen geschaffen werden. Dazu gehören eine deutlich bessere finanzielle und materielle Ausstattung der Schulen und entschiedene Maßnahmen zur Verbesserung der Qualität des Unterrichts (kleinere Klassen, mehr Personal für die individuelle Förderung etc.). Passiert dies nicht, kommt es zu einer erneuten Privilegierung der Gymnasien, gegen die sich bisher auch die GAL ausgesprochen hat. Es droht dann eine massive Verstärkung der sozialen Spaltung (und zwar ab Klasse 0=Vorschule), wie sie in den von der Koalition vorgesehenen drei Formen der Primarschule angelegt ist.

Privatisierung

CDU und GAL wollen in der kommenden Legislaturperiode auf weitere Privatisierungen (etwa von SAGA/GWG oder UKE) verzichten. Gleichzeitig setzt Schwarz-Grün in verschiedenen Politikfeldern auf Public Private Partnership-Modelle, so etwa bei der Beseitigung des Sanierungsstaus beim Schulbau oder bei der "Erhöhung des Anteils preisgünstiger und familienfreundlicher Wohnungen in der Hafencity." Die grüne Spitzenpolitikerin Hajduk nennt dies "intelligente Privatisierung". Die grüne Version des Neoliberalismus: "Eine intelligente Privatisierung kann Freiräume schaffen, von denen die Kunden und der Wettbewerb gleichermaßen profitieren." Auch diese Maßnahmen bereichern allerdings nur die privaten Investoren und verschieben die Finanzierungsprobleme der Stadt in die Zukunft. Von der vollmundig von den Grünen angekündigten Perspektive einer Kontrolle der Energiekonzerne ist wenig übrig geblieben. Faktisch wird durch den Koalitionsvertrag bestätigt, dass die CDU durch die Politik für ein neues Kohlekraftwerk und die Vergabe der Wegerechte für Gasleitungen etc. den Handlungsspielraum der Politik auf Jahre massiv beschnitten hat.

Vom Gewicht her dominieren im Koalitionsvertrag Maßnahmen der ökologischen Modernisierung. Das reicht vom Ausbau der Fahrradwege über Maßnahmen zum Schutz von Elbe und Klima bis hin zum Bau einer Stadtbahn. Vieles von dem, was hier beabsichtigt ist, ist sinnvoll und gut, steht allerdings – wie so vieles im Koalitionsvertrag – unter Finanzierungsvorbehalt. Denn grundsätzlich will Schwarz-Grün an der Politik der "Haushaltskonsolidierung" festhalten: "Die Koalitionspartner sind sich einig, dass im Sinne einer nachhaltigen Finanzpolitik grundsätzlich nur ausgeglichene Haushalte ohne Neuverschuldung aufgestellt werden sollen. Wenn (...) als ultima ratio Kreditaufnahmen nötig sind, wird eine intelligente Schuldenbremsenregelung vereinbart, um sicherzustellen, dass es nicht zu unkonditionierter Verschuldung kommt."

Auf die "intelligente Schuldenbremsenregelung" wird Schwarz-Grün sehr schnell zurückkommen müssen. Die Koalitionsabsprachen wurden getroffen ohne Kassensturz, ohne eine Konzept für Haushaltsumschichtungen und – vor allem – ohne Vorschläge für eine Verbesserung der Einnahmen des Hamburger Haushalts. In Mio. Euro ausgedrückt geht es bei der in Aussicht gestellten "Reformpolitik" (zusätzlich zu den bisher von der CDU verfolgten Haushaltsansätzen) um folgende Größenordnungen:

Gebührenfreies Vorschuljahr: 15 Mio.
Einnahmenausgleich für Studiengebühren an Hochschulen: 37 Mio.
Rechtsanspruch auf Kita-Betreuung ab zwei Jahren: 3 Mio.
Armutsbekämpfungsprogramm: 15 Mio.
Soziales Stadtteilentwicklungsprogramm: 10 Mio.
Stiftung zur Verbesserung des ökologischen Zustands der Elbe: 10 Mio.
Verkehrsprojekte: 500 Mio.
Umstrukturierung der Schullandschaft: 300-500 Mio.

Angesichts des bevorstehenden ökonomischen Abschwungs und einer ungeklärten Kassenlage droht eine schnelle Rückkehr zu der vom CDU-Senat bekannten Politik: "Haushaltskonsolidierung" zu Lasten der armen und sozial ausgegrenzten Menschen. Über die Verbindlichkeit von Volksentscheiden will der neue Senat mit der "Volksinitiative für faire und verbindliche Volksentscheide" sowie den Fraktionen der Bürgerschaft verhandeln, um zu einvernehmlichen Lösungen zu kommen. Mit den Vorhaben aus dem neuen Koalitionsvertrag werden zudem die schlimmsten Auswüchse der Innen- und Justizpolitik des alten CDU-Senats beseitigt. Dies betrifft u.a. den Umgang mit Flüchtlingen. Im Strafvollzug werden Jugend- und Erwachsenstrafrecht wieder getrennt und Resozialisierung wieder stärker in den Vordergrund gerückt. In einigen Bereichen soll mehr Transparenz und demokratische Mitwirkung geschaffen werden. Die schwarz-grüne Grundkonzeption – bescheidene Armutsbekämpfung, Einstieg in die Überwindung des Bildungsnotstandes und ökologische Modernisierung – stößt auf Skepsis oder gar heftige Kritik in Teilen des bürgerlichen Lagers. Von Beust und Co. wird Verrat des bürgerlichen Neoliberalismus an die Grünen vorgeworfen. Logischerweise können sich vor allem die Wirtschaftsverbände der Union und die bayerische CSU mit diesem zögerlichen Versuch der Versöhnung von Ökologie und Wirtschaft nicht anfreunden. Deutliche Zustimmung am schwarz-grünen Bündnis in Hamburg kommt dagegen aus der grünen Partei. Nach einer aktuellen Umfrage stehen 72% der befragten Grünen-WählerInnen dem Hamburger Modell positiv gegenüber. Die Grünen haben vor Jahr und Tag ihre Vorbehalte gegenüber Militärinterventionen und einer Beteiligung an völkerrechtswidrigen Kriegen aufgegeben. Nun folgen im Verbund mit der Vision einer "grünen Markwirtschaft" die "intelligente Privatisierung" und der moderate Umgang mit gesellschaftlicher Armut.

Die neue Allianz aus CDU und Grünen kann letztlich nicht überraschen. Viele Grüne stammen aus bürgerlichen Elternhäusern. Zudem sind Themen wie Ökologie und Naturschutz im Grunde konservative Anliegen, in kirchlichen Kreisen, die teilweise der CDU nahestehen, nennt man das "Bewahrung der Schöpfung". Der lange Weg der "Grünen" von einer Anti-Parteien-Partei mit strikter Ausrichtung auf Frieden und Ökologie endet in ihrem Funktionswandel zu einer staatstragenden Säule der bürgerlichen Hegemonie. Noch 1982 verfügten die WählerInnen der Grünen über das geringste Nettohaushaltseinkommen im Vergleich zu den anderen Parteien. "Nach 1990 stieg das Einkommen der Wähler der Grünen sprunghaft an, um in der Folgezeit deutlich über dem entsprechenden Einkommen sowohl der SPD- als auch der CDU/CSU-Wähler zu liegen. Im Jahr 2000 lagen die Wähler der Grünen (…) sogar knapp vor den im Schnitt gut betuchten Wählern der FDP." (Jürgen Falter) Das grüne Milieu ist ökologisch und bürgerrechtlich orientiert. Bei entsprechender Umsetzung kann die Partei der "grünen Marktwirtschaft" und eines grünen Rechtsstaatsverständnisses die FDP in den Rang einer neoliberalen Sekte herabstufen.

Mit der ersten Koalition aus CDU und Grünen auf Länderebene wird daher Parteigeschichte geschrieben. Nach der Einigung in relativ kurzen, geschäftsmäßig geführten Verhandlungen bekommt die Diskussion um eine schwarz-grüne Zusammenarbeit auf Bundesebene neuen Schwung. Es wird auf Bundesebene wie in Hamburg laufen: Vor der Wahl behaupteten die neuen GesinnungsgenossInnen, dass sie nie mit einander koalieren würden. Längst vor dem Wahltermin sind gleichwohl die Grund­entscheidungen für das neue Bündnis gefallen. Mit dem Koalitionsvertrag von Schwarz-Grün werden kleine Schritte in Richtung ökologischer Modernisierung angekündigt und die gröbsten von der CDU zu verantwortenden Fehlentwicklungen bei sozialer Spaltung, Bildung, Privatisierung und Demokratie korrigiert. Mit einem Politikwechsel hat das nichts zu tun. Die zaghaften Versuche, etwas gegen die soziale Spaltung zu machen, drohen zudem unter dem Diktum der Haushaltszwänge ins Gegenteil umzuschlagen. Die Aufgabe der Linken besteht darin, die Politik von Schwarz-Grün kritisch zu begleiten, über ihre Implikationen und Folgen aufzuklären und vor allem die eigenen Vorstellungen für einen Politikwechsel – gegen soziale Spaltung, für Rekommunalisierung, "Eine Schule für alle" und mehr Demokratie – in die politische Auseinandersetzung einzubringen.

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