1. Dezember 2009 Joachim Bischoff / Richard Detje

Neuerfindung der Sozialdemokratie?

Nach ihrer historischen Wahlniederlage bei der Bundestagswahl 2009 war ein Parteitag mit Kurskorrekturen überfällig. Wenn auch zaghaft, so kehrt die SPD doch zu einer kritischeren Bewertung des modernen Kapitalismus zurück, will sich künftig für Regulierungen der Finanzmärkte und eine Besteuerung der Vermögen sowie der Finanztransaktionen einsetzen.

Zudem hat sie eine Überprüfung der verschiedenen Bausteine der unter dem Label "Hartz" zusammengefassten Gesetze ebenso wie eine Überprüfung der Verlängerung der Lebensarbeitszeit ("Rente mit 67") beschlossen.

Allerdings gibt es Einschränkungen. So erklärt der Fraktionsvorsitzende Steinmeier: "Dem Fanklub für die Vermögensteuer, dem Gabriel vorsteht, bin ich nicht beigetreten." Genosse Steinmeier dürfte nicht nur für sich gesprochen haben.

Die Debatte auf dem Parteitag unterschied sich auch in ihrer Offenheit deutlich von den inszenierten Medienevents, die Müntefering und Schröder veranstaltet hatten. Nicht zuletzt deshalb sprach der neue Parteivorsitzende Sigmar Gabriel von einem "neuen Aufbruch und neuen Anfang" für die SPD; entgegen vielen Befürchtungen sei die SPD nicht in eine Depression verfallen und habe auch kein Scherbengericht abgehalten: "Es gab ein großes Bedürfnis nach Versöhnung." Wird diese Anerkennung von Pluralismus und offenem Diskurs die weitere Entwicklung bestimmen?

Dass da noch einige grundsätzliche Fragen ungeklärt sind, werden auch die optimistischsten Anhänger eines Aufbruchs nicht bestreiten. Ein Stichwort lieferte der neue Parteivorsitzende selbst: "Die SPD soll offen auf Unternehmer zugehen und sich nicht nur um Menschen kümmern, die es schwer haben." Diese auf den ersten Blick harmlose Formulierung verbirgt das Kernproblem der europäischen Sozialdemokratie: BürgerInnen, die über kein oder wenig Kapitaleigentum verfügen, vom Verkauf ihrer Arbeitskraft existieren oder ihr Leben von Lohnersatzzahlungen oder Sozialtransfers bestreiten, sind seit Jahrzehnten in der Defensive. Die Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit des Kapitals hat nicht zu einer Verbesserung der Lohneinkommen und der sozialen Sicherheit geführt. Die Krise der europäischen Sozialdemokratie ist in den letzten Wahlen krass wie selten in Erscheinung getreten. Sie gründet in einer in den letzten drei Jahrzehnten zunehmend apologetischen Haltung gegenüber dem modernen Kapitalismus. Dagegen lautet die zentrale These: Die Sozialdemokratie hat sich "der Globalisierung unterworfen oder sie sogar hymnisch besungen, aber wenn der Unternehmer niedrige Löhne bezahlen kann oder Illegalisierte schwarz bezahlt, ergeben sich Bedingungen für die Entstehung einer endlos wachsenden ›Reservearmee‹, durch die die Löhne weiter sinken – marxistische Kategorien, die durch den Sozialstaat und die Kämpfe von Generationen obsolet geworden waren, erhalten neue Aktualität."[1]

Die Dimension der Niederlage

Der Schrecken, der Franz Müntefering am Ende seiner politischen Laufbahn in die Glieder gefahren ist, war nicht "die Niederlage an sich", sondern die "Dimension der Niederlage". Damit ist nicht nur der Absturz der SPD auf 23% der noch aktiven Wahlbevölkerung gemeint, nicht nur der Marsch in die Opposition. Die "Zäsur"[2] geht tiefer: Es ist das vorläufige Ende der sozialdemokratischen "Volks-" oder "Allerweltspartei", 50 Jahre nach dem Godesberger Parteitag, der das Ende der klassenbezogenen "Massenintegrationspartei" besiegelt hatte.[3]

Der seit Jahrzehnten in der SPD für theoretisch-strategische Überlegungen zuständige Erhard Eppler hat die politischen Umbrüche auf dem Parteitag bezeichnet: "Wer hätte gedacht, 1959 oder zu Zeiten Brandts oder Schmidts, dass wir das Solidarprinzip in der Krankenversicherung hätten verteidigen müssen? ... Wer hätte sich zu Zeiten Kohls vorstellen können, dass wir einmal die progressive Einkommenssteuer würden verteidigen müssen – ein Prinzip, das sich in ganz Europa als selbstverständlich durchgesetzt hat?" Freilich, die hinter dem Rollback stehende Veränderung des modernen Kapitalismus hat Eppler kaum angerissen. Stattdessen hebt er auf die Widerständigkeit der neoliberalen Ideologie ab: "Es stimmt zwar, dass noch nie eine Ideologie so unmittelbar, so gründlich, so erbarmungslos widerlegt worden ist wie der Marktradikalismus durch die Finanzkrise. Noch nie. Da haben doch nicht die Märkte die Staaten gerettet, sondern die Staaten haben die Märkte retten müssen! Aber das Erstaunliche für uns alle ist: Diese marktradikalen Thesen haben ihre Widerlegung überlebt. Wie lange, weiß ich nicht, aber vorläufig schon." Ein Faktor, der dies erklärt, ist, dass die Menschen nicht mehr glauben, dass die SPD dieses Land gerechter machen kann. Die politische Linke im weitesten Sinne braucht eine Analyse des modernen Kapitalismus, damit sie eine Richtung der Veränderung zur Abstimmung stellen kann.

Die Zäsur schneidet aber nicht nur tiefer, sie ist zugleich viel umfassender. Auch in den Kernländern des skandinavischen Modells, in Schweden und Dänemark, wissen die Sozialdemokraten bis heute nicht, was sie den Konservativen und einem wohlfahrtsstaatlich ausgerichteten Rechtspopulismus entgegensetzen können; die niederländische Partei der Arbeit ist auf unter ein Fünftel der Wählerstimmen abgesackt, während die französische Parti socialiste – zuletzt mit 16,5% bei den Europawahlen – dabei ist, zu zerfallen; ein Prozess, den die italienischen Genossen durch immer neue Parteigründungen und Führungswechsel zu verhindern versuchen. Und in Großbritannien steht Labour vor einer die Partei erschütternden Niederlage. Kleine Lichter aus Spanien und Griechenland werden von dem schwarzen Loch der europäischen Sozialdemokratie gleichsam aufgesogen.

Der Niedergang der Sozialdemokratie in Europa ist ein seit Jahrzehnten anhaltender Prozess. Mitte der 1990er Jahre hatte Donald Sassoon in seiner Bilanz der westeuropäischen Linken im 20. Jahrhundert festgehalten, dass "das Schicksal und aller Wahrscheinlichkeit nach die Zukunft des Sozialismus in Westeuropa nicht von der des europäischen Kapitalismus getrennt betrachtet werden kann. Die Krise der sozialistischen und sozialdemokratischen Tradition in Westeuropa ist nicht die Krise einer Ideologie, überwältigt von der überlegenen politischen und organisatorischen Kraft ihrer Gegner – wie der Kommunismus einer war. Diese Krise ist Teil jener Umwälzungen des fin de siècle, die den Planeten mit folgenschwerer Geschwindigkeit verändern."[4]

Für kurze Zeit wurde die Krise zu Beginn des Jahrhunderts noch einmal verdrängt, als die Sozialdemokratie mit Tony Blair in Großbritannien, Wim Kok in den Niederlanden, Lionel Jospin in Frankreich, Romano Prodi in Italien und Gerhard Schröder in Deutschland das Ruder in Europa übernahmen,[5] eine neue Strategie des "Dritten Weges" oder der "Neuen Mitte" verkündete und der EU einen umfassenden Modernisierungsprozess (die "Lissabon-Strategie") verordnete. Die Vorstellung einer neuen "Theorie und eine(r) politische(n) Praxis, mittels deren die Sozialdemokratie den grundlegenden Veränderungen in der Welt innerhalb der letzten zwei oder drei Jahrzehnte Rechnung trägt",[6] erlitt jedoch mit dem Platzen der Spekulationsblase der New Economy, in den nachfolgenden Stagnationsjahren und schließlich in der neuen Weltwirtschaftskrise endgültig Schiffbruch. Seitdem heißt es, die Sozialdemokratie müsse neu erfunden werden – was nicht geht, ohne ihren Niedergang zu ergründen.

Deutungshoheit über die politische "Mitte"

Für die flüchtige Zeit weniger Sätze konnte man während der Rede des neuen SPD-Vorsitzenden meinen, der SPD-Parteitag würde – just in time – doch noch ein Motto bekommen (das er nicht hatte). "Wer über den Finanzmarktkapitalismus nicht reden will, der soll über die soziale Marktwirtschaft schweigen", lautete einer dieser Sätze. Aber der war auf den christdemokratischen nicht-mehr-Koalitionspartner bezogen. Auf die Sozialdemokratie selbst bezogen vermied Gabriel eine vergleichbare Engführung von Partei- und Kapitalismusentwicklung. Rückblickend hätte er – im Sinne der neuen Offenheit – auch sagen müssen: Wer von der Sozialdemokratie der Jahre 1999 bis 2009 nicht reden will, sollte über den Finanzmarktkapitalismus schweigen.

Die Dimension der Niederlage der deutschen Sozialdemokratie lässt sich auch darin erfassen, dass sie ihre Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft in einer Paradoxie beschreibt. So die Verortung einer "historischen Niederlage" in "einer Zeit, die geradezu nach sozialdemokratischen Antworten schreit". Dies ist eine der drei "Erkenntnisse", die Gabriel aus dem Bundestagswahlergebnis zieht. Die andere lautet: "Wir haben in alle Richtungen verloren. Eine Partei, der das passiert, hat eines nicht: ein sichtbares Profil." Und die dritte: "Die schwierigen Beschlüsse, die uns so sehr von unserer Wählerschaft entfernt haben – zur Arbeitsmarktreform, zur Leiharbeit, zur Rente –, sind ... nur Symptome, nicht die eigentlichen Ursachen" jener die westeuropäische Sozialdemokratie erfassenden Krise. Das könnte ein Ausgangspunkt einer "Neuerfindung der Sozialdemokratie" sein.

Gabriels Schlussfolgerung aus den drei Erkenntnissen des September 2009 lautet: Die Sozialdemokratie ist einer Täuschung aufgesessen, was die "Mitte" eigentlich sei. Politologen und Soziologen hätten ihr zu einem Anpassungskurs geraten. Gabriels Neuinterpretation: In der "Mitte" befinde sich jene politische Kraft, die "die Deutungshoheit über die aktuellen gesellschaftlichen Herausforderungen besitzt" – und die lag "seit dem Fall der Mauer" (wohlgemerkt: seit zwei Jahrzehnten) "nicht bei uns, sondern jeden Tag ein bisschen mehr bei den Marktideologen", denen sich die SPD "und mit uns viele andere sozialdemokratische Parteien in Europa" angepasst habe. Kritik an Anpassungspolitik ist überfällig. Aber mit Verlaub: Die Gabrielsche Neudefinition der Mitte ist eine Tautologie ohne analytische Substanz: Profillosigkeit durch Anpassung, Anpassung durch Profillosigkeit.

"Deutungshoheit" hatten die Führungskreise der europäischen Sozialdemokratie Ende der 1990er Jahre mit drei Basisprämissen ihrer Politik beansprucht: erstens, dass im "Zeitalter der Globalisierung" eine aktive Politik der Wirtschaftssteuerung nicht mehr möglich sei; zweitens, dass die Zukunft des Sozialstaats nur mit einer "aktivierenden Sozialpolitik" zu sichern sei, was in Zeiten demografischen Wandels den Aufbau einer individuellen, kapitalmarktbasierten Alterssicherung erfordere; drittens, dass Arbeitsmärkte in Zeiten globaler Konkurrenz flexibilisiert und die Kosten der Arbeitslosigkeit gesenkt werden müssen.

Diese Basisprämissen fanden beispielsweise im Flexicurity-Konzept der Europäischen Kommission ihren Niederschlag. Die Folge dieser Politik war, dass das, was früher als so genannte Arbeitnehmermitte bezeichnet wurde, auseinandergebrochen wurde. Zwar hat die Erwerbstätigkeit zugenommen (ein zentrales Ziel der "Lissabon-" und "Flexicurity-Strategie"), aber im Wesentlichen durch die Zunahme zuvor atypischer und häufig prekärer Jobs, während die Anteil unbefristeter Vollzeitjobs in der Erwerbsbevölkerung auf 38% geschrumpft ist.[7]

Es war die Politik der Sozialdemokratie in Europa, die zu einer Zersetzung der Arbeits- und Lebensverhältnisse geführt hat und damit selbst die Axt an ihre soziale Basis und ihre Mehrheitsfähigkeit gelegt hat. Diese Politik hatte sich nicht einfach unter das Dach der "Marktwirtschaft" gestellt, sondern mit den vermeintlich unumgänglichen, "alternativlosen" Sozialreformen einem finanzmarktgetriebenen Akkumulationsregime überhaupt erst zum Durchbruch verholfen.

Rückblick

Aus vielerlei Gründen konnte die sozialistische und kommunistische Linke den mit der ersten großen Weltwirtschaftskrise des 20. Jahrhunderts gegebenen Legitimationsverlust der kapitalistischen Wirtschaftsordnung nicht nutzen. Aus der zerstörerischen Auseinandersetzung mit den europäischen Faschismen und der nachfolgenden Auflösung der imperialistisch-kolonialistischen Herrschaftszonen der kapitalistischen Hauptländer ging ein revitalisierter Kapitalismus mit folgenreichen Impulsen für das Alltagsleben der eigentumslosen Massen hervor. "Ein großer Teil des Weltbooms war ... Anpassung an alte amerikanische Trends und in den USA selbst die Weiterentwicklung dieser Trends. Henry Fords Massenproduktionsmodell wurde über alle Ozeane hinweg von vielen neuen Automobilindustrien kopiert, während die USA das Fordprinzip nunmehr auch auf neue Produkte ausweiteten, vom Hausbau bis hin zum Junk food. Güter und Dienstleistungen, die zuvor nur Minderheiten zugänglich gewesen waren, wurden für den Massenmarkt produziert."[8] Der Faszination der beschleunigten Kapitalakkumulation in den 1950er und frühen 1960er Jahren stand die Mängelverwaltung und die repressive politische Kultur der Länder des "Realsozialismus" entgegen. "Aber nicht die feindselige Konfrontation des Kapitalismus und seiner Supermacht unterminiert den Sozialismus. Was ihm den Hals brach, war das Eindringen einer weit dynamischeren, fortgeschritteneren und dominanteren kapitalistischen Weltwirtschaft in ein durch strukturelle Schwächen zunehmend gelähmtes sozialistisches Wirtschaftssystem."[9]

Angesichts dieser Rahmenbedingungen der kapitalistischen Nachkriegsordnung ist nachvollziehbar, dass sich die europäische Sozialdemokratie in den Inhalten der Gestaltung, aber auch der politischen Methoden und der strategischen Grundsätze vom "Realsozialismus" deutlich absetzte: Verzicht auf revolutionäre Gewalt, Akzeptanz des Privateigentums an Produktionsmitteln. In dieser Ausgangsbedingung war aber nicht zwangsläufig programmiert, dass die europäische Sozialdemokratie sich der Logik der kapitalistischen Ökonomie zu unterwerfen hatte. Indem sie in den nachfolgenden Jahrzehnten aber systematisch keine Regulation der Kapitalakkumulation mehr verfolgte und den wachsenden gesellschaftlichen Surplus nur noch in immer geringeren Dosierungen für die Lohnabhängigen und das System sozial-kultureller Sicherheit erschloss, verlor diese politische Kraft ihre Akzeptanz. Die Sozialdemokratie ist seit Jahren auch dann in der Krise, wenn sie Wahlen gewann und regierte.

Die europäische Sozialdemokratie hatte zunächst Mühe, sich im ersten Jahrzehnt nach dem Zweiten Weltkrieg mit einer revitalisierten Kapitalakkumulation programmatisch-politisch zu arrangieren. Aber spätestens seit Mitte der 1950er Jahre konnte sie sich mehrheitlich vorstellen, dass die wirtschaftliche und soziale Entwicklung weltweit in völlig neuen Bahnen verlaufen werde. Sie erlebte eine vergleichsweise langjährige Prosperität, die ohne durchgreifende Krisenerscheinungen für den Alltag der Lohnabhängigen ablief. Sie akzeptierte auf ihren Parteitagen – Wien 1958, Godesberg 1959 und Stockholm 1960 – die neue Wirklichkeit eines marktförmig dynamisierten Kapitalismus, dem mit der programmatischen Konzeption des "organisierten Kapitalismus" der späten Weimarer Sozialdemokratie nicht beizukommen war. Bruno Kreisky, Vorsitzender und zugleich strategischer Kopf der österreichischen Sozialdemokratie, konstatierte 1975: "Solange alles glatt lief, hat man für diese kapitalistische Ordnung den Ausdruck soziale Marktwirtschaft gefunden, und die sozialdemokratischen Parteien hatten es überaus eilig, sich auch unter dieses Dach der sozialen Marktwirtschaft zu flüchten und zu sagen: Wir wollen eigentlich das gleiche, nur besser … so sage ich, wenn wir die Wirtschaftspolitik von Bankdirektoren machen lassen, kann man nicht glaubwürdig sein! Wir müssen, glaube ich, jetzt, da die Leute an der Überlegenheit unserer Wirtschaftsordnung zu zweifeln beginnen, eine Antwort geben."[10]

Mitte der 1970er Jahre zeichnete sich die eigentliche Herausforderung ab. Brandt, Kreisky und Palme konstatierten: "Es mag sein, dass es sich bei der gegenwärtigen wirtschaftlichen Entwicklung in den demokratischen Industriestaaten um eine mehr oder weniger lang dauernde, mehr oder weniger tiefgreifende Rezession handelt. Man kann aber, ebenso wie manche Nationalöko­nomen, Wirtschaftsjournalisten und Bankiers es auch tun, von einer Krise reden, die ähnlich schwer sein wird wie Ende der 20er und Anfang der 30er Jahre… Was tun wir Sozialdemokraten für den Fall, dass die weitere Entwicklung den Pessimisten recht gibt? Gelingt es nämlich der europäischen Sozialdemokratie nicht, darauf eine Antwort zu geben, brauchen wir uns über vieles andere den Kopf nicht zu zerbrechen."[11]

Lange Zeit konnte die Sozialdemokratie sich der ernsthaften Auseinandersetzung mit dieser Frage entziehen. Zwischen 1975 und 2008 verstärkten sich die Krisenprozesse, auf die die europäische Sozialdemokratie keine Antwort fand. Jetzt steht sie vor einer Krise von den Ausmaßen der Weltwirtschaftskrise von 1929; jetzt ist unstrittig, dass die finanzmarktgetriebene Akkumulation die kapitalistische Wirtschaftsordnung in eine tiefe Strukturkrise hineingetrieben hat; und jetzt steht fest, dass die Sozialdemokratie ihren Anteil an diesem Niedergang hat.

Neuerfindung der Sozialdemokratie heißt: In der schwersten Krise seit acht Jahrzehnten muss die Antwort gegeben werden. Re-Sozialdemokratisierung heißt also: Wer aus der globalen Krise des Finanzmarktkapitalismus heraus will, wer eine solche Krise künftig verhindern will, der muss über den Umbau des modernen Kapitalismus sprechen.

Neuanfang?

Hält sich die SPD an ihre Parteitagsbeschlüsse, muss sie sich politisch-programmatisch neu aufstellen. "Die Arbeitsmarktreformen haben in weiten Teilen der Arbeitnehmerschaft Furcht vor sozialem Abstieg durch Arbeitslosigkeit ausgelöst. Leistungskürzungen in der gesetzlichen Rentenversicherung haben zu einem erheblichen Akzeptanzverlust sozialdemokratischer Alterssicherungspolitik geführt. Die Erhöhung des Renteneintrittsalters auf 67 Jahre wird bei vielen Beschäftigten als direkter Eingriff in die persönliche Lebensplanung wahrgenommen. Die Sorge vor Altersarmut ist gewachsen." (Leitantrag) Wenn die SPD dieses Erbe ihrer Politik in den kommenden Monaten aufarbeiten will, dann geht es nicht – wie viele ihrer Repräsentanten meinen – um Korrekturen im Einzelnen, nicht um Nachbesserungen oder gar nur Nachjustierungen, sondern um eine grundlegende Neuausrichtung.

Wie das aussehen soll, ist bisher nicht vorgedacht. "Wir müssen uns auf unsere Stärken besinnen: hohe Produktivität, die Entwicklung innovativer Produkte und Produktionsverfahren sowie hoch qualifizierte Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer" (Leitantrag) – diese Perspektive hatten auch Schröder und Steinmeier formuliert. Und Gabriel hat mit seinen sechs "Richtungsfragen" über das Primat der Ökonomie über die Politik (oder umgekehrt), über Wohlstand für alle (oder umgekehrt), das Verhältnis von Solidarität und Eigenverantwortung, Bildung, Migration bis hin zu Multilateralismus nichts vorgegeben, sondern alles in der Schwebe gehalten.

Das mag als Offenheit gemeint sein. In einer Zeit – um auf den letzten Punkt zu kommen –, in der es eines christsozialen Adligen bedarf, um im Fall Afghanistan die K-(Kriegs)-Frage zu klären, um die sich die SPD in den vier Jahren der großen Koalition herumgedrückt hat, deutet das noch nicht einmal einen Ansatz von Deutungshoheit an.

So bleibt auch die "Mitte" unbestimmt. Einerseits beschwört Gabriel "Unternehmer- und Managerbiographien", hinter denen "viel Engagement, Leistungs- und Verantwortungsbewusstsein" steckt ("das sind unsere Partner, nicht der Klassenfeind"), um andererseits ohne Vermittlung von biographischer und systemischer Ebene den Verfassungsrichter Wolfgang Böckenförde zu zitieren, demzufolge "die verantwortlichen Manager nichts anderes gemacht haben, als die Möglichkeiten des Kapitalismus und das Finanzkapitalismus und deren gesetzliche Grundlagen zu nutzen. Sie haben sich systemgerecht verhalten."

Die Aufforderung des gescheiterten Architekten des "Bündnisses für Arbeit", Wolfgang Streeck, im Angesicht der neuen Weltwirtschaftskrise über den "Kapitalismus" zu diskutieren,[12] wird die neue Parteiführung – außer in der rhetorischen Manier der Natursymbolik: "Heuschrecken-" oder "Raubtierkapitalismus" – so schnell, wie es in der gegenwärtigen Weltwirtschaftskrise notwendig wäre, nicht erreichen. Abstrakt nur noch von "der Wirtschaft" zu sprechen, nicht mehr von ihrer historischen Formbestimmtheit, gehört – wie Colin Crouch in der Kritik an Anthony Giddens anmerkt – zur Substanz des "Dritten Weges",[13] den ehemalige Protagonisten wie Mathias Machnig nur vordergründig machtpolitisch abschreiben.

Es ist in der Tat nicht so, dass keine andere Politik möglich wäre. Aber: Mit jeder Drehung des aktuellen Krisenprozesses verschlechtern sich die Rahmenbedingungen. Und: Das nur schwer zu korrigierende Negativ-Erbe besteht in der in den letzten drei Jahrzehnten aufgehäuften Unglaubwürdigkeit. Die SPD ist wegen ihrer Apologetik gegen­über der Politik der ökonomischen Eliten tief verstrickt in die Zerstörung der geschichtlichen Errungenschaft des Normalarbeitsverhältnisses und des damit begründeten Systems kollektiver sozialer Sicherheit.

"Bringing capitalism back in" (Streeck) ist eine zeitdiagnostische Anstrengung, kein Thema einer neuen in Programmdebatten gerne gepflegten Wertedebatte, die normative Ansprüche als Kritik der Gegenwartsgesellschaft ausgibt. Zur Zeitdiagnose gehört: Kein anderes westeuropäisches Land außer Deutschland hat im zurückliegenden Jahrzehnt einen sozio-ökonomischen Pfadwechsel vollzogen. Das politische Tempo in der Ungleichverteilung des gesellschaftlichen Reichtums, die Abkoppelung des unteren Drittels der Bevölkerung, die Ausweitung des Niedriglohnsektors, ggf. das Tempo der Privatisierung und der Verfall öffentlicher Investitionen sind ein singulärer Vorgang in der jüngeren Geschichte – unter sozialdemokratischer Regierungsverantwortung. Diesen Transformationsprozess des "deutschen Kapitalismus" gilt es aufzuarbeiten – nicht im Sinne eines "Asche auf mein Haupt", sondern um in eine neue Richtung gehen zu können.

Ausblick in der kurzen Frist

Ob sich aus dem SPD-Parteitag und der personellen Neuaufstellung ein kleiner Aufbruch entwickelt, wird man in nächster Zeit an der Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen ablesen können. Rund ein halbes Jahr vor der Landtagswahl hat die Landesregierung von Ministerpräsident Jürgen Rüttgers (CDU) laut Umfragen ihre Mehrheit verloren. Umfragen zufolge kommt Schwarz-Gelb in NRW zusammen auf 46%, SPD, Grüne und Linke erreichen gemeinsam 49%. Wenn die Sozialdemokratie mit Verweis auf diese Wahl weiterhin die Antwort auf die Finanz- und Wirtschaftskrise in der Schwebe hält, wird sie möglicherweise in dieser Landtagswahl bestehen können, aber gleichfalls weiterhin in der chronischen Krise der europäischen Sozialdemokratie verbleiben.

Joachim Bischoff ist Mitherausgeber, Richard Detje ist Redakteur von Sozialismus.

[1] Flores d’Arcais in: manifesto 28.10.2009 (AK 544, S.33
[2] Leitantrag zum SPD-Bundesparteitag 2009. Beschluss des SPD-Parteivorstands am 26.10.2009. www.spd.de
[3] Siehe Joachim Bischoff/Richard Detje: Strukturveränderungen in der politischen Arena – Jenseits der Volksparteien?, in: Sozialismus 11/2009.
[4] Donald Sassoon: One Hundred Years of Socialism. The West European Left in the Twentieth Century, London 1996, S. 776.
[5] Wolfgang Merkel u.a.: Die Reformfähigkeit der Sozialdemokratie. Herausforderungen und Bilanz der Regierungspolitik in Westeuropa, Wiesbaden 2006.
[6] Anthony Giddens: Der Dritte Weg. Die Erneuerung der sozialen Demokratie, Frankfurt a.M./New York 1999, S. 38.
[7] Bertelsmann-Stiftung: Arbeitsmarkt und Beschäftigung in Deutschland 2000-2009, Gütersloh 2009, S. 8.
[8] Eric Hobsbawm: Das Zeitalter der Extreme. Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts, München 1995, S. 332.
[9] Ebd., S. 316f.
[10] Willy Brandt/Bruno Kreisky/Olof Palme: Briefe und Gespräche, Frankfurt a.M. 1975, S. 121.
[11] Ebd., S. 111.
[12] Wolfgang Streeck: Re-forming Capitalism, Cambridge 2009.
[13] Colin Crouch: Postdemokratie, Frankfurt a.M. 2009, S. 142.

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