1. Januar 2002 Joachim Bischoff

Neues Krisenjahr?

Anleger, Wirtschaftsforscher und Journalisten machen schon kleinere Lichtsignale am dunklen Konjunkturhimmel aus. Es werde bald wieder aufwärts gehen mit der realen Ökonomie, was sich dann auch positiv auf den Finanzmärkten niederschlagen werde. Der Internationale Währungsfonds (IWF), der sich bislang nicht gerade durch pessimistische Konjunktureinschätzungen einen Ruf erworben hat, verlegt den Aufschwung in einer Aktualisierung der Wachstumsprognose (Dezember 2001) allerdings auf den Herbst 2002. Wegen dieser späten Trendwende sei für die Weltwirtschaft wie im Vorjahr nur mit einem Wachstum von 2,4% zu rechnen, für die USA von 0,7%. Die drastischen Zinssenkungen der US-Notenbank haben offenkundig nicht jene Zauberkraft entfaltet, die ihnen lange Zeit zugeschrieben worden war. Mittlerweile ist unbestritten, dass sich nicht nur Japan, sondern alle kapitalistischen Hauptländer am Rande oder im Strudel der Rezession bewegen.

Die zurückhaltenden Prognosen über die Rückkehr des Konjunkturfrühlings haben damit zu tun, dass das Gewicht der aktuellen Weltwirtschaftskrise lange Zeit unterschätzt wurde. Noch bis zum Höhepunkt des Booms auf den internationalen Wertpapierbörsen waren viele Akteure davon überzeugt, dass man mit dem Übergang in das Zeitalter der New Economy die Grundübel der kapitalistischen Produktionsweise – Konjunkturzyklus, Inflation und Verteilungskonflikte – abschreiben könne. Der Zusammenbruch des spekulativen Überreizens aller Formen von zinstragenden Eigentumstiteln wurde rasch durch die neue Illusion ersetzt, dass die unter Bedingungen der Informations- und Kommunikationstechnologie revolutionierten Produktionsbedingungen nur noch kurze Produktlebenszyklen aufweisen. Es sollte so rasch wieder aufwärts gehen, dass man den Absturz und den schmerzhaften Prozess der Wertbereinigung gar nicht merken würde. Doch der für den Kapitalismus charakteristische Wirtschaftszyklus ist keineswegs aufgehoben. Statt der erhofften Wachstumsdelle hat sich die Rezession zu einer Wirtschaftskrise ausgeweitet. Strittig sind Länge und Tiefe des Kontraktionsprozesses der gesellschaftlichen Wertschöpfung.

Was sind die wichtigsten Faktoren zur Beurteilung des Übergangs in einen neuen Konjunkturzyklus?

  Auf den Finanzmärkten hat sich nach einer spekulativen Welle bis zum Frühjahr 2000 (irrationaler Überschwang) eine starke Wertkorrektur bis in den Herbst 2001 durchgesetzt. Trotz massiver Zinssenkungen ist die Vernichtung des zinstragenden Kapitals beträchtlich.

  In der Realökonomie sind in vielen Branchen erhebliche Überkapazitäten aufgebaut worden; die Reproportionierung der Wert- und stofflichen Strukturen ist noch nicht abgeschlossen.

  In einigen Ländern – wie der Bundesrepublik Deutschland und den USA – ist die Verschiebung in den primären Verteilungsverhältnissen zu ungunsten der Arbeitseinkommen durch die Steuer- und Sozialabgabenpolitik noch verschärft worden. Die Erschütterung des KonsumentInnenvertrauens nach den terroristischen Anschlägen vom 11. September prägt nach wie vor Branchen wie den Luftverkehr oder den Immobiliensektor.

  Der Nettoeffekt der Zinssenkungen auf die nationalen Ökonomien ist positiv, aber nicht allzu groß.

  Wir registrieren eine Kumulation wirtschaftspolitischer Fehlentscheidungen. Schon vor dem 11. September war die Ökonomie in eine Rezession abgerutscht; die Steuersenkungen sind von den meisten Bürgern aber nicht zu Ausgabensteigerungen, sondern zur Verbesserung ihrer Vermögensbilanzen genutzt worden. Nach wie vor will Präsident Bush Steuererleichterungen für Unternehmen und private Haushalte durchsetzen, während eine Ausweitung der Unterstützungszahlungen für Arbeitslose und Impulsmaßnahmen für den Arbeitsmarkt von den Republikanern als Verschleuderung von gesellschaftlichen Ressourcen angesehen werden. Die Demokraten haben das Programm daraufhin im Kongress blockiert.

  Schließlich sind erstmals seit längerem die wichtigsten Zentren der Weltwirtschaft – Nordamerika, Europa und Japan – synchron in einen Konjunkturabschwung verwickelt. Japan schiebt seit zehn Jahren eine grundlegende Bereinigung von notleidenden Krediten auf und ist folglich zuerst und am stärksten in eine kontraktive Bewegung der gesellschaftlichen Wertschöpfung hineingezogen worden. Außerdem sind einige Schwellenländer wie Argentinien und die Türkei an den Rand eines Staatsbankrotts gerückt; die Unterstützungsmaßnahmen durch die kapitalistischen Hauptländern und die internationalen Finanzinstitutionen (IWF, Weltbank etc.) konnten den wirtschaftlich-gesellschaftlichen Niedergang nicht aufhalten.

Angesichts dieses Ursachengeflechts weist der IWF zu Recht auf die große Unsicherheit der neuen Prognose hin, in der für die zweite Jahreshälfte eine beginnende Erholung der Konjunktur in Amerika und Europa, nicht jedoch für Japan behauptet wird. Gerade unter Berücksichtigung des Etatentwurfs für das Haushaltsjahr 2002/03 ist eine deutliche Vertiefung der wirtschaftlichen Kontraktion in Japan wahrscheinlich. Seit dem Platzen der Finanzblase 1989/90 wurde mit zahlreichen Konjunkturprogrammen versucht, eine Trendwende zu erzwingen. Mit dem Etat für das kommende Jahr steigt die öffentliche Schuld auf rund 140% des Bruttoinlandsprodukts. Die internationalen Rating-Agenturen haben die Bonität von Japans staatlichen Finanzagenturen deutlich herabgestuft. Bei der Beurteilung der Staatsanleihen ist die Metropole mittlerweile auf dem Niveau von Italien oder Slowenien angekommen. Mit fiskalpolitischer Expansion ist der hartnäckigen Krise angesichts einer ausgeprägten deflationären Entwicklung nicht mehr beizukommen. Die japanische Regierung spielt nach wie vor auf Zeit und will die unvermeidliche Wertberichtigung von notleidenden Krediten und abzuschreibenden Eigentumstiteln so lange strecken, dass eine kumulative Entwicklung von Konkursen vermieden wird, die die gesamte gesellschaftliche Wertschöpfung massiv beschädigen könnte.

Japans Zentralbank hat in der jüngsten Veröffentlichung die Einschätzung vertreten, dass bis weit in das Jahr 2003 hinein mit fallenden Preisen, also der Fortführung der deflationären Entwicklung, zu rechnen ist. Diese Deflation ist insofern von Bedeutung, als bei fallenden Preisen die nominal fixierten Schulden im Verhältnis zu den Einnahmen, der betrieblichen Wertschöpfung etc. anwachsen. Die Zentralbank hat seit längerem für ein Zinsniveau an der Nullgrenze gesorgt und ist mit ihren Steuerungsparametern längst am Ende. In den letzten Wochen ist die Notenbank zu einer expansiven Geldpolitik übergegangen, weil man einen kontrollierten inflationären Prozess und damit eine Abwertung des Yen erzeugen will. Allerdings ist diese Strategie höchst gefährlich. Notenbankchef Hayami verweist auf die Gefahr, dass die Preisentwicklung bei künstlichem Anheizen gänzlich außer Kontrolle geraten könnte; ein inflationärer Prozess ließe sich keineswegs auf dem gewünschten Niveau stoppen, wenn die angestrebten Effekte erreicht seien. Außerdem müsse bedacht werden, dass in einer sich verschärfenden weltwirtschaftlichen Krisenkonstellation auch andere Staaten auf diesen Ausweg verfallen könnten. Ein zunächst begrenzter, sich mit der Zeit aber beschleunigender Abwertungswettlauf wäre mit Sicherheit Gift für eine Belebung der Weltkonjunktur.

Die Indikatoren zum weiteren Verlauf der US-Konjunktur sind zwiespältig. Für das 3. Quartal 2001 meldete das Handelsministerium eine Schrumpfung der gesellschaftlichen Wertschöpfung um 1,3%. Für eine Erholung sprächen eine Erholung des Konsumentenvertrauens, eine Stabilisierung der Konsumausgaben und eine leichte Erholung an den Wertpapierbörsen. Die Skeptiker verweisen auf einen anhaltenden Rückgang beim Staatskonsum und einen ungebrochenen Negativtrend bei dem verfügbaren Einkommen der privaten Haushalte. Eine Trendwende bei den Unternehmensprofiten ist gleichfalls nicht erkennbar; in vielen Branchen existieren große Überkapazitäten und die eingeleitete Restrukturierung des Produktionsapparates zeigt im Durchschnitt noch keine positiven Effekte. Die Instrumente der staatlichen Zinspolitik sind faktisch ausgereizt, lediglich ein deutliches Modernisierungsprogramm für die Infrastruktur oder Umverteilung zugunsten der privaten Nachfrage könnte der lahmenden Ökonomie neue Impulse verleihen.

Zu den Risiken für einen Übergang in einen neuen Konjunkturzyklus gehört schließlich, dass Japan eine Abwertung des Yen durch eine expansive Geldpolitik eingeleitet hat. Gleichermaßen ist von einer Abwertung der argentinischen Peso eine Verschärfung der Wettbewerbsbedingungen in Südamerika zu erwarten. Es ist keineswegs überzogener Pessimismus, wenn auf die Möglichkeit einer weiteren Verstärkung des Abschwungs der Weltwirtschaft und einer zeitlichen Verzögerung der Konsolidierungsphase hingewiesen wird. Zum Jahreswechsel sprechen mehr Faktoren für eine weitere Verschlechterung der Zahlungsbilanzsituationen verschiedener Länder an der Peripherie des kapitalistischen Weltsystems, eine anhaltende Reproportionierung der preislichen und stofflichen Strukturen des gesamtgesellschaftlichen Anlagekapitals in den Metropolen und einen verlängerten Periodenwechsel des Konjunkturzyklus.

Die rot-grüne Regierungskoalition hat die Berliner Republik ins Abseits manövriert. Das unterdurchschnittliche Wirtschaftswachstum hat entscheidend mit der seit Jahren verfolgten Politik der Lohnzurückhaltung, des Sozialabbaus und einer Flexibilisierung des Produktionspotenzials mit dem Ziel der Stärkung der Exportorientierung zu tun. Das neue Jahr wird mit Tarifforderungen der IG Metall eröffnet, die erstmals seit langem eine Ausschöpfung des gesellschaftlichen Verteilungsspielraumes durchsetzen will. Die Regierungskoalition sähe allerdings gerne Lohn- und Gehaltsabschlüsse auf dem Niveau der Preissteigerungsrate. Die Kopflosigkeit der Regierungskoalition wird ganz offenkundig bei der Absicht, beschleunigt eine Ausweitung des Niedriglohnsektors auf den Weg zu bringen. Wenn die Regierung nicht doch noch durch Druck aus dem Inland oder durch ihre europäischen Partner zu einem Kurswechsel in der Wirtschaftspolitik veranlasst wird, dann wird sie das Vertrauen bei den Parlamentswahlen im Herbst 2002 verlieren. Angesichts von steigender Arbeitslosigkeit, sinkenden Realeinkommen, beschleunigter Flexibilisierung, verstärktem Druck auf die Beschäftigungslosen und einer Verschlechterung der Sozialleistungen schreckt auch die Warnung vor einer Rückkehr der durch Spendenskandale und Bereicherungsmentalität diskreditierten bürgerlichen Parteien nicht länger.

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