26. September 2013 Asbjørn Wahl und Roy Pedersen

Norwegen: Europas progressivste Regierung unterliegt Rechtskoalition

Die rot-grüne Koalitionsregierung in Norwegen, über deren politische Plattform es zum Zeitpunkt der Regierungsübernahme 2005 hieß, sie sei die progressivste in Europa, hat eine bittere Niederlage bei den Parlamentswahlen am 9. September einstecken müssen.

Eine Allianz aus vier Mitte-Rechts-Parteien einschließlich einer rechtspopulistischen Partei erzielte eine solide Mehrheit und verhandelt zur Zeit ihr Regierungsprogramm. Der Wechsel erfolgt in einer Situation, in der die Einnahmen aus dem Ölgeschäft die Staatssäckel füllen, die wirtschaftliche Krise in Europa keine Rolle spielt, die Arbeitslosigkeit auf einen Tiefststand abgesackt ist, die Realeinkommen über einen längeren Zeitraum gestiegen sind und der Wohlfahrtsstaat noch überwiegend intakt ist. Kurz: Das Land mit seinen reichhaltigen Öl- und Gasvorkommen und einer Geschichte, die von demokratischer und sozialer Gleichheit geprägt ist, erscheint wie eine Insel der Glückseligkeit in einem stürmischen globalen Kontext. Wie in aller Welt konnte unter diesen Bedingungen eine rot-grüne Regierung ihre Mehrheit einbüßen?


Was ist passiert?

Die geschlagene Koalitionsregierung setzte sich aus drei Parteien zusammen: der Arbeiterpartei (30,8%/-4,5),[1] der Sozialistischen Linkspartei (4,1%/-2,1) und der mehrheitlich bäuerlichen Zentrumspartei (5,5%/-0,7). Diese Koalition kam 2005 an die Macht und wurde bei den Parlamentswahlen 2009 in ihrem Amt bestätigt. Die Opposition bestand (vom rechten Rand bis zu den Mitte-Rechts-Parteien betrachtet) aus der Fortschrittspartei (16,3%/-6,6), der Konservativen Partei (26,8%/+9,6), der Liberalen Partei (5,2%/+1,4) und den Christdemokraten (5,6%/+/-0).

Gewinner der Wahl war die Konservative Partei – Høyre –, die taktisch versiert ihre politische Rhetorik insbesondere gegenüber der Gewerkschaftsbewegung entschärft hat, so wie es die Konservativen in Schweden zuvor erfolgreich bei den dortigen Wahlen praktiziert hatten, ohne dass sich dadurch ihre praktische Politik geändert hätte. Die Sitzverteilung im Storting, dem norwegischen Parlament, sieht folgendermaßen aus: Die vier Mitte-Rechts-Parteien verfügen über 96 Mandate, die rot-grüne Allianz über 72; ein Sitz hat ein grüner Newcomer erobert.

Innerhalb der Mitte-Rechts-Koalition existieren starke Spannungen – insbesondere zwischen der Fortschrittspartei auf der einen und den Christdemokraten und Liberalen auf der anderen Seite. Gleichwohl: Alle haben zugesagt, gemeinsam eine neue Regierung bilden zu wollen – und das wird auch der Fall sein.


Die Hintergründe

Um den Wahlausgang zu verstehen, muss man die Hintergründe ein wenig beleuchten. Dazu müssen wir bis auf das Jahr 2000 zurückgehen, als die Arbeiterpartei, damals bereits unter Ministerpräsident Jens Stoltenberg, eine Minderheitsregierung bildete. Diese Regierung führte umfassende Privatisierungs- und Deregulierungsmaßnahmen durch – sowie andere Programmpunkte einer Dritte-Weg-Politik, damals maßgeblich von New Labour unter Tony Blair inspiriert –, die innerhalb der traditionellen sozialdemokratischen Wählerschaft extrem unpopulär waren. Das Ergebnis war eine katastrophale Niederlage bei den Wahlen 2001, als die Arbeiterpartei nur noch 24% der Stimmen erhielt – das schlechteste Ergebnis seit 1924 – und die Regierungsgeschäfte an Mitte-Rechts abgeben musste.

Diese Situation eröffnete größeren Teilen der Gewerkschaften und anderen progressiven Kräften die Chance, neu zu intervenieren. Es entstand ein breites Bündnis sozialer Kräfte, in dem die Gewerkschaftsbewegung aufgrund von Druck aus zahlreichen lokalen Gliederungen eine aktivere und progressivere Rolle einnahm. Dieses Bündnis führte dazu, dass sich die Sozialdemokratie wieder nach Links bewegte und erstmals in ihrer Geschichte eine Allianz mit der Sozialistischen Linkspartei und der Zentrumspartei einging. Diese drei Parteien verständigten sich auf eine Anti-Privatisierungs-Plattform, gewannen 2005 die Parlamentswahlen und verständigten sich – wie eingangs angemerkt – auf das fortschrittlichste Regierungsprogramm Europas (wobei man sagen muss, dass die Konkurrenz in dieser Hinsicht nicht sehr stark ist). Vier Punkte waren für den damaligen Erfolg maßgeblich:

1. Konzentration auf politische Alternativen, denen ein systemkritischer Blick auf die ökonomische, soziale und politische Entwicklung zugrunde lag.

2. Die Bildung neuer, breiter und nicht nur auf traditionellen Kräften gründender Allianzen.

3. Ausarbeitung konkreter Alternativen zu Privatisierung und Vermarktlichung.

4. Gewerkschaften, die sich als unabhängige politische Akteure verstanden.

Erstmals in seiner Geschichte forderte der Gewerkschaftsbund LO die Bevölkerung dazu auf, eine der rot-grünen Parteien zu wählen, also nicht nur die Arbeiterpartei, was zuvor gängige Praxis war. Dies führte zur Polarisierung des Wahlkampfs zwischen Links und Rechts, was die politischen Alternativen konturierte und die Mobilisierung für einen progressiven Wandel erleichterte.

Die rot-grüne Regierung begann 2005 mit der Umsetzung einer Reihe fortschrittlicher Programmpunkte. Mit der Zeit und dem Erlahmen des Drucks der außerparlamentarischen Bewegungen fiel die Regierung jedoch in Mainstream-Politik zurück und verließ ihre »Neue Linie«. Auch wenn bedeutsame Teile der Gewerkschaftsbewegung an politischer Autonomie gegenüber der Arbeiterpartei gewonnen hatten, blieben doch andere Teile loyal an der Seite der Regierung, statt sich deren Kurswechsel entgegenzustellen, wie beispielsweise bei der Kürzung von Wohlfahrtsleistungen. Der Fehler, den Druck auf die Arbeiterpartei nicht aufrechtzuerhalten, ist aus unserer Sicht der maßgebliche Grund für die schließliche Wahlniederlage 2013 – für die die Gewerkschaftsbewegung somit Mitverantwortung trägt.


Die Wurzeln der Unzufriedenheit

Was machte mehr und mehr Wähler von Rot-Grün unzufrieden mit »ihrer« Regierung? Es waren nicht in erster Linie die Einkommen und sonstigen materiellen Lebensbedingungen (mit Ausnahme der explodierenden Immobilienpreise). Es sind vor allem die Entwicklungen auf dem Arbeitsmarkt (angesichts der Polarisierung zweifelsohne nicht für alle gleichermaßen). Diejenigen, die sich am meisten abrackern und plagen, sahen sich von Rot-Grün am wenigsten repräsentiert. Dies, obgleich die Regierung unter dem Druck der Gewerkschaften einige bedeutende Maßnahmen gegen Sozialdumping ergriff.

Der Umbau des öffentlichen Sektors nach Maßgabe des New Public Management führte zu wachsender Frustration und Unzufriedenheit – insbesondere bei der extrem unpopulären Krankenhausreform. Es entstand eine Kultur des Misstrauens – nicht zuletzt durch ein Management der Steuerung mit Zielvorgaben, das zu verstärkten Kontrollen von Oben, einem ausufernden Berichtswesen und der Zentralisierung von Macht führte, während gleichzeitig Verantwortung nach unten durchgereicht und die Einflussnahme auf die eigenen Arbeitsbedingungen geschwächt wurde.
In weiten Teilen sowohl des privaten wie des öffentlichen Sektors haben zunehmender Wettbewerb, die Aufspaltung von Unternehmen, Outsourcing und aggressive Forderungen von Finanzinvestoren zu einer fortschreitenden, für viele kaum noch erträglichen Intensivierung der Arbeit geführt. Dies geschieht vor allem dort, wo Gewerkschaften schwach sind oder wo Unternehmen durch Ausschreibungen, Outsourcing und den zunehmenden Einsatz von Zeitarbeit es geschafft haben, Gewerkschaften nicht nur weiter zu schwächen, sondern sie teilweise sogar loszuwerden. Diese Brutalisierung der Arbeit lässt ein Gefühl der Machtlosigkeit entstehen, führt zu Resignation und dem Eindruck, wertlos zu sein. Die daraus resultierende Unzufriedenheit bis hin zu Aggressionen richtet sich nicht zuletzt gegen die politisch Verantwortlichen – aus durchaus berechtigten Gründen.

Die Workfare-Politik, die die Schwächsten auf dem Arbeitsmarkt trifft, wird als repressive, disziplinierende Bestrafung erfahren – das Gegenteil von Hilfe und Unterstützung von Seiten eines generösen Wohlfahrtsstaates. Vieles davon geht zurück auf den bürgerlichen Moralismus Ende des 19. Jahrhunderts, der soziale Probleme, Arbeitslosigkeit und Exklusion als Folge einer mangelnden individuellen Arbeitsethik auffasste.

Die rot-grüne Regierung verwässerte ihre Haltung gegenüber Privatisierung immer mehr, betrieb schließlich sogar eine umfassende Kommerzialisierung der Kindergärten. Ihre Rentenreform schwächte und individualisierte das Rentensystem, indem Niedrigverdiener von Frühverrentung ausgeschlossen und die Rentenansprüche der nachwachsenden Generation gekürzt wurden. Fischerei und Landwirtschaft öffnete die Regierung für Kapitaleigentum, obgleich diese Industrien in der Vergangenheit stark reguliert und kollektiv durch die Gemeinschaft der Produzenten organisiert waren.

Im Unterschied zu vielen vorangegangenen Wahlkampagnen kündigte die Regierung dieses Mal nicht eine einzige neue Reform an, für die ihre Unterstützer hätten mobilisieren und damit für einen erneuten Sieg werben können. »Die Rechte ist schlimmer« war das äußerst defensive Argument für viele aus den Gewerkschaften. Nimmt man hinzu, dass Rot-Grün sich an imperialistischen Kriegen (Afghanistan, Libyen) beteiligte und verstärkt mit dem Internationalen Währungsfonds sowie der Weltbank kooperierte (im Regierungsprogramm von 2005 hatte sie das Gegenteil versprochen), hat man eine Regierung vor Augen, die Schritt für Schritt ihre einstige progressive Plattform verlassen und sich soften Mainstream- oder neoliberalen Positionen angepasst hat. Das sind die Gründe, weshalb sie die Wahlen verloren hat – sie hat sich selbst ein Bein gestellt.


Die Fortschrittspartei

Viele Kommentatoren außerhalb Norwegens waren überrascht, dass die frühere Partei des Terroristen Anders Behring Breivik nur zwei Jahre nach dem Mord an 69 jungen Sozialdemokraten Teil der neuen Regierung sein wird. Breivik war früher Mitglied der Jugendorganisation der Fortschrittspartei gewesen, doch sie wurde dafür in Norwegen nicht verantwortlich gemacht. Breiviks Extremismus entwickelte sich im Kontakt mit anderen rechten Netzwerken, nachdem er die Partei, die er dafür kritisierte, zu liberal zu sein, verlassen hatte.

Die norwegische Fortschrittspartei ist eine typisch rechtspopulistische Partei und gilt im Vergleich zu anderen als durchaus moderat. In ihren wirtschaftspolitischen Auffassungen ist sie neoliberal und anti-gewerkschaftlich. Einerseits hat die Partei in ihrer Geschichte verschiedentlich Mitglieder ausgeschlossen, die offen rassistische Ansichten vertraten; andererseits hat sie in ihren Wahlkampagnen mehr oder weniger indirekt ausländerfeindliche Stimmungen befördert und weist nach wie vor einige extrem ausländerfeindliche Mitglieder in ihren Reihen auf. In vielem ist sie vergleichbar mit der Dänischen Volkspartei und teilt etliche Auffassungen der Schweden-Demokraten, obgleich die Fortschrittspartei sie nicht als ihre Schwesterparteien erachtet.

Gleichwohl: Wenn die Fortschrittspartei in die neue Regierung einzieht, stellt dies einen weiteren Durchbruch des Rechtspopulismus in Europa dar, der von vergleichbaren Parteien in anderen Ländern ausgeschlachtet werden dürfte.


Eine Protestwahl

Nichts spricht dafür, dass es in Norwegen ein gesteigertes Bedürfnis nach rechter Politik gibt. Das Wahlergebnis ist vielmehr Ausdruck von Frustration, Unzufriedenheit und Protest gegenüber der alten Regierung. Politische Veränderungen sind selten logisch-rational und die Fortschrittspartei hat es immer wieder verstanden, Unzufriedenheit für sich zu nutzen. In den diesjährigen Wahlen ist das auch der Konservativen Partei gelungen. Sie hat ihre politische Rhetorik abgerüstet und sich als sichere und mitfühlende Alternative zu Rot-Grün präsentiert, als eine Partei, die sich um die Alltagsprobleme kümmert.

Die Realität sieht gleichwohl anders aus. In vielen Bereichen, in denen die Wähler mit Rot-Grün unzufrieden sind, wird eine Rechtsregierung Verschlechterungen herbeiführen. Es wird mehr Privatisierung und Kommerzialisierung von öffentlichen Dienstleistungen geben, mehr Angriffe auf Tarifverträge und Arbeitnehmerrechte, Einschnitte bei den öffentlichen Ausgaben, um Steuersenkungen zu finanzieren. Öffentliches Eigentum wird zurückgefahren und ausländisches Kapital wird seinen Anteil in bedeutenden Sektoren der Wirtschaft erweitern. Ferner können wir mit aggressiver auftretenden Unternehmern und Unternehmerverbänden rechnen.

Vor dem Hintergrund der außergewöhnlich günstigen sozio-politischen Lage in Norwegen mit seinen reichhaltigen Ölvorräten und einer stabilen parlamentarischen Mehrheit sollte man meinen, dass die Wahlniederlage für Rot-Grün vermeidbar gewesen wäre – nicht in erster Linie dadurch, dass man mehr Gelder aus dem Ölgeschäft für alle möglichen Wohltaten ausgegeben hätte, sondern durch die Demokratisierung statt Kommerzialisierung des öffentlichen Sektors, die Regulierung der Finanzmärkte statt nur die Banken zu retten, Steuererhöhungen für die Reichen statt die öffentlichen Haushalte übermäßig zu begrenzen, öffentlichen sozialen Wohnungsbau usw. Dies jedoch ist nicht die Politik, für die die Arbeiterpartei steht – und die Sozialistische Linkspartei war nicht in der Lage, die politische Richtung zu verändern.

In dieser Hinsicht folgt die Entwicklung in Norwegen der anderer Länder in Europa, in denen Linksparteien mit Sozialdemokraten eine Regierung gebildet haben. Alle diese Experimente sind ohne Ausnahme negativ bis desaströs geendet: in Frankreich, Italien, Norwegen und gegenwärtig noch sehr viel schneller in Dänemark. Die linke Linke verliert dabei am meisten.

Einer sozialdemokratisch dominierten Regierung als Juniorpartner beizutreten in einer Situation, in der die Sozialdemokratie sich weit nach rechts bewegt hat, in der Finanzmärkte dereguliert und der Neoliberalismus als ökonomisches Modell in Europa institutionalisiert worden sind (zumindest in der EU, der Norwegen formell nicht angehört, in der es aber Teil des gemeinsamen Marktes ist) – eine solche Strategie mündet in einer Sackgasse. Es überrascht uns, dass keine der Linksparteien in Europa dies analysiert und daraus Schlussfolgerungen zieht. Es scheint so, dass die LINKE in Deutschland, die Sozialistische Partei in den Niederlanden und die Vänsterpartiet in Schweden darauf setzen, ein akzeptierter Partner in einer sozialdemokratisch geführten Regierung zu werden.

In Norwegen werden wir die Arbeit wieder aufnehmen müssen, die wir vor 2005 geleistet haben: breite soziale Bündnisse schaffen, ein systemkritisches Minimalprogramm ausarbeiten, für politisch unabhängige, fortschrittliche Gewerkschaften streiten, die mehr soziale und politische Verantwortung übernehmen – und die politischen Parteien der Arbeiterbewegung wieder verstärkt unter Druck setzen. Wir brauchen reale soziale Mobilisierung für reale Veränderungen.

Roy Pedersen ist Vorsitzender des Gewerkschaftsbundes LO in Oslo. Asbjørn Wahl leitet die »Kampagne für den Wahlfahrtsstaat« und ist Berater der Gewerkschaft der Kommunalbeschäftigten. Letzte Buchveröffentlichung: The Rise and Fall of the Welfare State, Pluto Press 2011. Übersetzung aus dem Englischen von Richard Detje.

[1] Aktuelles Wahlergebnis und Verluste/Gewinne gegenüber der Wahl im Jahr 2009.

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