1. Juli 2009 Christian Frings (Köln)

Notwendigkeit des Internationalismus

Die Forschungen und theoretischen Beiträge von Giovanni Arrighi haben wesentlich zum Verständnis des globalen Kapitalismus beigetragen – aus der Perspektive seiner Kritik und seiner historischen Unhaltbarkeit.

So wie Marx einmal schrieb, es gehe ihm nicht um sentimentale Betrachtungen über den bösen Willen des Kapitalisten, sondern darum, "seine Macht zu untersuchen, die Schranken dieser Macht und den Charakter dieser Schranken",[1] so hat Giovanni Arrighi ohne radikale Phrasen und in schonungsloser Nüchternheit erforscht, worauf sich die Macht des Kapitals gründet und welche Perspektiven die Kämpfe und die Macht von unten haben, ein globales System der Ausbeutung und der extremen Ungleichheit zu überwinden. Getreu dem Motto, dass an allem zu zweifeln sei, hat er immer wieder auf Widersprüche und Paradoxien im marxistischen Diskurs hingewiesen und zu Ausgangspunkten einer produktiven theoretischen Weiterentwicklung gemacht. Ende 2007 erschien sein letztes Buch, Adam Smith in Beijing, das 2008 in deutscher Übersetzung bei VSA veröffentlicht wurde.

Am 18. Juni 2009 ist Giovanni Arrighi in Baltimore, zu Hause und begleitet von seinem Sohn Andrea und seiner Lebensgefährtin und engsten theoretischen Mitstreiterin Beverly J. Silver, verstorben. Im Sommer 2008 war bei ihm ein bereits weit fortgeschrittenes Krebsleiden diagnostiziert worden. Zunächst erlaubte ihm eine intensive medizinische Behandlung, seine Lehrtätigkeit und die Betreuung seiner StudentInnen an der Johns-Hopkins-Universität in Baltimore fortzusetzen, und er sagte seine Teilnahme an einer internationalen Konferenz zur Dynamik der Krise vom 25. bis zum 29. Mai in Madrid (www.universdadnomada.net) zu. Wenige Tage vor dem Beginn der Konferenz, die seinem Lebenswerk gewidmet war und an der Freunde wie Robert Brenner, Perry Anderson oder Samir Amin sowie ehemalige StudentInnen von ihm teilnahmen, erlitt Giovanni Arrighi einen Rückfall und musste ins Krankenhaus. Auf der Konferenz war zu spüren, wie sehr den TeilnehmerInnen die kritischen Interventionen Giovannis fehlten, der den produktiven Streit liebte, aber dessen Härte der Kritik nie den freundschaftlichen Umgang mit seinen DiskussionspartnerInnen in Frage stellte.

Diese Großherzigkeit, die von vielen seiner ehemaligen StudentInnen hervorgehoben wurde, findet sich auch in seiner theoretischen Arbeit wieder, die von zwei bemerkenswerten Charakterzügen geprägt ist: Sein beständiger Appell, in aller gesellschaftsheoretischer Reflexion nie die extreme Ungleichheit auf der Welt als ganzer aus den Augen zu verlieren – und seine Bereitschaft, alle Argumente und theoretischen Ansätze völlig vorurteilslos zu prüfen oder in experimenteller, heuristischer Weise zu nutzen und zu kombinieren, frei von jeder persönlichen Eitelkeit oder den in der akademischen Welt so beliebten Eifersüchteleien diverser "Schulen".[2]Aus ganz pragmatischen Gründen hatte Giovanni Arrighi als junger Mann 1963 eine Lehrtätigkeit im damaligen Rhodesien (heute Simbabwe und Sambia) übernommen und bei der Untersuchung der dortigen Klassenverhältnisse festgestellt, dass weder die schönen ökonomischen Gleichgewichtsmodelle, die er in Italien an der Universität gelernt hatte, noch simple marxistische Proletarisierungstheorien die afrikanische Situation erklären konnten.[3] 1966 wurde er wegen Zusammenarbeit mit der damaligen Befreiungsbewegung für einige Tage festgenommen und dann abgeschoben. Er ging nach Daressalam, dem damaligen Mekka der intellektuellen Debatte zum Kampf gegen Kolonialismus und Neokolonialismus, wo er mit Leuten wie Walter Rodney, John Saul oder Immanuel Wallerstein, dem Begründer der Weltsystemtheorie, in Kontakt kam. Als er 1969 nach Italien zurückkehrte, um an der Universität von Trient zu unterrichten, geriet er in die Hochphase der militanten Arbeiter- und Studentenbewegung, konnte aber nie von dem abstrahieren, was er in Afrika erlebt hatte. Die Frage nach dem Zusammenhang und der Spaltung zwischen den Arbeiterkämpfen in den industrialisierten Metropolen und den Kämpfen im verarmten "Süden" und "Osten" des Weltsystems wurde konstitutiv für seine weiteren Forschungen. Als die Kämpfe in Norditalien abflauten, nahm er 1973 eine Stelle an der Universität von Cosenza in Kalabrien an, um die "Situationsanalyse", die er in Afrika gelernt hatte, auf die inneritalienische Migration anzuwenden: Wie kommt es, dass Proletarier aus Süditalien, wo eine ungebrochene Hegemonie der Rechten und Faschisten herrschte, als Massenarbeiter im Norden zur Avantgarde eines antikapitalistischen Kampfzyklus werden konnten? Diese Forschungen machten Arrighi skeptisch gegenüber dem, was der späte Lukács selbstkritisch als "zugeschriebenes Klassenbewusstsein" bezeichnete.

Als sich das 1976 von Wallerstein gegründete Fernand-Braudel-Institut an der Universität Binghamton (New York) zum Zentrum der Weltsystem-Forschung entwickelte, folgte Giovanni Arrighi dorthin und unterrichtete hier bis 1998 Soziologie. In den 1980er Jahren war Binghamton ein ungeheuer produktiver Ort des kollektiven Forschens und der globalen Debatte – "Wir sagten mit gewissem Stolz, dass zehn Prozent unserer StudentInnen ehemalige politische Gefangene aus aller Welt waren", erzählte einer der Teilnehmer der Konferenz in Madrid. Giovanni lernte dort Beverly Silver kennen, und zusammen mit anderen bildeten sie die World Labor Group, die sich die Erforschung der globalen Arbeiterunruhen zum Ziel setzte und auf deren Ergebnissen das Buch Forces of Labor: Arbeiterbewegung und Globalisierung seit 1870 (2005) von Beverly Silver beruht. Diese Arbeit zeigt den starken Einfluss der Debatten in Italien, die etwas oberflächlich und undifferenziert als "Operaismus" bezeichnet werden. Entscheidend war die Frage, ob und wie die Klassenkämpfe selber eine ökonomische Potenz sind, die das Walten scheinbar übermächtiger ökonomischer Gesetzmäßigkeiten beeinflussen oder modifizieren kann. Der vor allem mit dem Namen Toni Negri verbundenen ahistorischen Verabsolutierung des Klassenkampfs setzte Giovanni Arrighi eine historische Betrachtung entgegen. Er nahm die von Mario Tronti entworfenen Hypothesen zu einer "kopernikanischen Wende" im Marxismus (die Arbeiterklasse geht dem Kapital begrifflich und historisch voraus)[4] auf, aber anders als Negri tatsächlich als Hypothesen, die einer historischen Überprüfung zu unterziehen sind. Er orientierte sich an Trontis Forderung, eine "innere Geschichte der Arbeiterklasse" zu schreiben, und stieß darauf, dass die prägende Macht der Arbeiterklasse erst im historischen Verlauf über die Jahrhunderte und räumlich sehr differenziert manifest wird, wie er an den Besonderheiten des Krisenverlaufs in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts und an den Unterschieden zwischen dem Ausgang der Klassenkämpfe der 1930er Jahre in den USA und in Westeuropa zeigte.[5]

Von hier aus führte ein direkter Weg zu seinen Forschungen zu China in den letzten Jahren, nachdem er 1998 von Binghamton an die Johns-Hopkins-Universität in Baltimore gewechselt war. Ihm ging es dabei nicht, wie in mittlerweile wieder modisch gewordenen Imperiums-Theorien, um die Frage, welche neue Supermacht wohl die Rolle der USA nach ihrem zunehmend deutlicher werdenden Niedergang übernehmen könnte. Für ihn ist die Frage vielmehr, was es für die internationalen Klassenkämpfe und das globale Reichtumsgefälle bedeutet, wenn das Proletariat eines Landes von der Größe Chinas – oder auch Indiens – ins Zentrum der globalen Akkumulationsdynamik gerät.[6] In seinen Analysen hatte Arrighi immer wieder darauf hingewiesen, wie hartnäckig trotz aller Entwicklungsversprechungen und Entwicklungspolitik das globale Armutsgefälle geblieben war[7] und sich durch die Wende zur Finanzialisierung mit dem "Washingtoner Konsens" für manche Regionen, insbesondere Afrika, dramatisch verschärft hatte.[8] Wie würden sich durch den Aufstieg Chinas und Indiens auch die Koordinaten im globalen Klassenkampf verschieben und die Macht von unten eine neue Dimension entfalten?[9]

Anfang August 2008 informierte Giovanni seine KollegInnen an der Universität in einer zusammen mit Beverly Silver verfassten Mail über seine gesundheitliche Situation und die statistisch gesehen schlechte Prognose seiner Lebensperspektiven. Aber es gehe ihm gut, er bereue nichts – und, auch wenn es unglaubwürdig klinge, er sei sogar glücklich, was er nicht weiter erklären wolle. Giovanni Arrighi hat den Anfang vom Ende des "langen 20. Jahrhunderts" eines unter der Hegemonie der USA expandierenden kapitalistischen Weltsystems noch miterlebt. Einen Theoretiker, der diese Krise schon in den 1990er Jahren in den langen Lauf des historischen Kapitalismus über sechs Jahrhunderte eingeordnet und als unvermeidlich vorausgesehen hat, dürfte diese Entwicklung geradezu elektrifiziert haben. Vor dem Hintergrund seiner historischen Forschungen zum blutigen Charakter der bisherigen, lang andauernden Übergangsphasen hat er sich keinem vorschnellen Optimismus hingeben können. Aber es war seine feste Überzeugung, dass sich mit der beginnenden "terminal crisis" dieser letzten Expansionsphase historische Möglichkeiten für eine Macht von unten ergeben, wie es sie in der Geschichte des Kapitalismus bisher noch nie gegeben hat. In den in den nächsten Jahren sicherlich intensiver werdenden Diskussionen über Verlauf und mögliche Auswege aus der Krise des Kapitalismus – oder besser, wie sein Freund Samir Amin sein neuestes Buch betitelte: aus einem krisenhaften Kapitalismus heraus[10] – wird uns dieser kritische und kreative Denker fehlen.

[1] Karl Marx: "Lohn, Preis und Profit", in: Marx-Engels-Werke, Bd. 16, S. 105.
[2] Ein bemerkenswertes Dokument dieser Haltung ist sein Text "Capitalism and the Modern World-System: Rethinking the Non-Debates of the 1970s" (http://www.binghamton.edu/fbc/gaasa96.htm), in dem er zeigt, welche theoretisch produktiven Möglichkeiten verpasst wurden, weil bestimmte Debatten aus theoriefremden Gründen nicht ausgetragen wurden.
[3] In einem Interview, dass David Harvey im Frühjahr mit Giovanni Arrighi führte, erzählt er ausführlich von seinem persönlichen und theoretischen Werdegang: "The Winding Paths of Capital", New Left Review, Nr. 56, März-April 2009. Eine deutsche Übersetzung wird zusammen mit weiteren Texten im Herbst bei VSA erscheinen.
[4] Siehe Mario Tronti: Arbeiter und Kapital, Frankfurt a.M.: Verlag Neue Kritik 1974; verbesserte Übersetzung: Thekla 9, Berlin: Sisina (wildcat) 1988.
[5] Eine erste Annäherung an diese Historisierung des "Operaismus" findet sich in seinem Aufsatz "Towards a Theory of Capitalist Crisis", in: New Left Review 1/111, September-Oktober 1978, der auf Vorträgen beruht, die er 1972 vor Arbeitern in Norditalien gehalten hatte. Zum Vergleich zwischen Westeuropa und den USA in den zwanziger und dreißiger Jahren siehe: Giovanni Arrighi und Beverly J. Silver: "Labor Movements and Capital Migration: The United States and Western Europe in World Historical Perspective", in: C. Bergquist (Hrsg.), Labor in the Capitalist World-Economy, Beverly Hills 1984.
[6] Für Giovanni Arrighi bilden die drei Bücher, die er – ob ausgewiesen oder nicht immer in Zusammenarbeit mit vielen anderen – herausgegeben hat, eine 'Trilogie': The Long Twentieth Century. Money, Power, and the Origins of Our Times (1994), Chaos and Governance in the Modern World System (1999) und Adam Smith in Beijing. Die Genealogie des 21. Jahrhunderts (2007/2008).
[7] Giovanni Arrighi, Beverly J Silver, Benjamin D. Brewer: "Industrial Convergence, Globalization, and the Persistence of the North-South Divide", in: Studies in Comparative International Development, Vol. 38, No. 1, 2003.
[8] Giovanni Arrighi: "The African Crisis", in: New Left Review, Nr. 15, May-June 2002; siehe auch: Arrighi: "World Income Inequalities and the Future of Socialism", in: New Left Review, Nr. I/189, September-Oktober 1991.
[9] Giovanni Arrighi und Beverly J. Silver: "Workers North and South", in: Socialist Register 2001.
[10] Samir Amin: La Crise – Sortir de la crise du capitalisme ou sortir du capitalisme en crise, Paris: Le Temps des Cerises 2009.

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