1. Dezember 2004 Kilian Stein

Nur ein bisschen Folter

Seit gut eineinhalb Jahren geistert durch die Medien eine Debatte über die Folter, in der sich eine Minderzahl von Befürwortern und eine Mehrzahl von Gegnern einer Relativierung des Verbots von Folter gegenüberstehen. Geht das die Linke etwas an? Oder kann sie die Debatte als bloßes Medienereignis ignorieren?

Die Rechtslage ist vollkommen klar: Das an alle Staaten adressierte Verbot von Folter ist seit der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948 in den einschlägigen Rechtsdokumenten als absolut bestimmt. Keinerlei Umstände sollen staatlichen Organen das Recht geben, von diesem Verbot abzuweichen.[1] Es ist das einzige, keine Ausnahme kennende universelle Verbot neben dem der Sklaverei.

Von der Bundesrepublik lässt sich sagen, dass sie bislang sowohl in ihrer Gesetzgebung als auch faktisch die Ächtung von Folter anerkennt. Eine Aufweichung des Verbots war auch lange Zeit kein ernstliches Thema öffentlicher Erörterung. Das hat sich auch im Zusammenhang mit den Isolationshaftbedingungen für Angehörige der RAF gezeigt. Was nicht sein durfte, sollte auch nicht sein können. Seit der Entführung und Ermordung des Bankierssohns Jakob von Metzler in Frankfurt ist das Tabu gebrochen. Zwar nicht zur Aufklärung einer Straftat, aber zu präventiven Zwecken, um das Leben von Menschen zu retten, solle der Staat ausnahmsweise berechtigt sein, zum Mittel der Folter zu greifen. Der Zweck der Anordnung von Folter durch den Frankfurter Polizeivizepräsidenten Daschner — es ging, wie erinnerlich, darum, von einem Kidnapper Informationen zu erhalten, die das Leben eines Kindes retten sollten — eignete sich ausgezeichnet, vom Brei der Gefühle auszuteilen. (Zur anfänglichen Diskussion und den auf der Hand liegenden Gegenargumenten vergleiche "Wir können auch anders!" in Sozialismus 4/2003.) Seitdem hat sich die "Folterdebatte" in den Medien wie ein Lauffeuer verbreitet. Das Schwergewicht der Begründungen für eine Relativierung hat sich jedoch auf den "Kampf gegen den internationalen Terrorismus" verlagert, dem Generalnenner für die Stärkung der repressiven Seite des Staates im Bereich der Sicherheitspolitik. Das eminent Gefährliche an dieser öffentlichen Auseinandersetzung ist eine allmähliche Gewöhnung der Öffentlichkeit an den Gedanken, dass der Staat ohne das Mittel der Folter nicht auskomme. Das deckt Heiner Bielefeldt auf: "Es ist durchaus denkbar, dass angesichts der Bedrohung durch den Terrorismus, die spätestens mit dem Anschlag vom 11. März 2004 in Madrid auch unmittelbar Europa erreicht hat, mit der Zeit eine Stimmung entsteht, in der der Einsatz von Folter immer mehr ›denkbar‹ wird... Die sukzessive Erosion des Folterverbots ist eine reale politische Gefahr."[2]

Parallel zu dem Wirbel in den Medien äußern sich Rechtswissenschaftler zustimmend zu einer Relativierung, auch wenn diese noch eine Minderheit darstellen. Der Strafrechtsprofessor Brugger, der seit langem für Ausnahmen vom Verbot von Folter agitiert und dabei ziemlich alleine stand, hat Mitstreiter gefunden.[3] In der Neukommentierung des Art. 1 GG in dem verbreitetsten Kommentar zum Grundgesetz (Maunz/Dürig) versteht der Staatsrechtler Matthias Herdegen die Menschenwürde — in der Werteskala des Grundgesetzes ganz oben und die Grundlage für das absolute Verbot von Folter — als ein Rechtsgut unter anderen, das in jedem Einzelfall mit diesen anderen Gütern abzuwägen ist: "... im Einzelfall (kann es sich) ergeben, dass die Androhung oder Zufügung körperlichen Übels, die sonstige Überwindung willentlicher Steuerung oder die Ausforschung unwillkürlicher Vorgänge wegen auf Lebensrettung gerichteter Finalität nicht den Würdeanspruch verletzen."[4] Von einem geradezu archaischen Gesellschaftsverständnis getragen ist die von dem Strafrechtsprofessor Günther Jacobs vorgeschlagene "Lösung": Wenn ein Mensch sich so fundamental gegen die Rechtsordnung stelle, dass mit ihm eine rechtliche Gemeinschaft unmöglich sei, müsse für ihn "Feindstrafrecht" gelten, weil seine Achtung als Rechtsperson außer Kraft gesetzt sei.[5] Die Anlehnung an die Unterscheidungen von Freund und Feind als einer zentralen Kategorie des Politischen bei Carl Schmitt und an die zwischen Reichsbürgern und bloßen Reichsangehörigen unter den Nazis ist offensichtlich.

Ungeachtet des öffentlichen Lärms, eine Legalisierung von Ausnahmen vom Folterverbot, und sei es durch die Rechtsprechung, dürfte gegenwärtig und auf absehbare Zeit in Deutschland nicht anstehen. Darauf deutet die Erhebung der Anklage gegen Daschner wegen Nötigung in einem besonders schweren Fall und ihre Zulassung durch das Landgericht Frankfurt. Ganz ungeschoren wird Daschner nicht davonkommen, auch wenn das Verfahren nicht mit einer Bestrafung, sondern wohl mit einer Einstellung wegen geringer Schuld gegen Zahlung einer Buße enden wird.

Die Kampagne hat allerdings doch einen fatalen unmittelbar praktischen Bezug. "Die Rückkehr Deutschlands zur Normalität in der Außenpolitik" (Thierse) bringt einen Zwang zur Anpassung an die Praxis anderer kapitalistischer Staaten mit sich und schafft damit ein Interesse, möglichst große Teile der Bevölkerung dazu zu bringen, den Krieg als ein normales Mittel der Politik zu akzeptieren. Die Anwendung von Folter aber, das zeigt sich im Irak erneut, liegt in der Logik von Eroberungs- und Unterdrückungskriegen. Die historische Erfahrung belegt das.

In den entwickelten kapitalistischen Staaten selbst wurde und wird das Verbot von Folter respektiert, wenn man von dem Vorgehen Großbritanniens gegen die IRA in Nordirland, dem Kampf gegen die ETA in Spanien und den Folterpraktiken der geheimen französischen Militärorganisation OAS und der Fremdenlegion im Algerienkrieg einmal absieht. Aber in ihrer Außenpolitik, in ihren Kriegen, bei ihren subversiven Aktionen und im Zuge der Organisation von Putschen haben sich diese Staaten nie von der Ächtung der Folter beeindrucken lassen. So heute die USA im Irak. Es unterliegt keinem ernstlichen Zweifel, dass dort systematisch und permanent gefoltert wird, in der Zwischenzeit — ähnlich wie seinerzeit in Vietnam —unter Assistenz der dortigen Marionettenregierung und mit Hilfe ehemaliger Häscher Saddam Husseins. Das Einverständnis der Regierung in Washington kann man für sicher nehmen. Wenn Deutschland an der Seite so "bewährter" Verbündeter in Kriege zieht, werden für Bundeswehr, Geheindienste etc. die gleichen Zwänge entstehen. Schon jetzt steckt das Land durch die vielfältige Unterstützung des kolonialistischen Okkupationsregimes im Irak tief in diesem Dreck – mit dem traurigen Resultat, dass die Gefahr terroristischer Anschläge in der Republik größer geworden ist.[6] Die "Folterdebatte" trägt dazu bei, in Deutschland den offenbar in allen kapitalistischen Metropolen vorhandenen tief rassistischen, der Politik der Gewalt nach außen nützlichen Konsens zu fördern, dass Folter im Inneren verpönt, aber hinzunehmen ist, wenn sie "hinten, weit, in der Türkei" gegen Barbaren verübt wird.

Die öffentliche Debatte zur Folter ist kein isoliertes Phänomen, ein Feld, auf dem sich Exoten und Wichtigtuer tummeln. Sie ist Teil und Ausdruck einer sämtliche gesellschaftliche Bereiche erfassenden reaktionären Entwicklung. Bürgerrechte werden zunehmend als Hemmnisse auf dem Weg zu vermeintlich mehr Sicherheit angesehen. "›Sicherheit‹ wird zum Supergrundrecht erklärt, das alle anderen individuellen Grund- und Freiheitsrechte in den Schatten zu stellen droht. Etliche der ›Anti-Terror‹-Maßnahmen ... dürften Merkmale eines autoritär-präventiven Sicherheitsstaates aufweisen."[7]

In der öffentlichen Meinung findet diese bedrohliche Entwicklung bisher nur wenig Aufmerksamkeit. Es ist zu hoffen, dass die sozialen Deformationen, welche die kapitalistische Ökonomie und die Politik derzeit anrichten, viele der um Lebenschancen geprellten Menschen dazu bringen werden, hier schärfer hinzusehen. Es gehört in meinen Augen zu den wesentlichen Aufgaben der in Entstehung begriffenen linken politischen Formation, diesen Prozess zu unterstützen.[8]

Kilian Stein war Richter in Berlin.

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