1. November 2009 Daniel Weidmann

Organizing und Betriebsverfassung

Das Schlagwort "Organizing" ist in Gewerkschaftskreisen in aller Munde.

Knapp zwei Jahrzehnte nach den ersten großen Erfolgen einiger nordamerikanischer Dienstleistungsgewerkschaften wie etwa der SEIU, CWA oder HERE, denen es durch die Umstellung ihrer Organisation weg vom Modell der Dienstleistungsgewerkschaft hin zur politischen Mobilisierung ihrer Mitglieder und einem darauf aufbauenden bemerkenswert aggressiven Programm zur Steigerung ihrer Organisationsmacht gelungen ist, den Fall ihrer Mitgliederzahlen ins Bodenlose zu bremsen und umzukehren, möchten nun auch die DGB-Gewerkschaften in Deutschland im großen Stil von diesen neuen Methoden der Mitgliedergewinnung profitieren.

Bei einer Organizing-Kampagne nach amerikanischem Vorbild werden unternehmens- oder sogar rein betriebsbezogene Gewerkschaftskampagnen lanciert, die inhaltlich überwiegend an den Wünschen und Bedürfnissen der Mitglieder in spe ausgerichtet sind, statt von vornherein ein (tarifliches) Kampagnenziel vorzugeben. Umgesetzt wird so ein Projekt zunächst von einer Gruppe externer hauptamtlicher Organizerinnen, die im Laufe der Kampagne dann sukzessive von einer Betriebsgruppe, dem Organizing-Comittee, ersetzt werden sollen.

Bei einigen der jungen Organizer[1] in den Reihen der DGB-Gewerkschaften, die dieses Konzept nun in deutschen Betrieben erproben, scheint eine gewisse Skepsis gegenüber der deutschen Betriebsverfassung[2] zu bestehen. Das mag aus verschiedenen Gründen verständlich sein, darf aber nicht so bleiben. Denn nächstes Jahr stehen bundesweit Betriebsratswahlen an. Die Chancen, die diese Wahlen für die Rückgewinnung gewerkschaftlicher Organisationsmacht in den Betrieben bieten, dürfen nicht einfach verspielt werden. BR-Wahlen finden schließlich nur alle vier Jahre statt.

Das Übertragungs-Problem

Spätestens seit den Reibungen, die sich im Laufe der ersten Pilotprojekte zwischen den in die Betriebe gesandten externen Organizerinnen und den Vertretern der etablierten betrieblichen Gewerkschaftsstrukturen ergeben haben, ist deutlich geworden, dass eine 1:1-Übertragung der amerikanischen Methoden auf deutsche Betriebe wegen der spezifischen Traditionen der hiesigen industriellen Beziehungen und ihrem Niederschlag im kollektiven Arbeitsrecht – vor allem dem Betriebsverfassungsgesetz (BetrVG) – nur mit großem Aufwand zur Überwindung innergewerkschaftlicher Widerstände gelingen wird.

In dieser Frage nun trotz dieser Erkenntnis stur auf Kurs zu bleiben, wäre aus zwei Gründen schade: Zum einen wäre dieser Kraftaufwand wesentlich besser investiert in die gewerkschaftliche Auseinandersetzung mit dem Gegner. Zum anderen beraubt man sich eines der schärfsten Schwerter in dieser Auseinandersetzung, wenn man die gewerkschaftspolitischen Handlungsmöglichkeiten, die die Betriebsverfassung den betrieblichen Aktivisten bietet, einfach außer Acht lässt, nur um eine 1:1-Übertragung des Organizing-Konzepts zu gewährleisten.

Der Organizing-Ansatz kommt aus den USA, das Betriebsverfassungsgesetz (BetrVG) gibt es so nur in Deutschland. Das duale System der Interessenvertretung deutscher Belegschaften durch die zuständige Branchengewerkschaft einerseits und durch den Betriebsrat (BR) andererseits ist ein deutsches Unikum. Dass das ursprüngliche Organizing-Konzept die hiesige Betriebsverfassung nicht berücksichtigt, vermag also nicht weiter zu verwundern.

Zudem kommen viele junge Organizer der DGB-Gewerkschaften – wahrscheinlich eine deutliche Mehrheit – aus den sozialen Bewegungen Deutschlands. Der Organizing-Ansatz verträgt sich blendend mit der basisdemokratischen Sozialisation dieser Nachwuchs-Gewerkschafterinnen. Was sie am Organizing-Konzept so fasziniert, ist gerade die klare Absage an den Dienstleistungs- und Stellvertreter-Ansatz klassischer Gewerkschaftspolitik, mit der die SEIU in Kalifornien am Ende des vergangenen Jahrhunderts angetreten ist. Die meisten von ihnen erhoffen sich nicht weniger als eine Renaissance der Gewerkschaften als offene, lebendige und kämpferische Interessenvertretung der Beschäftigten dieses Landes.

Wo Betriebsräte helfen

Hierbei ist allerdings zweierlei zu bedenken: Zum einen stammen die jüngsten Erfahrungen überwiegend aus Großbetrieben, denn dort laufen die meisten der üppig budgetierten Organizing-Pilotprojekte. Großhandelswarenlager und Krankenhäuser sind aber nur ein Teil der deutschen Arbeitswelt. In kleinen und mittelgroßen Betrieben spielen die Belegschaftsvertretungen eine ganz andere Rolle. In zahllosen Supermärkten, privatisierten Schwimmbädern oder Automobilzuliefererbetrieben werden die Beschäftigten auch künftig nicht mit dem Luxus der Aufmerksamkeit eines hauptamtlichen Vollzeit-Organizers rechnen können und müssen weiterhin mit der nur punktuellen Unterstützung ihres Betreuungssekretärs Selbstorganisation schaffen. Hierbei hilft die BR-Struktur ungemein, weil sie auch unabhängig von konkreter Einzelfallunterstützung des Gewerkschaftsapparats funktioniert und ihren Akteuren Schutz bietet.

In Kleinbetrieben ist gewerkschaftspolitisches Engagement für alle Beteiligten viel sichtbarer. In diesen Betrieben geraten die Aktivistinnen an der Basis daher oft viel schneller in die Schusslinie ihrer Arbeitgeber. Deshalb brauchen sie den besonderen Schutz der Betriebsverfassung vor Kündigung, Repression und Diskriminierung sogar noch dringender als ihre Kolleginnen aus den Großbetrieben. Oft genug wählen die Aktivistinnen selbst daher den "offiziellen" Weg des BetrVG, um ihre Ideen von betrieblicher Veränderung in Angriff nehmen zu können und gründen einen Betriebsrat. Dass sie diesen Weg gehen, macht sie aber nicht über Nacht zu schlechteren Aktivistinnen.

Und auch in Großbetrieben ist die Entrückung der BR-Mitglieder weg von der betrieblichen Basis keineswegs zwangsläufig vorherbestimmt. Dieser Prozess hängt vor allem von zwei Faktoren ab, die sich gegenseitig sehr stark bedingen: Der demokratischen Kultur im Betrieb und der Sozialisation neu gewählter BR-Mitglieder.

BR-Mitglieder fallen nicht vom Himmel, sondern werden gewählt. Wenn eine Belegschaft einfach ihre Meister, Abteilungsleiterinnen und Disponenten in den BR wählt (was leider immer noch vorkommt), braucht sie sich über fehlende demokratische Sensibilität ihrer Interessenvertretung später nicht zu wundern. Hier können ein Gewerkschaftsapparat "von außen" und eine organisierte aktive Gewerkschaftsbasis im Innern des Betriebs aber viel bewirken: Indem sie vor der Wahl organisierte Basisaktivistinnen als ihre Kandidaten benennen und allen Beteiligten von vornherein klar machen, dass nirgendwo im BetrVG geschrieben steht, dass ein BR nach der Wahl vier Jahre lang sein eigenes Süppchen kochen muss oder darf. Dies ist die Aufgabe, vor der die Gewerkschaften angesichts des immer näher rückenden Wahltermins im Frühjahr 2010 nun stehen.

Wechselseitiges Lernen

Auch die gewerkschaftliche Ausbildung der neuen Belegschaftsvertreter kann hier aber viel beitragen: BR-Mitglieder dürfen während der Arbeitszeit unter Fortzahlung ihres Entgelts an zahlreichen Betriebsverfassungsseminaren teilnehmen, deren Kosten meist der Arbeitgeber tragen muss. Hier wird derzeit viel verschenkt: Obwohl die gewerkschaftsnahen Bildungsträger zahlreiche gute Leitfäden und Seminarkonzepte vorhalten, kommen gewerkschaftspolitische Themen auf den Seminaren dennoch häufig viel zu kurz. Der Schwerpunkt der Seminare liegt oft zu sehr auf der rechtlichen Ebene der Interessenvertretung, nicht bei der Frage nach der Interaktion mit der Belegschaft. Wenn im Betrieb aber eine Organizing-Kampagne läuft, müssen die BR-Mitglieder auch auf spezielle Organizing-Seminare eingeladen werden können, in denen sie von vornherein gegen ein klassisches Stellvertreterpolitikverständnis gewappnet werden und lernen, wie sie ihre Rechte aus dem BetrVG für effektive Gewerkschafts- und Organizing-Arbeit nutzen können.

Ansatzpunkte hierfür gibt es viele. Bereits erwähnt wurde der besondere Schutz, den das BetrVG Betriebsratsmitgliedern gewährt. Betriebsräte genießen Kündigungsschutz, ordentliche Kündigungen eines BR-Mitglieds sind nicht möglich. Selbst die fristlose Kündigung bedarf der Zustimmung des Gremiums. Auch Diskriminierung und Repressalien z.B. durch Benachteiligung bei Arbeitsbedingungen oder Entgeltentwicklung sind verboten. Die Beeinträchtigung der BR-Arbeit ist eine schwere Straftat. Um diese Verbote zu umgehen, bedarf es daher großer krimineller Energie auf Arbeitgeberseite. Dieser Schutz eröffnet großen Spielraum für offensive Gewerkschaftsarbeit, der unbedingt genutzt werden muss. Schließlich riskieren aktive Gewerkschafterinnen in vielen Betrieben mit ihrem Engagement ihre Existenzgrundlage.

Kampagnenunterstützung

Lehrbuch-Ausgangspunkt einer Organizing-Kampagne nach amerikanischem Vorbild ist eine umfassende Unternehmensrecherche, die wirtschaftliche Beziehungen und Schwachstellen des möglichen Kampagnenziels ausmachen soll, um festzulegen, wo Organizing-Arbeit gemacht werden soll und wie man dem Unternehmen idealerweise auf den Pelz rückt. Bereits hierbei ist die Einbeziehung des BR Gold wert, denn mit ein bisschen Begründungsgeschick kann er von seinem Arbeitgeber umfassend all die Informationen verlangen, die zur Erledigung seiner Aufgaben erforderlich sind.

Konkret nutzbar für den Aufbau einer betrieblichen Basis, den zweiten Schritt einer Organizing-Kampagne, ist dann vor allem die große Bewegungsfreiheit, die BR-Mitglieder im Betrieb genießen. Zwar haben in Deutschland anders als in den USA auch externe Gewerkschafterinnen Zutritt zum Betrieb. Sie können im Innern der meisten Betriebe aber längst nicht mit der gleichen Selbstverständlichkeit agieren wie ein BR-Mitglied.

Der Arbeitgeber muss nicht nur dulden, dass BR-Mitglieder während der Arbeitszeit Betriebsratsarbeit machen, er muss diese Arbeitszeit auch bezahlen! Diese BR-Arbeit muss auch keineswegs schwerpunktmäßig im Betriebsratsbüro stattfinden. BR-Mitglieder können sich während der Arbeitszeit frei im Betrieb bewegen und mit den Beschäftigten über alle betrieblichen Belange sprechen. Und dabei müssen sie entgegen der leider weit verbreiteten Annahme auch keineswegs mit Gewerkschaftswerbung sparen. Die kontinuierliche aktivierende Belegschaftsbefragung ist Kernbestandteil jeder Organizing-Kampagne. Auf ihren Ergebnissen beruht nicht nur die Kampagnen-Strategie der Organizerinnen, sondern im Idealfall das ganze Kampagnenziel. Sind BR-Mitglieder erst einmal von den Organizing-Methoden überzeugt und geschult worden, können sie die Hauptamtlichen bei der Befragungsarbeit intensiv unterstützen.

In den weiteren Schritten einer Organizing-Kampagne sollen weitgehend die Beschäftigten das Ruder in die Hand nehmen, während sich die Organizerinnen langsam in den Hintergrund zurückziehen. Dagegen spricht auch bei Beteiligung von BR-Mitgliedern nichts, wenn im Gremium die politische Bereitschaft dazu geschaffen wurde. Ergänzend zur externen Gewerkschaftsunterstützung kann dann die autonome BR-Infrastruktur für den weiteren Kampagnenverlauf genutzt werden.

Schließlich bleibt zu fragen – und erst mit dieser Frage wird die betriebliche Mitbestimmung im engeren Sinne überhaupt berührt –, warum das Ziel einer Organizing-Kampagne (der "Plan To Win"), aufbauend auf den Bedürfnissen der Belegschaft nicht auch auf den Abschluss von Betriebsvereinbarungen zielen kann, wenn die entschlossenen Gewerkschaftsmitglieder eine Mehrheit im BR-Gremium stellen. Wenn die Belegschaftsbefragung ein Anliegen ergibt, das von der Mitbestimmung nach dem BetrVG erfasst wird, z.B. massenhafte Probleme mit Schichtlage, Überstundenanordnung oder Arbeitszeitkontenabbau, dann kann ein Zugeständnis des Arbeitgebers hierzu nur auf recht sperrige und unpraktikable Weise in einem Haustarifvertrag geregelt werden. Warum kann dann ein Ziel der Kampagne nicht sein, durch entschlossenes Auftreten der Gewerkschaftsmitglieder im Betrieb eine wesentlich schneller durchsetzbare, flexiblere und auf die betriebliche Situation angepasste Betriebsvereinbarung zwischen BR und Arbeitgeber abzuschließen?

Gewerkschaftsarbeit im Betrieb

Haustarifverträge sind und bleiben ein Zeichen gewerkschaftlicher Schwäche. Der viel beweinten Erosion der Flächentarifverträge wird aber nicht entgegengewirkt, wenn man sich von vornherein dort auf Haustarifverträge einstellt, wo Betriebsvereinbarungen das rechtstechnisch adäquatere und für die Tarifentwicklung in der Fläche wesentlich neutralere Mittel darstellen würden.

Ob Arbeitszeit, Urlaubsplan, Überwachung am Arbeitsplatz, Akkordarbeit oder Uniformpflicht im Betrieb: In diesen und vielen anderen Fragen kommt der Arbeitgeber nicht am Betriebsrat vorbei. Diese Macht des Betriebsrats muss weiterhin gewerkschaftlich genutzt werden. Dazu gehört eine Schulung der neuen BR-Mitglieder, die den betrieblichen Akteuren wieder nahe bringt, dass Erfolge der betrieblichen Mitbestimmung den Kolleginnen als gewerkschaftliche Erfolge vermittelt werden müssen: Wenn eine ver.di-Mehrheit in einem BR-Gremium eine gute Betriebsvereinbarung abschließt, dann ist diese Betriebsvereinbarung ein ver.di-Erfolg! Und damit ein Erfolg der organisierten Belegschaft. Das muss dann aber auch so vermittelt werden – Organizing hin oder her. Diese Praxis ist über die Jahre aber selbst in vielen gewerkschaftlich dominierten Betrieben eingeschlafen, weil in zu vielen Gewerkschaftsköpfen die Trennung von BR und Gewerkschaftsarbeit viel zu viel Raum beansprucht. Nun zahlt die nächste Gewerkschaftsgeneration dafür die Rechnung.

Dieser Text kann und soll die Reibungen nicht wegreden, auf die die Akteure im Rahmen der Pilotprojekte bei der Integration der Betriebsratsmitglieder in die Organizing-Arbeit gestoßen sind. Vielleicht kann er aber einen Beitrag dazu leisten, diese Erfahrungen noch einmal dahingehend zu überprüfen, was davon wirklich der Betriebsverfassung und was nur der allgemeinen Gruppendynamik der Pilotprojektbetriebe geschuldet war.

Daniel Weidmann arbeitet als Rechtsanwalt und Berater für Betriebsräte in Berlin.

[1] Aus Platzgründen und zur besseren Lesbarkeit wird im Text auf Schrägstrich und "Binnen-i" verzichtet. Stattdessen werden abwechselnd beide Genusformen verwendet. Gemeint sind dann stets beide Geschlechter.
[2] Dieser Text bezieht sich ausschließlich auf Betriebsräte der Privatwirtschaft. Im öffentlichen Dienst gelten mit den PersVG des Bundes und der Länder grundsätzlich andere Regeln, die in diesem Text nicht mit behandelt werden können.

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