1. Juni 2010 Redaktion Sozialismus

Politikwechsel à la SPD?

Für Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble wäre die nächste Krise "nicht mehr nur eine Krise des Finanz- und Wirtschaftssystems, sondern auch eine Krise des politischen Systems" (FAS, 23.5.2010). Dafür muss er allerdings nicht nach Brüssel oder Athen schauen.

Eine schleichende Krise des politischen Systems hat er in Nordrhein-Westfalen vor der eigenen Haustür. Denn neben dem Fakt, dass mit der Abwahl von Schwarz-Gelb in NRW auch die entsprechende politische Konstellation auf Bundesebene diesem Verdikt durch die WählerInnen unterworfen wurde, lautet die weitere und politisch beunruhigende Botschaft der NRW-Wahl: Trotz ihres Charakters als kleine Bundestagswahl, mit der ja auch über die Kräfteverhältnisse auf Bundesebene (Bundesrat) entschieden wurde, ist es zu keiner stärkeren Mobilisierung der WählerInnen gekommen. Im Gegenteil: Stärkste "Partei" sind eindeutig die 5,5 Mio. NichtwählerInnen (siehe den Beitrag von Johanna Klages in diesem Heft). Der Parteienforscher Franz Walter konstatiert zu Recht: "Das angeblich sozialdemokratische Problem, dass die Wähler enttäuscht zu Hause bleiben, ist längst bei der Union angekommen. Wahlenthaltung ist die Protestform der bürgerlichen Milieus geworden." (taz vom 10.5.2010)

NRW war insofern auch nur ein Durchgangsstadium. Nach dieser Wahl sackten die Regierungsparteien weiter ab – die CDU zuletzt bei Allensbach auf 32%. Mittlerweile sind 63% der Wahlbevölkerung der Meinung, dass die Kanzlerin ihre Regierung nicht mehr im Griff habe, und bringen damit ihr Unbehagen über den Aktionismus einer von den Finanzmärkten getriebenen Politik des bürgerlichen Lagers zum Ausdruck, die von einem Tag zum anderen bisher als unverrückbar geltende Grundsätze über Bord schmeißt, die Lage aber gleichwohl nicht wirklich unter Kontrolle bekommt. Dazu gesellt sich ein vielstimmiger Chor aus der christdemokratischen Führungselite über jetzt zwingend anstehende Maßnahmen zur Konsolidierung der Staatsfinanzen.

Roland Koch ist bei weitem nicht der erste, aber der im CDU-internen Kräfteparallelogramm schwergewichtigste Aussteiger aus der halbmodernisierten, top-down regierten "Merkel-CDU". Noch in den Nachrufen werden die Spaltungen eines Bürgerblocks deutlich, dessen politische Organisation nach und nach den Charakter einer "Volkspartei" verliert. Martialisch beklagen die einen den Rücktritt eines "Vollblutpolitikers", der des "Blutvergießens" überdrüssig geworden sei. Diese Fraktion des autoritären Populismus konnte lange im Verbund mit dem wertkonservativen Flügel und den gut vernetzten Wirtschaftsverbänden richtungsweisenden Einfluss auf die CDU nehmen. Doch die Erosionskrise der bayerischen Schwesterpartei, des baden-württembergischen Landesverbands und zuletzt auch der Trutzburg "Hessen-CDU" zeigt deren Schwächung. Geradezu hämisch – aber vollauf zu Recht – kommentieren christdemokratische Modernisierer die Stafettenübergabe von Koch an seinen Nachfolger Bouffier als Endpunkt eines Transformationsprozesses der Partei in Strukturen eines "politischen Bandenwesens". "Racket" nannten das einst ältere Frankfurter, Adorno und Horkheimer.

Für die politische Opposition müsste das Auftrieb bedeuten. Die SPD in NRW meint diesen auch zu verspüren. Doch dabei ist viel Selbstsuggestion im Spiel. Sie bejubelt ein "Comeback", bei dem sie gegenüber der Landtagswahl 2005 fast 400.000 Stimmen verloren hat. Die SPD hat den prozentualen Stimmenanteil gegen­über der Bundestagswahl zwar von 28,5% auf 34,5% steigern können, doch tritt sie mit 2,674 Mio. Stimmen auf der Stelle. Sie hat also noch eine Menge an Vertrauensverlust zu überwinden.

Wie man ein solches Ergebnis als Bestätigung der eigenen Politik interpretieren kann, ist erklärungsbedürftig. Dass man politische Erfolge nicht mehr an der Mobilisierung der Wählerschaft misst, sondern nur noch als relatives Kräfteverhältnis zum Gegner und Verbesserung gegenüber einem "virtuellen" Umfragetief, ist ein Baustein einer grundlegenden politischen Gesteinsverschiebung.

"Heute, inmitten der schwersten Wirtschaftskrise der Nachkriegsgeschichte, bereiten die tatsächlichen Legitimationsprobleme den politischen Eliten besorgniserregend wenig Sorgen. Die nüchterne Antwort ist: Das politische System hat sich weniger abhängig von der Zustimmung der Bevölkerung gemacht. In der ›Postdemokratie‹, wie es der britische Soziologe Colin Crouch genannt hat, werden wichtige Entscheidungen zunehmend in informellen Zirkeln mit Beratern und Lobbyisten außerhalb der Parlamente vorentschieden." (Oliver Nachtwey, Gefährliche Autosuggestion, in: Freitag, 20.5.2010)

Die SPD hat seit ihrer Regierungszeit unter Schröder mit ihrem Politikstil mittels Kommissionen selbst zu einer solch schleichenden "Demokratieentleerung" (Wilhelm Heitmeyer) beigetragen und nahm auch als Oppositionspartei während des aktuellen Krisenmanagements von Schwarz-Gelb keinen für die Öffentlichkeit vernehmbaren Anstoß am parlamentarischen Durchpeitschen des Euro-Rettungsgesetzes, das wie viele seiner Vorläufer outgesourct und einmal mehr von privaten Anwaltskanzleien ausgearbeitet wurde.

In NRW hingegen hat sich die SPD als Richtschnur für ihre diversen Sondierungsgespräche und Koalitionsverhandlungen einen "Politikwechsel" auf die Fahnen geschrieben und damit – Ironie der Geschichte – auf einen Topos zurückgegriffen, der die Kritik an der Agenda-Politik von Rot-Grün bündeln und eine anti-neoliberale Gegen-Hegemonie aus globalisierungskritischen Bewegungen, Gewerkschaften, zivilgesellschaftlichen Akteuren und der politischen Linken jenseits der Sozialdemokratie befördern sollte. Politikwechsel bedeutet für die NRW-SPD heute in der Schul- und Bildungspolitik die Überwindung des viergliedrigen Schulsystems durch längeres gemeinsames Lernen und die Abschaffung von Studiengebühren, im Gesundheitssystem die Verhinderung der schwarz-gelben Kopfpauschale via Bundesrat und auf demselben Wege die Blockade der Verlängerung der Laufzeiten von Atomkraftwerken.

Ein solcher partieller Politikwechsel, der zugleich das Wählervotum respektiert, wäre in NRW nur in einer rot-rot-grünen Koalition möglich gewesen. Die Grünen hätten dafür ein auf NRW bezogenes erkennbares Projekt der sozial-ökologischen Erneuerung anzubieten gehabt, und DIE LINKE hätte von der Sozialstruktur ihrer Wählerschaft her Teile der Arbeitslosen und von Ausgrenzung bedrohten Bevölkerungsschichten in dieses gesellschaftliche Bündnis einbringen können. Ein solcher Politikwechsel hätte seine Bewährungsprobe dann in einer Politik für die kleinen Leute auf Landesebene gegen die schwarz-gelbe Sparpolitik gehabt.

Aber die NRW-SPD hat den "Politikwechsel" ideologisch aufgeladen und umdefiniert. Zusammen mit den Grünen wurde im ersten und zugleich letzten (Sondierungs-)Gespräch nicht die gemeinsame Schnittmenge mit dem möglichen Koalitionspartner für eine andere Politik in NRW ausgelotet, sondern die Vertreter der LINKEN nach ihrem DDR-Verständnis, ihrer Stellung zur "Freiheitlich Demokratischen Grundordnung" und ihrer Haltung zum Verfassungsschutz abgeprüft und in den Augen von Hannelore Kraft (SPD) und Sylvia Löhrmann (Die Grünen) als nicht demokratietauglich befunden. Anstatt nun ihrerseits einen Beitrag zur Stärkung der demokratischen Kultur zu leisten und die Öffentlichkeit über ihre eigenen Argumente bezüglich der Relativierung von Demokratie und DDR bei den LINKEN in Kenntnis zu setzen, bedienten Kraft/Löhrmann lediglich die Klaviatur politischer Vorurteile und beförderten damit ihrerseits die im Wahlvolk verbreitete Anschauung, dass Politik sowieso ein abgekartetes Spiel sei. "Tatsächlich ging es in den Sondierungen nur am Rande um Landespolitik. Die zentralen Themen im Wahlkampf wie die Abschaffung der Studiengebühren und eine Gemeinschaftsschule kamen gar nicht erst zur Sprache." (FR-online 21.5.2010)

Um ihren vollmundigen Anspruch auf einen Politikwechsel in der Koalitionsbildung (nicht nur) für NRW aufrechterhalten zu können, wird die Sozialdemokratie sich immer wieder u.a. mit staatspolitischen Appellen um die Gewinnung der FDP für eine Ampelkoalition mit den Grünen bemühen. Wie Kraft & Co. andererseits ihren Anspruch auf einen Politikwechsel in einer großen Koalition wahren wollen, darauf darf man gespannt sein. Denn beide Akteure einer schwarz-roten Koalition haben weder ein Zukunftsprojekt für die Gestaltung des Gemeinwesens, noch ein ausgewiesenes Konzept, wie in der nun anstehenden zweiten Phase der großen Krise eine Regulierung der Finanzmärkte und eine Re-Stabilisierung der öffentlichen Finanzen in die Wege zu leiten ist.

Der von der Bundesregierung schon angekündigte Übergang zu einer massiven Sparpolitik wird sich deshalb schwierig gestalten – es sei denn, es gelingt der CDU, eine partiell erneuerte Sozialdemokratie darin einzubinden. Und solange die SPD dabei nur die "steinernen" Sanierungskonzepte von Steinmeier und Steinbrück mit einbringen wird, wird dies keinen Qualitätssprung in der Antikrisenpolitik auch einer großen Koalition, weder in NRW noch perspektivisch im Bund, bewirken.

So könnte das Parteiengerangel in NRW letztlich doch auf Neuwahlen hinauslaufen – in der Erwartung, statt der beim letzten Wahlgang fehlenden Parlamentsstimme möglicherweise eine kleine Mehrheit für Rot-Grün einfahren zu können. Dabei werden unter der gegenwärtigen ökonomischen Krisenkonstellation zwei Themenfelder den "Politikwechsel" der SPD einer Bewährungsprobe aussetzen: der mächtige Spardiskurs und die Re-Regulierung der Finanzmärkte.

Die Sozialdemokratie hat sich in ihren verteilungspolitischen Vorstellungen noch nicht zu der Einsicht durchgerungen, dass die Bundesrepublik wie andere reife kapitalistische Ökonomien über eine hohe Produktivität und einen immensen gesellschaftlichen Surplus verfügt und daher nicht an einem Mangel an Reichtum leidet, sondern an einer falschen Verwendung des Überschusses. Eine Reorganisation gesellschaftlicher Wertschöpfung muss also mit einem verbesserten Steuervollzug, einer deutlichen Anhebung der Steuern auf Vermögen und höhere Einkommen begleitet werden. Für einen solchen Politikwechsel müsste die SPD ihre punktuelle Korrektur der Schröderschen Agenda-Politik (Mindestlohn, Vermögenssteuer) qualitativ weitertreiben. Aber nach wie vor mischen "Lichtgestalten" aus vergangenen Zeiten bei der Bestimmung über den Kurs der Partei kräftig mit.

Gerade Steinmeier/Steinbrück prägten auch lange Zeit die dominierende SPD-Sicht auf die Finanzmärkte, die diesen bezogen auf die gesellschaftliche Wertschöpfung Innovation, Effizienzsteigerung und Steuerungsfähigkeit beschei­nigte, die dann auch durch entsprechende Finanzmarktgesetze befördert werden sollten. Mit oder ohne Neuwahlen werden Sparpolitik und Finanzmarktregulierung die beiden Prüfsteine sein, an denen sich die Glaubwürdigkeit eines Politikwechsels der SPD wird messen lassen müssen. Nur mit überzeugenden Antworten in diesen Schlüsselfragen kann es ihr gelingen, zukünftig wieder mehr Wählerstimmen zu aktivieren und so einen sozialdemokratischen Beitrag gegen die weitere "Demokratieentleerung" zu leisten.

Für dieselbe Herausforderung ist DIE LINKE so schlecht nicht aufgestellt. Hinsichtlich Sparpolitik und Finanzmarkregulierung hat der ehemalige Parteivorsitzende Lafontaine zu Recht auf das innerparteilich zwar nicht unumstrittene und auch von der SPD vielgeschmähte Programm verwiesen: "Unser Programm lässt sich in drei Buchstaben zusammenfassen: KFW ... Damit ist gemeint Keynesianismus, Finanzmarktregulierung und Wirtschaftsregierung auf europäischer Ebene. Das sind die drei Säulen unserer Wirtschaftspolitik ... Keynesianismus, verbunden mit Finanzmarktregulierung – das sind die Rezepte der Zukunft."

Die Verbindung und das Mischungsverhältnis dieser Optionen einer linken Antikrisenpolitik markieren klar die Differenz zu einem halbherzigen "Politikwechsel" der SPD wie zur schwarz-gelben Exit-Strategie der Haushalts­sanierung via Sozialabbau. Der aufge­spannte Rettungsschirm für den Euro kann überhaupt nur wirksam werden, wenn dieses Projekt mit wirksamen Maßnahmen zur Einschränkung oder gar Aufhebung der Macht des Finanzkapitals verbunden wird. Die Einführung einer Finanztransaktionssteuer, die Wiedererhebung der Vermögenssteuer, die Verstärkung der Besteuerung auf höhere Einkommen und Unternehmensgewinne sind in Verbindung mit einem Mindestlohn und armutsfesten Transfer- und Alterseinkommen zentrale Schritte, um eine Restrukturierung der bundesdeutschen und europäischen Ökonomie einzuleiten.

Zum anderen geht es um die unbedingte Öffentlichkeit und Aktivierung in der politischen Aufklärung. Aus der ideologischen Instrumentalisierung des Sondierungsgesprächs mit SPD/Grünen sollte DIE LINKE den Schluss ziehen, weiter an einem gemeinsamen Verständnis des gescheiterten Sozialismusversuches zu arbeiten, um auch hier im öffentlichen Diskurs deutungsfähig zu werden. Damit entzöge sie auch Versuchen, sich ihre Fassung von "Politikwechsel" von anderen politischen Kräften denunzieren zu lassen, jegliche Grundlage.

"Bonn ist nicht Weimar" – mit dieser Formel beschrieben Wissenschaftler­Innen wie PolitikerInnen lange Zeit die veränderte Qualität der bundesdeutschen Nachkriegsentwicklung. Die­se Formel umfasst zwei Kernbereiche: Zum einen wurde auf die große Stabilität des ökonomischen Fundaments und der entsprechenden Verteilungsverhältnisse abgehoben. Zum andern galt der Stolz des demokratischen Neubeginns der Legitimität der politischen Strukturen und der grundlegenden Entscheidungen über Weichenstellungen in der Republik.

Wenn die etablierten Parteien unter dem Druck der entfesselten kapitalistischen Märkte so weitermachen wie in den zurückliegenden Monaten, werden sie in einem sich heftiger drehenden Krisen­strudel auch die demokratische Legitimation der gesellschaftlichen Willensbildung massiv beschädigen. Die Warnung ist eindeutig: In NRW geht fast jede/r zweite Wähler/in nicht zur Wahl und dies nicht, weil sie/er mit dem ökonomisch-sozialen Zustand des Bundeslandes höchst zufrieden ist. Gleichwohl beschäftigen sich Parteien und LandespolitikerInnen nur mit ihren üblichen Ritualen.

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