29. August 2012 Gespräch mit dem LINKEN-Vorsitzenden Bernd Riexinger

»Radikal ist, gesellschaftlichen Druck für Veränderungen aufzubauen«

Sozialismus: Die Krisenentwicklung in Europa wird den Bundestagswahlkampf 2013 prägen. Intern bereiten sich CDU/CSU seit geraumer Zeit auf diese thematische Zuspitzung vor.

Auch die Debatten über ein Plebiszit im Vorfeld der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum Fiskalpakt deuten darauf hin. Die Erfolgschancen für einen derartigen Coup stehen nicht schlecht. Zwar befürchten 85% der Bundesbürgerinnen und -bürger, dass »der schlimmste Teil der Euro- und Schuldenkrise« noch bevorsteht. Gleichzeitig meint jedoch eine Mehrheit (58%), dass die Bundeskanzlerin »in der Euro-Krise richtig und entschlossen gehandelt« hat. 42% trauen am ehesten der Union zu, die Krise in den Griff zu bekommen, nur 17% setzen auf die SPD und noch weniger auf DIE LINKE. Warum profitiert die politische und gesellschaftliche Linke so gut wie überhaupt nicht von der tiefen Krise des Finanzmarktkapitalismus in Europa?

Bernd Riexinger: Die Zustimmung zu Merkel ist erstaunlich, da doch auf der Hand liegt, dass ihr Krisenmanagement jämmerlich gescheitert ist. Die Leute kriegen ja mit, dass Europa in einer Dauerkrise steckt, die allmählich auch die Wirtschaft in Deutschland erfasst. Offensichtlich zieht das Argument, dass dieses Land noch vergleichsweise gut durch die Krise gekommen ist, weil rechtzeitig gespart wurde und die scheinbar notwendigen Reformen durchgesetzt worden sind. Wenn dann noch große Unternehmen hohe Prämien an die Beschäftigten ausschütten, kann der Eindruck entstehen, dass das ganz gut funktioniert hat.

Für Millionen Menschen stimmt das natürlich nicht. Das Land ist gespalten. Der Arbeitsmarkt driftet immer mehr auseinander, prekäre Beschäftigung nimmt dramatisch zu. Aber anders als in den anderen Ländern steigt die Arbeitslosigkeit nicht auf Höchststände. Und es erfolgt kein Generalangriff auf Arbeitnehmer- und soziale Rechte. Es ist eher ein schleichender, kontinuierlicher Prozess, der es schwer macht, kollektiven Widerstand aufzubauen.

Haben wir es also mit einer mehrfachen Spaltung zu tun: hierzulande und innerhalb Europas, sozial und politisch, zwischen Gewerkschaften und in der politischen Linken?

Die Exportstrategie der Unternehmen war in den letzten zwei Jahren für Teile der Industriearbeiter positiv. Das erklärt die Zurückhaltung der IG Metall in europapolitischen Fragen. Das ändert sich möglicherweise gegenwärtig. Die Rückgänge in der Automobilproduktion sind ein Signal, dass die deutsche Exportindustrie mit ihrem Asien- und USA-Geschäft den Einbruch der EU-Märkte nicht wettmachen kann. Der Bumerang der Merkelschen Krisenlösungspolitik, die ja in Wirklichkeit eine Krisenverschärfungspolitik ist, kommt zurück. Gleichzeitig stellen wir fest, dass die Mobilisierung in den Tarifrunden zuletzt deutlich höher war. In ver.di war das insbesondere bei Gruppen der Fall, die nicht so gut verdienen, wie Erzieherinnen, Verkäuferinnen oder Beschäftigte an der Schwelle zum Prekariat. Es ist wichtig, klarzumachen, dass Prekarisierung alle angeht – also gemeinsame Interessenslagen zu formulieren und damit Spaltungen zu überwinden. Was die Gewerkschaftsbewegung in Deutschland gegenwärtig lähmt, ist die nicht offensive Wahrnehmung ihres politischen Mandats. Im Kern haben wir, bis auf wenige Ausnahmen wie Rente mit 67, nur wenige Kämpfe gehabt, in denen es um die Veränderung der politischen Rahmenbedingungen ging.

Auch DIE LINKE war in dieser Hinsicht wenig erfolgreich. Schauen wir nach vorn: Was schlägt die neue Führung vor?

DIE LINKE sollte mehrere Strategien verfolgen. Erstens: Zentrale Themen sind prekäre Beschäftigung und Niedriglohn – im Hinblick auf die Armutsentwicklung und die Negativfolgen für die Stammbelegschaften. DIE LINKE muss die Partei sein, die sich ohne Wenn und Aber dafür einsetzt, dass es keine Löhne geben darf, von denen die Menschen nicht leben können. Dazu ist eine Re-Regulierung des Arbeitsmarktes erforderlich.

Zweitens: In der Euro-Krisenfrage sind wir m.E. ganz gut aufgestellt. Kernpunkte sind: Nicht Rentner, Erwerbslose und Beschäftigte müssen zahlen, sondern Reiche und Vermögende. In den nächsten Monaten wird die Frage der Millionärssteuer und der Vermögensabgabe ein zentraler Punkt der Kampagne der Linken sein. Hier hat das Aktionsbündnis umfairteilen und der bundesweite Aktionstag am 29. September strategische Bedeutung, weil dort Gewerkschaften, Wohlfahrtsverbände, Sozialbewegungen, Studierende, MigrantInnen usw. zusammenkommen. Ich schätze, dass beim Thema Umfairteilen schon eine andere gesellschaftliche Hegemonie vorhanden ist, zumindest eine Meinungsführerschaft. Die Frage ist, ob man mit Blick auf die Bundestagswahl 2013 über diese Bündnisse Druck aufbauen kann. Ich diskutiere gegenwärtig mit verschiedenen Leuten, ob es nicht sinnvoll ist, mit einem Appell an die Öffentlichkeit zu gehen, der von einem breiten Personenbündnis aus Vertretern der Kirchen, Gewerkschaften, der LINKEN und anderen getragen wird.

Deutlich schwerer zu vermitteln sind die Umverteilungsprozesse, die über die Banken laufen. Es ist ja völliger Unsinn, dass die EZB Geld zu Niedrigstzinsen an die Banken ausleiht, die von den so genannten Krisenstaaten dafür hohe Zinsen verlangen. Wir fordern, dass die Kreditfinanzierung der Staaten über eine öffentlich-rechtliche Bank erfolgt. Dazu hat die Europäische Linkspartei eine Initiative für ein Volksbegehren gestartet. Der Gedanke ist sehr gut. Aber an Infoständen zu erklären, was eine öffentliche Bank ist und wie deren Geschäftspolitik aussieht, halte ich für schwierig. Um erfolgreich zu sein, müssen wir eine Million Unterschriften sammeln. Deshalb haben wir im Parteivorstand beschlossen, die Kampagne für die Millionärssteuer mit der Unterschriftensammlung für diese Europäische Bank zu kombinieren.

DIE LINKE steht nicht – wie ihr und anderen immer unterstellt wird – für mehr und mehr Schulden, sondern für Verbesserungen auf der Einnahmeseite. Wir müssen dafür sorgen, dass die großen Vermögen, auch weil sie krisenverschärfend sind, stärker herangezogen werden.

Widerspruch: Mit der Konzentration auf die Verteilungsfragen klammert auch DIE LINKE die realwirtschaftlichen Dimensionen der Krise immer wieder aus. Ob man das nun einen sozial-ökologischen New Deal nennt oder nicht: Der Neuaufbau Europas wird nur gelingen, wenn die Fragen der Finanzmarktregulierung, der Umverteilung und der Transfers verkoppelt sind mit neuen Wachstumsinitiativen und Wachstumsmodellen in den jeweiligen Ländern. Das hatte den Wahlkampf in Frank­reich noch stark bestimmt – bereits deutlich abgeschwächte Forderungen der Sozialisten sind im Europäischen Rat jedoch schnell wieder versackt.

Da sehe ich keinen Widerspruch. Der Euro krankte von Beginn an daran, dass eine einheitliche Währung bei sich auseinander entwickelnden wirtschaftlichen Bedingungen – Produktivitäts-, Sozialstandards usw. – nicht funktionieren kann. So werden nur die Starken stärker und die Schwachen schwächer. Richtig ist: Das lässt sich nicht auf der Ebene der Finanzsphäre lösen. Das hat sehr viel mit der Strategie der deutschen Wirtschaft zu tun, gestützt auf eine niedrige oder sogar rückläufige Lohnkostenentwicklung die Märkte der anderen zu erobern. Es kann nicht gut gehen, wenn ein Land dauerhaft Überschüsse produziert und die anderen die Defizite anhäufen. Deshalb kommt es darauf an zu erkennen, dass wir in Deutschland unter unseren Möglichkeiten leben. Die Löhne müssen steigen und so der Binnenmarkt gestärkt werden.

Womit wir aber immer noch auf der Verteilungsebene sind …

... aber dort nicht stehen bleiben. Neben der Korrektur der Lohnentwicklung brauchen wir einen Sozialpakt, der Transfers in die Krisenländer erlaubt, um dort die ökonomischen Bedingungen zu verbessern. Und um das Stichwort New Deal zu erweitern: Wir müssen auch in Europa in Richtung Wirtschaftsdemokratie gehen. Der Fiskalpakt ist ein gewaltiger Anschlag auf die Demokratie in ganz Europa. DIE LINKE muss deutlich machen, dass wir das zarte Pflänzchen Demokratie nicht nur verteidigen, sondern stärken wollen. Auch dafür müssen wir mobilisieren. In der Jugend und in weiten Teilen der Zivilgesellschaft ist das möglich.

In der Demokratiefrage stimmen wir überein. Gerade auch vor dem Hintergrund der Stimmengewinne im rechtspopulistischen oder rechtsextremen Spektrum. Deren Programm ist ein Amalgam aus Ausländerfeindlichkeit, Verteidigung von Sozialleistungen auf nationalistischer Grundlage und Europafeindlichkeit.

Die rechtspopulistische Sichtweise hierzulande lautet: Wir zahlen nicht für die faulen Griechen oder die Spanier, die ohnehin nicht mit Geld umgehen können. Es gibt aber die Position: Wir zahlen, aber das kommt bei dem Arbeiter oder Erwerbslosen in Griechenland gar nicht an, sondern versickert bei den Banken und in anderen Kanälen. Das ist eine Sichtweise, die einen Klassenstandpunkt möglich macht. Eine Orientierung, die sich gegen eine andere Klasse wendet und nicht so tut, als ob hier Deutsche gegen Griechen, Spanier, Portugiesen und Italiener stünden. Deswegen bin ich auch unbedingt dafür, die Debatten über Vermögensbesteuerung auf europäischer Ebene zu führen.

Interessant ist die Sortierung des bürgerlichen Lagers in der Frage des Plebiszits: einerseits eine eher antieuropäische Position zur Sicherung nationalstaatlicher oder regionaler Souveränität, wie sie von Seehofer und Teilen der CSU eingebracht wird, andererseits eine Position der Verlagerung von Zuständigkeiten auf die Ebene der Europäischen Kommission oder des Europäischen Rates, die jedoch mit keinerlei Demokratisierungsfortschritten verknüpft ist.

Ersteres versuchen neben der CSU auch Teile der FDP – bisher mit geringem Erfolg. Dass die nationalpopulistische Wendung hierzulande schwerer fällt als in Nachbarländern, hängt vielleicht auch damit zusammen, dass das große Kapital mit seiner starken Exportorientierung kein Interesse daran hat, sich mit nationalen Blockadehaltungen auseinandersetzen zu müssen, die Marktzugänge erschweren. Vielleicht gibt es in diesem Land auch noch eine Brandmauer gegen die einfachen nationalpopulistischen Positionen. Ich glaube, dass es da keine wirklich befriedigenden Antworten gibt.

Nun gibt es aber auch in linken Kräften in Europa eine Sortierung entlang der nationalen Frage. Das Argument lautet: Gegenüber europäischer Austeritätspolitik und Demokratieabbau gilt es die nationalen Rechte – sowohl soziale Rechte wie Souveränitätsrechte – zu stärken. Also eine verstärkt antieuropäische Haltung …

… die ich ablehne. Dagegen muss die Linke insgesamt die Perspektive einer europäischen Solidarität aufbauen. Es muss klar gemacht werden, dass es nicht um einen Kampf der deutschen gegen die griechischen Arbeiter geht. Das kann man auch: Die Leute sehen doch, dass es dem griechischen Arbeiter schlechter geht und dass über 50% der Jugendlichen in Spanien arbeitslos sind, sodass eine halbe Generation von den Renten der Eltern und Großeltern leben muss. Wir müssen immer wieder einbringen: Diese Krisenstrategie ist für die Mehrheit der Menschen in Europa gescheitert. Ich bin zwar nicht dafür, mit Kassandra-Rufen zu arbeiten, aber man muss schon deutlich machen, dass starke nationalistische Tendenzen auch schnell auf Deutschland übergreifen können.

Aber die Auseinandersetzungen zwischen verschiedenen sozialistischen und kommunistischen Strömungen in Europa spiegeln sich auch in der deutschen Linken.

Das ist so. Der SPD-Vorsitzende Sigmar Gabriel hat sich in einem Beitrag in der Tageszeitung DIE WELT für die Abtretung von Rechten an Europa eingesetzt und DIE LINKE kritisiert, weil sie so tut, als ob das ohne die Perspektive eines Vereinigten Europas möglich sei. Gabriel überzieht wie immer. Ganz grob gesprochen gibt es zwei Strömungen: ein Europa der Nationalstaaten, das selbstverständlich demokratisiert werden muss, oder geht man weiter in Richtung einer europäischen Verfassung. Befürchtet wird, dass demokratische Grundrechte sich eher verschlechtern, wenn man Verfassungsrechte nach Euro­pa delegiert.

Ich persönlich bin der Auffassung, dass man die Grundrechte auf nationaler Ebene nicht halten kann. Aber dem Verfassungsprozess eine neue Richtung zu geben, erfordert, dass wir eine wahrnehmbare europäische Linke hinbekommen.

Auch wir wollen nicht Kassandras Rolle spielen: Aber von wenigen Ausnahmen abgesehen befindet sich die Linke in Europa gegenwärtig eher auf dem Rückzug …

Da schätze ich die Lage optimistischer ein. Wir erleben gerade in Europa, dass Parteien und Strömungen stärker werden, die eher der deutschen LINKEN ähneln. Kommunistische Kaderparteien verlieren an Einfluss. An Bedeutung gewinnen hingegen Linksbündnisse – nicht nur in Griechenland. In Frankreich ist die politische Landschaft auf der Linken nicht mehr so zersplittert wie noch im vergangenen Jahrzehnt und die Unterstützung bei den Präsidentschaftswahlen – abgeschwächt auch bei den Parlamentswahlen – hat zugenommen. In Spanien hat die IU bessere Wahlergebnisse erzielt und in den Niederlanden wird die Linke die stärksten Zugewinne haben …

… mit einer viel skeptischeren Haltung gegenüber Europa …

Ja, natürlich. Aber der entscheidende Punkt wird sein, ob die eher offenen, bündnisorientierten Strömungen der Linken ihre Zugewinne konsolidieren können. In der deutschen Linken kennen wir das Problem eines schnellen wahlpolitischen Aufstiegs, dem die Parteientwicklung nicht folgen konnte. Wir profitieren stark von Stimmungen oder auch Protesthaltungen gegenüber anderen Parteien. Was wir selber an politischen Positionierungen in der Gesellschaft verankern können, bleibt weit hinter dem zurück, was wir an Stimmen haben. Ich vermute, dass das bei anderen linken Parteien in Europa nicht anders ist. Wir können diese strukturellen Probleme nicht einfach überspringen. Von daher komme ich an den Anfang unseres Gesprächs zurück: Wie können wir überschaubare, ganz konkrete Kampagnen auf den Weg bringen? Bei der Millionärssteuer gelingt das. Wenn das aber nicht auch auf anderen Politikfeldern klappt, entwickeln wir die Partei letztlich nicht weiter und bleiben bei einem Zustand stehen, der den Anforderungen nicht gerecht wird und entweder zu Illusionen oder zu politischen Frustrationen führt.

Es gibt zumindest unter den Vorsitzenden der europäischen Linksparteien eine deutlich höhere Bereitschaft sich zu verständigen und gemeinsame Initiativen zu starten. Die Initiative für eine öffentliche europäische Bank habe ich schon genannt. Ich wüsste nicht, dass wir das in der Vergangenheit so hatten. Wir müssen schauen, dass wir die Debatte in die Gewerkschaften hineintragen, in die sozialen Bewegungen, sodass die Linke nicht isoliert werden kann.

Welche Rolle spielen dabei die Gewerkschaften? Bei der Gründung der LINKEN und dem, was die WASG einbrachte, war von strategischen Bündnissen die Rede. Davon ist viel verloren gegangen. Deine Wahl zu einem der Parteivorsitzenden ist auch an die Erwartung geknüpft, dass die Kontakte zu den Gewerkschaften wieder ausgebaut werden.

Das ist eine meiner Aufgaben. Denn ich bin der Meinung, dass die Gewerkschaften nicht irgendein Bündnispartner neben anderen sind, sondern dass sie für DIE LINKE eine privilegierte Stellung haben müssen. Eigentlich müssen wir schon jetzt darauf hinwirken, dass Gewerkschaften im Frühsommer 2013 zu Großdemonstrationen aufrufen und damit im Wahljahr Druck auf die anderen Parteien machen. Wenn das klappen soll, müssen wir heute mit den Vorbereitungen beginnen. Zumindest in Teilen der Gewerkschaften ist die Bereitschaft vorhanden. Bei ver.di wird gesehen, dass das Thema Europa massiv zurückwirkt und dass Schuldenbremse und Fiskalpakt den öffentlichen Sektor strangulieren. Es existiert auch ein Bewusstsein darüber, dass die Spielräume für Tarifpolitik sehr viel kleiner werden. Die letzte Tarifrunde war eine Sonderentwicklung, in der die IG Metall ihren Wettbewerbskorporatismus noch einmal ausgereizt hat. Das wird schon in der nächsten Tarifrunde anders sein.

Woran liegt es, dass die Linke gerade unter Gewerkschafter­Innen an Unterstützung verloren hat?

Ich habe da keine abschließende Meinung. Was die öffentliche Daseinsvorsorge und die Kommunalfinanzen angeht, ist DIE LINKE eigentlich der natürliche Bündnispartner der Beschäftigten im öffentlichen Dienst. Warum gelingt es uns dann aber nicht, dort mehr Leute anzusprechen? Da gibt es offensichtlich Berührungsprobleme, obwohl unsere Partei die Interessen der Beschäftigten – zumindest programmatisch – sehr viel entschiedener vertritt. Allerdings reicht es auch nicht, ab und an mal ein Flugblatt zu verteilen – DIE LINKE muss im Alltag deutlicher in Erscheinung treten: von der Krankenhausfinanzierung bis zu den Kindertagesstätten. Wir müssen die Beschäftigten ansprechen. Das ist ein Unterschied zur holländischen Linken. Die hat es geschafft, sich bei den Beschäftigten im Gesundheitswesen breit zu verankern. Davon sind wir ziemlich weit entfernt.

Wir müssen mit den Gewerkschaften wieder oder neu in einen offenen Diskussionsprozess kommen. Auf der Führungs­ebene, aber gerade auch in den mittleren und unteren Bereichen, die inzwischen bereit sind, selber zu handeln und nicht immer auf Vorstandsbeschlüsse zu warten. Da spielt auch das Forum Gewerkschaften dieser Zeitschrift eine große Rolle. Wenn Gewerkschaften in zentralen Fragen gar nicht wahrnehmbar sind, ist das nicht nur für die Bewusstseinslage, sondern auch für die Veränderung der Kräfteverhältnisse eine Katastrophe.

DIE LINKE steht da nicht allein. Die SPD setzt sich massiv dafür ein, die Distanz, die sie mit der Agenda 2010 gerade auch gegenüber Gewerkschaften aufgebaut hatte, zu überbrücken. In der SPD erfahren die Gewerkschaften als vote seeker neue Anerkennung.

Das sehe ich auch so: Die SPD geht seit geraumer Zeit wieder auf die Gewerkschaften zu und versucht, einen neuen Schulterschluss hinzubekommen. Da müssen wir aufpassen, nicht noch mehr Terrain zu verlieren und gerade in den unteren und mittleren Funktionärbereichen die Kommunikation wieder aufbauen und gemeinsam mit ihnen Strategien in der Gewerkschaftspolitik entwickeln. Das wurde seit einem Jahr oder länger versäumt. DIE LINKE muss beweisen, dass sie tatsächlich eine Partei ist, die die Interessen der Lohnabhängigen vertritt und ein starker Bündnispartner sein kann.

Denn darum wird es in den kommenden Monaten gehen. Als wir mit den Oppositionsführern im Bundeskanzleramt waren, hat man deutlich gespürt, dass alle eine Heidenangst haben vor der Dynamik und der Gewalt der Finanzmärkte. Jeder zweite Satz lautete: Wir müssen das Vertrauen der Finanzmärkte wiedergewinnen. Da nichts reguliert wurde, läuft Politik gegenwärtig auf die Unterwerfung unter das Diktat der Finanzmärkte hinaus. Das ist der politischen Klasse durchaus bewusst. Aber sie können nicht außerhalb dieser Gesetzmäßigkeiten denken.

Ein zentraler Streitpunkt innerhalb der LINKEN betrifft das Verhältnis zur Sozialdemokratie. Abgrenzung und Entlarvungsstrategie ist der eine Pol, die Orientierung auf rot-rote Regierungskoalitionen der andere. Wir halten das für eine falsche Entgegensetzung. Es käme vielmehr darauf an, sich inhaltlich deutlich zu profilieren gegenüber einer SPD, die sich allerdings in Fragen der Arbeitsmarktregulierung, des Mindestlohns, der Bankenhaftung, der Transferunion und der Schuldenpolitik in Europa durchaus auch positionell verändert. Damit dürfte klar sein, dass auch diese Auseinandersetzung den Wahlkampf 2013 prägen wird. Wo steht in dieser Frage Bernd Riexinger?

Ich begrüße, wenn sich die SPD neu aufstellt und sogar Forderungen der LINKEN übernimmt. Meine Position lautet: Lasst uns den Härtetest machen. Mit konkreten Vorschlägen, die wir auch im Bundestag einbringen. Dann werden wir sehen, inwieweit die SPD das ernst meint, beispielsweise in der Frage der Regulierung der Banken, der Schließung von Steueroasen, des Verbots von Hedge Fonds-Geschäften. Oder wie sie zu unserer Forderung der Kreditvergabe durch eine öffentliche Bank steht. Ich denke, wir müssen offensiv mit der SPD umgehen und sagen: Wenn ihr das ernst meint, dann machen wir das zusammen. Das ist keine Entlarvungstaktik, sondern eine Strategie, um gesellschaftlichen Druck aufzubauen. Sollte Gabriel nur rhetorisch unterwegs sein, wird sich das schnell herausstellen. Aber erst einmal bin ich dafür, Regulierungs- und Umverteilungsforderungen offensiv aufzugreifen, auch wenn sie sich nicht in allen Punkten mit unserer Beschlusslage decken und sozialdemokratische Elemente enthalten. Lasst uns also Nägel mit Köpfen machen.

Es wird generell für uns im Wahlkampf ein Problem sein, erkennbar gegenüber SPD und Grünen zu bleiben, die in der Opposition und im Vorwahlkampf nach links gehen, ohne dass wir in eine sektiererische Ecke abdriften. Die strategische Frage lautet, ob es nicht die radikalere Option ist, wenn man gesellschaftlichen Druck aufbauen kann und DIE LINKE dazu einen glaubwürdigen Beitrag leistet, statt dass Forderungen herauf geschraubt werden und sich gar nichts tut. Letzteres ist der Weg der reinen Propaganda.

Eine andere Sache ist, wie das unsere Aktiven vor Ort umsetzen. Ich habe dazu zwei Anregungen. Erstens: Wir sollten unsere Aktionen und Kampagnen so stricken, dass auch schwache Kreisverbände mit wenigen Leuten diese machen können und die Botschaften so angelegt sind, dass sie für die Mitglieder und Sympathisanten an den Infotischen und in Versammlungen begründbar und vermittelbar sind. Dafür muss DIE LINKE langfristig ihre innere Bildungsarbeit, die Schulung und Ausbildung der Aktiven deutlich verbessern, u.a. mit Konzepten, die die regio­nale Bildungsarbeit verstärken. Wir dürfen ja nicht übersehen, dass wir noch immer in einer kritischen Phase des Parteiaufbaus sind, bei dem wir in bestimmten Bereichen eher erodieren, als dass wir zunehmen. Wir sind froh, dass uns eine gewisse Stabilisierung gelungen ist, aber natürlich muss der Parteiaufbau, die Gewinnung von neuen und die Qualifizierung der bisherigen Mitglieder und deren aktives Einbeziehen eine ganz große Rolle spielen – bei den vielen bereits genannten Aufgaben noch eine mehr. Aber die können wir zweitens angehen, wenn wir die Wahlkämpfe nutzen, um einerseits unsere Botschaften rüberzubringen und sie andererseits mit dem Parteiaufbau zu verbinden, denn dort ist die Mobilisierungsfähigkeit der Partei nach wie vor am größten.

Bernd Riexinger wurde auf dem Parteitag in Göttingen Anfang Juni 2012 gemeinsam mit Katja Kipping zu Parteivorsitzenden der Partei DIE LINKE gewählt. Er war vorher Geschäftsführer des Bezirks Stuttgart von ver.di und Mitglied des geschäftsführenden Landesvorstands der LINKEN in Baden-Württemberg. Er gehört dem Beirat des Forum Gewerkschaften von Sozialismus an. Für Sozialismus diskutierten Richard Detje, Bernhard Müller, Björn Radke und Gerd Siebecke.

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