12. Juli 2010 Helga Schwitzer

Rahmenbedingungen und Perspektiven der Tarifpolitik

In der Einladung zur Debatte darüber, ob und wie Gewerkschaften die Krise des Finanzmarktkapitalismus und die Krisenerfahrungen der Menschen für ihre Revitalisierung nutzen können, wird in Sozialismus 6/2010 konstatiert: "Gewerkschaften gehörten früh zu den Kritikern des Finanzmarktkapitalismus… (u.a. weil) ihnen als Gegenmacht (zur uneingeschränkten Herrschaft des Marktes) jegliche Daseinsberechtigung abgesprochen (wird). Aber als Kritiker waren und sind Gewerkschaften zugleich Akteure einer gewaltigen finanzmarktkapitalistischen Umverteilung… Wie müsste ein verteilungspolitisches Konzept gestrickt sein, das diese Fehlsteuerung beendet…?"[1]

Eine solche Fest- und Fragestellung lädt in der Tat zur Debatte ein. Sie fordert dazu heraus, die in den Gewerkschaften nicht erst seit der Krise vorhandenen Debatten über Kräfteverhältnisse und Durchsetzungsmöglichkeiten in der Defensive und Schritte aus ihr heraus aufzugreifen. Mit Blick auf die Ausgangsbedingungen für gewerkschaftliche Interessenvertretung und das Handlungsfeld Tarifpolitik soll das hier für die IG Metall geschehen.

1. Veränderte Ausgangsbedingungen für gewerkschaftliche Interessenvertretung

In den Rahmenbedingungen für gewerkschaftliches Handeln fand vor zwei Jahrzehnten eine deutliche Trendwende statt. Die Umbruchsituation ist durch eine verstärkte globale Konkurrenz gekennzeichnet, die in einem vorher nicht gekannten Ausmaß Wettbewerbskräfte zwischen und in den Unternehmen entfachte. Vor allem im letzten Jahrzehnt orientierten sich die Unternehmen – meist vermittelt über Benchmark-Prozesse – an oft aberwitzigen Renditeerwartungen, gleichzeitig nahm ihre Orientierung an den Versprechungen der Kapital- und Finanzmärkte zu. Das Prinzip umfassender Ökonomisierung erfasste immer mehr gesellschaftliche und betriebliche Bereiche.

Die zugrundeliegenden ökonomischen Veränderungen und Verschiebungen in den gesellschaftlichen und betrieblichen Kräfteverhältnissen führten zu einer neuen materiellen und verteilungspolitischen Ausgangslage. Anders als im Zeitraum von Mitte der 1970er bis Anfang der 1990er Jahre, in dem die Tariflohnerhöhungen z.B. in der Metall- und Elektroindustrie betrieblich eher aufgestockt wurden, sind die übertariflichen Einkommensbestandteile seit 1993 im Durchschnitt abgeschmolzen. Obgleich die Tarifpolitik mit den Entgelterhöhungen über den genannten Zeitraum hinweg den gesamtwirtschaftlich verteilungsneutralen Spielraum weitgehend ausschöpfte, konnten die Effektiveinkommen seit Mitte der 1990er Jahre nicht mehr im gleichen Maße für die Beschäftigten angehoben werden. Dies steht in engem Zusammenhang mit dem massiven Erpressungsdruck, dem Beschäftigte und Betriebsräte seit der Krise 1992/93 verstärkt ausgesetzt sind. Bereits vor dem so genannten Pforzheimer Abkommen wurden ihnen zunehmend "Eigenbeiträge" in Form materieller Zugeständnisse abverlangt. Die Beschäftigten selbst sollten und sollen unter den Bedingungen von Standortkonkurrenz dafür Sorge tragen, dass "ihr Standort" und "ihre Arbeitsplätze" erhalten bleiben.

Diese Strategie, die nach innen mit einem erhöhten Druck zur Senkung der Arbeitskosten verbunden war und ist, beinhaltet eine weitere problematische Seite. Die prioritäre Ausrichtung an steigenden Renditen lässt die Orientierung an den mittel- und langfristigen Potenzialen der Unternehmen tendenziell in den Hintergrund treten. Der Anteil der Investitionen an den Gewinnen sackte ab. Diese Strategie begünstigt Unternehmensaufspaltungen, schnelle Verkäufe und Zukäufe von Unternehmensteilen. Risiken werden im Rahmen der Wertschöpfungsketten an abhängige Unternehmen (Zulieferer von Zulieferern etc.) weitergegeben.

Unter den Vorzeichen von "Kurzfrist"-Ökonomie erhöhen sich aber auch die Flexibilitätsanforderungen und die Gewinnrisiken. Die Unternehmen versuchen, diese über eine Variabilisierung vormals fixer Kosten abzufangen. Die angestrebte Flexibilisierung der Personalkosten hat je nach Ausgangslage verschiedene Gesichter. Seit Jahren kommt dabei der Flexibilisierung über prekäre Arbeit – in der Metall- und Elektroindustrie insbesondere über Leiharbeit, zunehmend aber auch über befristete Beschäftigungsverhältnisse – eine wachsende Bedeutung zu. Dies schafft Unsicherheit bei den Betroffenen und Stammbeschäftigten, spaltet die Belegschaften in den Betrieben und schwächt die betriebliche und gewerkschaftliche Durchsetzungsmacht. Nicht minder bedeutend ist die Flexibilisierung und Entgrenzung von Arbeitszeiten, die in vielen Betrieben bis zur Krise zu Arbeitszeitwirklichkeiten geführt hat, die jenseits der tariflichen Normen lagen.

Flexibilisierung der Arbeit ist ein wesentliches Kennzeichen neuer unternehmerischer Politik- und Steuerungskonzepte. Diese übertragen den Beschäftigten immer mehr die Verantwortung, im Wettbewerb erfolgreich zu sein und zu überleben. Die Beschäftigten selbst werden unter den Vorzeichen von indirekter Steuerung in ganz neuer Weise zu Akteuren im Wettbewerb.

Die Ökonomie der Maßlosigkeit, die wenig Rücksicht nimmt auf Mensch und Natur, hat in nationale (Agenda 2010), in kontinentale (Lissabon-Strategie, Strategie Europa 2020) und in globale (G 20, IWF) politische Programme Einzug gehalten. Ihre Durchsetzung wurde auf politischer Ebene durch eine Deregulierung und Liberalisierung von Märkten unterstützt.

Im Zuge dieser Entwicklungen sind in Deutschland auch soziale Sicherungen aus Zeiten des Rheinischen Kapitalismus unter Druck geraten. Die Systeme der Gesundheits- und Alterssicherung, der Sicherung bei Erwerbslosigkeit und anderen sozialen Härtefällen sind löchriger geworden.

Diese Entwicklungen sind Ausdruck und Ergebnis einer Hegemonie des Neoliberalismus. Sie haben die Kräfteverhältnisse in der Gesellschaft und die Ausgangsbedingungen für gewerkschaftliche Politik entscheidend verändert. Sie haben die Gewerkschaften in die Defensive gedrängt. Gleichwohl entwickelten sich bis zur großen Krise auch Ansätze einer Revitalisierung. So wurden z.B. in der IG Metall und weiteren Einzelgewerkschaften Initiativen für Gute Arbeit entwickelt und in Pilotbetrieben umgesetzt. Das Thema Gute Arbeit hat über die Gewerkschaften hinaus Eingang in politische Programme gefunden. Diese Initiativen gilt es auch nach der Krise weiterzuentwickeln. Damit die Gewerkschaften als Organisationen der Interessenvertretung der Beschäftigten wieder in die Offensive kommen, ist allerdings grundlegendes Umsteuern nicht nur auf der arbeitspolitischen oder der tarifpolitischen, sondern auf weiteren Ebenen notwendig.

Im Folgenden wird der Blick auf die Tarifpolitik als eines der Kernfelder der Gewerkschaften gerichtet. Auch dabei wird deutlich, dass entscheidende Veränderungsprozesse und Impulse in diesem Handlungsfeld eingebettet sind in ein Konzert notwendiger neuer Politikansätze in der Sozial- und Wirtschaftspolitik.

2. Herausforderungen für die Tarifpolitik

Mit Blick auf die Tarifpolitik werden nachfolgend wesentliche Herausforderungen aufgegriffen.

Tarifpolitische Kompensation sozialstaatlicher Aufgaben

Prägende Merkmale neoliberaler Politik sind Deregulierung und Privatisierung vormals staatlicher Leistungen. Sie haben insbesondere die Sozialpolitik in die Defensive gedrängt. Reformen in der Renten-, Gesundheits- oder Arbeitsmarktpolitik stellen Versicherte bereits über einen längeren Zeitraum nicht mehr besser, sondern gehen durchweg zu ihren Lasten. Dies wirkt sich unmittelbar auf die Tarifpolitik der IG Metall aus.

Die IG Metall vertritt den Grundsatz, dass es nicht Aufgabe der Tarifpolitik sein kann, politische Entscheidungen und ihre Folgen zu korrigieren. Das heißt aber nicht, den Anspruch aufzugeben, die Interessen der Mitglieder wahrzunehmen. So kommt es, dass die IG Metall einerseits etwa die Rente mit 67 oder das Auslaufen der geförderten Altersteilzeit politisch bekämpft, andererseits aber auch tarifpolitisch gegensteuert. Der Tarifvertrag zum flexiblen Übergang in die Rente (TV FlexÜ) ist ebenso ein Beispiel hierfür wie der Tarifvertrag Demografie im Stahlbereich. Ein weiteres Beispiel sind die jetzt tarifpolitisch vereinbarten Instrumente zur Beschäftigungssicherung.

Ein Teil dieser Regelungen trägt vor allem deshalb zu einer Schwächung der Tarifpolitik bei, weil erstens Nachteile nur abgemildert, aber nicht gänzlich aus der Welt geschafft werden. Zweitens sind es meist Regelungen, die nur einen Teil der Beschäftigten betreffen. Und weil sie drittens aus dem insgesamt zur Verfügung stehenden Verteilungsvolumen finanziert werden, stoßen sie bei dem anderen Teil der Beschäftigten nicht unbedingt auf Zustimmung. Mobilisierung wird dadurch zumindest erschwert.

Tarifpolitik kann nicht ausgleichen, was politisch gekürzt worden ist. Damit dies nicht länger zu ihren Lasten geht, darf Tarifpolitik nicht die Erwartung wecken, sie könnte politisch verursachte Schieflagen alleine beseitigen. Stattdessen muss sie ein verteilungspolitisches Gesamtkonzept einfordern, das alle relevanten Größen der mit Arbeit verbundenen Einkommen umfasst: Tarifeinkommen, Sozialabgaben und Steuern auf Arbeitnehmerseite; Gewinne, Steuern und Sozialabgaben auf Arbeitgeberseite. Eingebettet in ein solches Gesamtkonzept, zu dem zwingend auch ein politisches Durchsetzungskonzept gehört, lässt sich die Rolle der Tarifpolitik klarer festlegen.

Zunehmende Prekarisierung

Deregulierungen des Arbeitsmarktes haben für eine zunehmende Prekarisierung der Beschäftigungsverhältnisse gesorgt. Die Zunahme prekärer Beschäftigung setzt die Tarifpolitik unter Druck. Sie gefährdet neben dem materiellen Niveau der Tarifverträge auch ihre Binde- und Prägekraft. Auch deshalb ist es richtig, dass die IG Metall die Kampagne des DGB für Mindestlöhne mitträgt und eine eigene Kampagne gegen die Leiharbeit initiiert hat. Diese Kampagne hat zum Ziel, Leiharbeit sowohl zu begrenzen als auch Auswüchsen der Prekarisierung entgegenzuwirken.

In der Politik und bei den Arbeitgebern hat die Kampagne die Bereitschaft erhöht, die Leiharbeit zu regulieren. Auch wenn Mindestlöhne in der Leiharbeit oder das gesetzliche Verbot der Schlecker-Praktiken noch keine Re-Regulierung der von Rot-Grün deregulierten Leiharbeit bedeuten, auch wenn ein möglicher Mindestlohn in der Leiharbeit in erster Linie gegen die Dumping-Risiken der ab Mai 2011 auch für die osteuropäischen EU-Mitgliedstaaten geltende Arbeitnehmerfreizügigkeit gerichtet ist, so ist die Ankündigung solcher Maßnahmen doch als erster Erfolg der Kampagnen zu werten.

Ähnlich verhält es sich in der Tarif- und Betriebspolitik. Auch hier verfolgt die IG Metall unterhalb ihrer politischen Forderung nach Re-Regulierung das Ziel, die Auswüchse der Leiharbeit zu begrenzen und die Bedingungen für die Leihbeschäftigten zu verbessern. Die Tarifverträge der DGB-Tarifgemeinschaft mit den Arbeitgeberverbänden in der Zeitarbeit BZA und iGZ haben diesen Zweck, ebenso so genannte betriebliche Besservereinbarungen.

Tarifautonomes Handeln ist das noch nicht. Dazu fehlt der IG Metall im Bereich prekärer Arbeit noch die Mächtigkeit. Prekär Beschäftigte sind aufgrund ihrer unsicheren und unsteten Arbeitsverhältnisse schwerer zu organisieren und zu mobilisieren. Um die politisch motivierte Förderung prekärer Beschäftigung auch politisch zu bekämpfen, muss deshalb die Leiharbeitskampagne weiter geführt und vor allem gesellschaftlich verbreitert werden.

Zunehmende Globalisierung und Europäisierung

Die europäische Dimension der Tarifpolitik gewinnt immer mehr an Bedeutung. Die Gründe dafür liegen zum einen auf der Makroebene. Mit Einführung der Europäischen Währungsunion (EWU) und dem dadurch bedingten Wegfall des Wechselkursmechanismus entfiel die Möglichkeit, wirtschaftliche Entwicklungsunterschiede mit Hilfe von Auf- bzw. Abwertung der jeweiligen nationalen Währung auszugleichen. Unterschiedliche Entgeltkostenentwicklungen schlagen jetzt unmittelbar auf die Wettbewerbsfähigkeit zwischen den Ländern mit einheitlicher Euro-Währung durch. Wirtschaftliche Ungleichgewichte können somit auf die Entgeltpolitik abgeladen werden. Tarifpolitik ist dadurch unter Druck geraten.

Die im Europäischen Metallgewerkschaftsbund (EMB) zusammengeschlossenen Gewerkschaften versuchen, diesen Druck mit einer Lohnkoordinierungsregel zu entschärfen. Die Regel zielt auf den Ausgleich der jeweiligen nationalen Inflationsrate und auf eine gleichgewichtige Beteiligung der Arbeitnehmereinkommen an den jeweiligen nationalen gesamtwirtschaftlichen Produktivitätsfortschritten.

Eine Auswertung der in der EUCOBAN-Datenbank des EMB gesammelten Tarifergebnisse zeigt, dass die Abschlüsse in der europäischen Metallindustrie im Betrachtungszeitraum 2000 bis 2009 diese Ziele nur zum Teil erreichen konnten. Während die Abschlüsse überwiegend die jeweilige Inflationsrate ausgeglichen haben, konnte die Beteiligung an den Produktivitätssteigerungen nicht im selben Umfang durchgesetzt werden. Die Abschlüsse in der deutschen Metall- und Elektroindustrie nutzten überwiegend den gesamtwirtschaftlich zur Verfügung stehenden Verteilungsspielraum.

Der zweite Grund für die zunehmende Bedeutung der europäischen Dimension der Tarifpolitik liegt auf der Unternehmensebene. Die Konzernstrukturen, Wertschöpfungsketten und Konkurrenzbeziehungen in der EU tendieren deutlich zu Lohnkosten senkenden Strukturverschiebungen. Auch dem sollen die Koordinierungsregeln des EMB entgegenwirken und für Ausgleich sorgen, insbesondere bei transnationalen Verhandlungen. Es geht darum, die Konkurrenz der betroffenen Beschäftigten nicht nur zu regeln, sondern abzubauen.

Die Bedeutung der europäischen Tarifkoordinierung hat in der gegenwärtigen Wirtschaftskrise zugenommen. War die Einhaltung der Lohnkoordinierungsregel schon in Zeiten "normaler" wirtschaftlicher Entwicklung nicht einfach, so kommen die Entgelte in der Krise zusätzlich unter Druck. Zu befürchten ist, dass Nullrunden, Entgeltabsenkungen oder gar staatliche Eingriffe in die Tarifpolitik mit dem Hinweis auf die besondere Krisensituation und darauf, dass die jeweiligen Konkurrenten sich damit einen Wettbewerbsvorteil verschaffen, eine Abwärtsspirale in der europäischen Entgeltentwicklung auslösen können.

Tarifpolitik, vor allem die Tarifpolitik der IG Metall, muss in wachsendem Ausmaß globale und europäische Zusammenhänge berücksichtigen. Dafür muss die IG Metall sowohl tarifpolitische als auch europapolitische Kompetenzen vorhalten. Sie gehören zwingend zu einer Tarifpolitik aus einem Guss dazu.

Zunehmende Subjektivierung und Individualisierung

Zu Zeiten der "wissenschaftlichen Betriebsführung" im Taylorismus wurde die Subjektivität der Beschäftigten zumindest in den Werkshallen als Störfaktor angesehen. Die Beschäftigten sollten Anweisungen ausführen und sonst nichts. Selbst wenn in einigen Bereichen Arbeitgeber eine Re-Taylorisierung betreiben, werden heute die Potenziale der Personen, wird ihre Subjektivität zum zentralen produktiven Faktor.

Die Beschäftigten müssen oftmals die Voraussetzungen ihrer Leistungserbringung und teilweise sogar die Rationalisierung ihres Arbeitsprozesses selbst bewerkstelligen. Außerdem erhalten ihre subjektiven Potenziale und Ressourcen, ihre kreativen, Problem lösenden und kommunikativen Fähigkeiten und ihr Engagement eine höhere Bedeutung. Bei der Bewältigung unbestimmter Anforderungen erweisen sich diese Fähigkeiten gegenüber den formalen beruflichen Kompetenzen als besonders wichtig. Mit der Subjektivierung geht aber auch einher, dass sich die Beschäftigten den Herausforderungen des Wettbewerbs direkter als vormals zu stellen haben: Sie haben nicht nur für ihr Produkt die Verantwortung zu übernehmen, sondern auch für ein rentables Marktergebnis.[2] Dies führt im Ergebnis nicht selten – jenseits tariflicher Schutzregelungen – zu "Arbeit und Leistung ohne Ende".

Unter diesen Bedingungen kommt den einzelnen Beschäftigten für die gewerkschaftliche Interessenvertretung eine größere Bedeutung zu als jemals zuvor. Denn wenn sie unter dem Druck des Wettbewerbs auf ihnen zustehende Rechte verzichten oder diese im Betrieb nicht umsetzen, läuft die Interessenvertretung über Betriebsräte oder Gewerkschaften ins Leere. Deshalb kommt es auf eine Stärkung und Mobilisierung der Interessen der Beschäftigten an, die sich auf ihre eigenen Vorstellungen von guter Arbeit und gutem Leben, auf ihre eigene Gesundheit richten. Die Beschäftigten selbst werden gleichzeitig stärker zu Subjekten der Grenzziehung gegen die Maßlosigkeit. Wenn sie aber verstärkt selbst Grenzen ziehen müssen, sind Tarifregelungen so zu gestalten, dass sie die Beschäftigten dabei unterstützen. Tarifregelungen müssen mehr "Hilfe zur Selbsthilfe" bieten.

Umgekehrt wirken gestiegene Ansprüche der Menschen an Individualität auf die Tarifpolitik zurück. Von interessierter neoliberaler Seite wird oft ein Gegensatz zu kollektiven Regelungen konstruiert. Aber einen solchen Gegensatz gibt es nicht: Der Tarifvertrag ist die Basis für individuelle Freiheiten. Es ist gerade seine Aufgabe, alle davor zu schützen, dass die Einzelnen sich unter Preis verkaufen müssen und damit die Bedingungen für alle verschlechtern.

Der Tarifvertrag ist auch kein Instrument der "Zwangskollektivierung". Er regelt im Gegenteil die Bedingungen für unterschiedliche Arbeitskonstellationen. Bei sich weiter ausdifferenzierenden Beschäftigungsverhältnissen und Tätigkeiten muss immer neu geprüft werden, welche kollektiven Regelungen nötig sind, um den Freiheitsanspruch der verschiedenen Beschäftigtengruppen zu realisieren. Und zwar in ständiger Rückkopplung mit den Beschäftigten, ihren Interessen und Bedürfnissen.

3. Folgen für die Tarifpolitik

Äußere und innere Erosion der Flächentarifverträge

Tarifpolitik ist wie die Gewerkschaften insgesamt aufgrund der wirtschaftlichen, politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen in die Defensive geraten. Der Druck auf die Tarifverträge ist gewachsen. Arbeitgeber haben die veränderten Kräfteverhältnisse zur Durchsetzung von Cost-Cutting-Strategien bei den Entgelten genutzt. Die Flächentarifverträge haben an Bindekraft verloren. Firmentarifverträge nehmen zwar zu. Im Saldo und im langjährigen Trend nimmt die Tarifbindung jedoch ab (siehe Abbildung 1 und 2).


Die Flächentarifverträge im Organisationsbereich der IG Metall entfalten auch über die tarifgebundenen Unternehmen hinaus Prägekraft. Viele nicht tarifgebundene Unternehmen orientieren sich an den Flächentarifverträgen der IG Metall, um insbesondere Fachkräfte zu binden. Aber auch dies hat in Zeiten hoher Arbeitslosigkeit und zunehmender Prekarisierung nachgelassen.

Die Tarifverträge der IG Metall werden darüber hinaus dadurch ausgehöhlt, dass sich die betriebliche Wirklichkeit von den tariflichen Normen entfernt. Vermehrt wurden deshalb vormals tarifvertragliche Sachverhalte auf betrieblicher Ebene verhandelt und geregelt. Diese betrieblichen Vereinbarungen waren denen eines Tarifvertrags oft schon dadurch unterlegen, dass sie nicht mit der Kraft einer Tarifbewegung zustandegekommen sind. Wenn aber Tarifverträge die betriebliche Praxis immer weniger regeln, verlieren sie an Ansehen bei den Beschäftigten und bei den Betriebsräten. Die Flächentarifverträge laufen Gefahr, durch diese innere Erosion entwertet zu werden.

Bezogen auf die Arbeitsbewertung ist dieser Prozess durch ERA zumindest gebremst worden. Der Flächentarifvertrag hat durch diese Tarifreform neue normierende Bedeutung erlangt. In der Praxis allerdings werden bei der ERA-Umsetzung weiterhin Grenzen der betrieblichen Durchsetzungsmacht sichtbar. Und weil Defizite bei der betrieblichen Durchsetzung tariflicher Normen deren Wert mindern, ist der Prozess der inneren Erosion längst nicht gestoppt.

Flächentarifverträge und betriebsnahe Tarifpolitik

Damit Tarifnormen und betriebliche Wirklichkeit sich nicht weiter auseinanderentwickeln, und weil sich die betrieblichen Verhältnisse ebenso wie die Interessen der Beschäftigten immer weiter ausdifferenzieren, ist die Tarifpolitik der IG Metall betriebsnäher geworden. Sie hat die Flächentarifverträge mit dem Ziel weiterentwickelt, dass sie sowohl einen für alle geltenden Rahmen schaffen, mit dem sie ihre Schutzfunktion erfüllen und verbindliche Ansprüche sichern, als auch eine Gestaltungsfunktion für unterschiedliche Arbeitskonstellationen haben. Flächentarifverträge berücksichtigen zunehmend die unterschiedlichen betrieblichen Gegebenheiten, indem sie innerhalb des verbindlichen Rahmens Öffnungen für betriebliche Variationen zulassen.

Das Pforzheimer Abkommen zeigt allerdings die Ambivalenz, die mit einer kontrollierten Öffnung der Flächentarifverträge in materiellen Fragen verbunden ist. Auf der einen Seite schafft dieses Abkommen Regeln für betriebliche Abweichungen und errichtet damit einen Damm gegen den bis dahin vorhandenen Wildwuchs, der nicht selten eine Dumpingspirale nach unten in Gang gesetzt hat. Es trägt auf die­se Weise zu einer Stabilisierung des Flächentarifvertrags bei. Auf der anderen Seite birgt die tarifliche Möglichkeit betrieblicher Abweichungen die Gefahr einer weiteren Verbetrieblichung. Gewerkschaften und Tarifpolitik könnten ihre Funktion einbüßen, die Konkurrenz der Betriebe und Beschäftigten untereinander durch gemeinsame überbetriebliche Regulierungen auszuschließen bzw. einzudämmen.

Um der Gefahr einer Verbetrieblichung der Tarifpolitik und einer Destabilisierung der Flächentarifverträge zu begegnen, hat die IG Metall Koordinierungsregeln für die Vereinbarung, Genehmigung und Umsetzung betrieblicher Abweichungen entwickelt. Dadurch soll verhindert werden, dass abweichende Regelungen für einen Unterbietungswettlauf der Unternehmen und der Beschäftigten instrumentalisiert werden. Jede abweichende Regelung nach dem Pforzheimer Abkommen muss zeitlich befristet werden, der Bezug zur Fläche muss erhalten bleiben. Immer ist die IG Metall als Tarifpartei im Boot.

Die Gratwanderung zwischen der Chance, den Flächentarifvertrag mittels Öffnung zu stabilisieren, und dem Risiko, dass diese Öffnung für betriebsegoistische Zwecke missbraucht wird, legt eines unbedingt nahe: Die Handlungsfelder Flächentarifvertrag und betriebliche Tarifpolitik müssen in einer Hand liegen. Eine Trennung würde nicht nur den Zusammenhang ignorieren, sie würde auch den Zusammenhalt in der Tarifpolitik und die kollektive Schutzfunktion der Tarifverträge gefährden. Auch deshalb braucht die IG Metall eine Tarifpolitik aus einem Guss.

Noch sind Binde- und Prägekraft der Flächentarifverträge wirksam. Bezüglich der Schwächungstendenzen ist jedoch eine Trendumkehr dringend erforderlich. Sie kommt aber nicht von allein. Sie wird vielleicht dadurch erleichtert, dass der Bedarf an Fachkräften das Angebot bereits jetzt und erst recht in der Zukunft deutlich übersteigt,[3] weil sich dadurch die Verhandlungsposition der IG Metall verbessert. Doch durchsetzen muss sie eine solche Trendumkehr selber.

4. Offensives Handeln unter defensiven Bedingungen

Gewerkschaften müssen aktuell und mussten auch schon in der Vergangenheit unter den Bedingungen wirtschaftlicher Krisen agieren. Die Defensive und die Sicherung erkämpfter Erfolge sind für Gewerkschaften keine neue Erfahrung und Konstellation. Sicherung ist geradezu konstitutiv für die Arbeiterbewegung. Sie ist keineswegs ausschließlich defensivem Handeln zuzuordnen. Alterssicherung, Gesundheitssicherung, der Sicherung eines auskömmlichen Einkommens oder von Arbeitsplätzen wohnt immer auch ein offensives Element inne. Es sind Errungenschaften, die einstmals offensiv erkämpft worden sind und die weiter offensiv erkämpft werden müssen. Erreichtes kann weiter ausgebaut werden. Es entsteht Raum für die Entwicklung neuer Ziele, Weichenstellungen, Instrumente und Durchsetzungskonzepte. Das gilt in besonderem Maße auch für die Tarifpolitik.

Zu fragen ist, ob, wie und mit welchen Mitteln Gewerkschaften die Erfahrungen aus der aktuellen Krise tarifpolitisch in dem Sinne nutzbar machen können, dass etwa im Zusammenhang mit den beschäftigungssichernden Wirkungen verkürzter Arbeitszeiten tatsächlich neue Ziele und Weichenstellungen und eine Offensivkonstellation entstehen.

Der Tarifabschluss in der Metall- und Elektroindustrie in 2008 ist ein Beispiel für offensives Handeln in der Defensive. Er ist zustande gekommen, als die Finanzmarktkrise bereits da und ihre Ausweitung in die Realwirtschaft bereits klar war. Die Tarifbewegung war bereits offensiv bei der Forderung von 8% und auch bei der Begründung, die sich stark auf einen Anteil an den Gewinnen im Aufschwung konzentrierte. Sie war offensiv bei den Warnstreiks. In nur einer Woche legten über eine halbe Million MetallerInnen vorübergehend die Arbeit nieder. Dieser Druck hat auch zu einem zufriedenstellenden Ergebnis geführt. Die Erhöhung der Tarifeinkommen um 4,2% hat den so genannten verteilungsneutralen Spielraum mehr als ausgeschöpft.

Der Metall-Tarifabschluss dieses Jahres stand voll im Zeichen der Krise. In dieser Sondersituation ist die IG Metall ohne bezifferte Forderung und ohne Mobilisierung der Mitglieder angetreten. Gleichwohl hatte sie mit der Forderung "Keine Entlassungen in der Krise" eine der offensivsten aller möglichen Forderungen aufgestellt. Sie zielte und zielt immerhin auf Eingriffe in die unternehmerische Freiheit bei Fragen der Personalbesetzung.

Das Ergebnis aus weiteren tariflichen Instrumenten der Arbeitszeitverkürzung zur Beschäftigungssicherung und aus Einkommenssicherung ist zwar aus der Defensivsituation der Krise heraus entstanden, ist unter diesen Umständen aber durchaus als Erfolg zu werten. Die Arbeitgeber erkennen damit erstmals die Beschäftigungswirkung verkürzter Arbeitszeiten an. So viele Beschäftigte wie noch nie zuvor in der Nachkriegsgeschichte konnten diese Erfahrung am eigenen Leibe machen. Beschäftigungs- und Einkommenssicherung entsprechen in hohem Maße ihren Bedürfnissen. Und in der Öffentlichkeit wird das "deutsche Jobwunder" gerühmt.

Über die tarifpolitischen Instrumente hinaus hat die IG Metall auch im politischen Raum Maßnahmen zur Beschäftigungssicherung in der Krise initiiert. Diese Maßnahmen haben – wie die erleichterte Kurzarbeit oder die Umweltprämie – in der Krise rund ein Viertel Million Arbeitsplätze gesichert. Ihre Beiträge zur Krisenüberwindung werden von Politik und Wirtschaft anerkannt. Sie sorgen für hohe gesellschaftliche Akzeptanz.

Bei allen Schranken und Risiken geliehener Macht, auf die Ehlscheid, Pickshaus und Urban mit Recht hinweisen,[4] bietet sie auch Chancen. Die breite Anerkennung begünstigt die Suche nach und die Akzeptanz von alternativen Entwicklungspfaden. Dieser in der Krise erzielte Erkenntnis-, Erfahrungs- und Zustimmungsgewinn bei allen Akteuren kann zusammen mit einer über die Krise hinaus andauernden Notwendigkeit der Beschäftigungssicherung die Grundlage dafür bilden, die Arbeitszeitfrage nachhaltig wiederzubeleben. Eingebettet in eine Strategie Guter Arbeit könnte dies ein Schritt sein, wieder mehr in die Offensive zu kommen. Mögliche Perspektiven und Ansatzpunkte für eine neue und kreative Arbeitszeitpolitik gibt es reichlich.

5. Für eine neue arbeitszeit- und leistungspolitische Initiative

Für die Tarifpolitik wird in der Einladung zur gewerkschaftlichen Strategiedebatte in Sozialismus 6/2010 konzediert: "Insbesondere für Deutschland gilt: Durch Arbeitszeitverkürzung konnte eine weitere explosionsartige Zunahme der Massenarbeitslosigkeit – wie in Spanien – verhindert werden. Ein Erfolg gewerkschaftlicher Interessenvertretung." Aber dann wird mit der Aussage "Doch trügt der Eindruck gewerkschaftlichen Strukturkonservatismus? Von einem neuen gesellschaftlichen Reformprojekt Arbeitszeitverkürzung ist wenig zu spüren" große Skepsis angemeldet, ob die Gewerkschaften diese Erfahrung tatsächlich für eine arbeitszeitpolitische Revitalisierung nutzen werden.

Die IG Metall hat schon vor der Krise eine arbeitszeit- und leistungspolitische Initiative geplant und in Ansätzen auf den Weg gebracht. Ziel war und ist es, die Handlungs- und Durchsetzungsfähigkeit in den beiden zentralen strategischen Feldern Arbeitszeit und Leistung auszubauen und zu verbessern. Die Initiative will krisentaugliche, zukunftsfähige und beschäftigungssichernde Konzepte mit den leistungs- und arbeitszeitpolitischen Interessen und Bedürfnissen der Menschen verbinden.

Diese Ziele haben durch die Krise noch an Stellenwert gewonnen. Die breite Anwendung des Instruments der Kurzarbeit, aber auch der Abbau von Stunden auf Zeitkonten und verschiedene weitere arbeitszeitpolitische Maßnahmen haben zur größten Arbeitszeitverkürzung in der Nachkriegszeit und zur Beschäftigungssicherung in der Krise maßgeblich beigetragen. Niemand bestreitet heute mehr ernsthaft: Kürzere Arbeitszeiten sichern Beschäftigung. Aufgrund dieser Erfahrung stellt sich die Arbeitszeitfrage mit neuer Dynamik – vor allem auch mit Blick auf die Krisenfolgen und auf die Bewältigung der voraussehbaren schwierigen Arbeitsmarktentwicklung in der Metall- und Elektroindustrie.

Die IG Metall will diese Einsicht wach halten. Denn selbst wenn sich das wirtschaftliche Wachstum fortsetzt, wird das Arbeitsvolumen in absehbarer Zeit – auch aufgrund wieder steigender Produktivitätsraten – auf einem niedrigen Niveau verbleiben. Und es ist davon auszugehen, dass die Beschäftigungsprobleme im Organisationsbereich der IG Metall – wenn auch von Branche zu Branche und von Produktsegment zu Produktsegment in unterschiedlichem Ausmaß – in absehbarer Zeit bestehen bleiben.[5] Deshalb wird es weiterhin darum gehen, Beschäftigung zu akzeptablen Bedingungen in den Betrieben zu halten und dies durch solidarische Weichenstellungen zu unterstützen.

Dabei ist zu bedenken: Die Erfahrung der Beschäftigungssicherung durch Arbeitszeitreduzierung ist für viele KollegInnen eng mit der Erfahrung der Krise und damit einer "Notsituation" mit – wenn auch begrenzten – Entgelteinbußen verbunden, die es aus ihrer Sicht zu überwinden gilt. An die positiven Erfahrungen mit der erfolgreichen Beschäftigungssicherung kann dennoch angeknüpft werden – sie sind dafür mit weitergehenden arbeitszeitpolitischen Perspektiven zu verbinden. Sie können für eine erneute Debatte über Arbeitszeit genutzt werden – mit dem Ziel, im Betrieb und in der Tarifpolitik die Handlungsfähigkeit in Fragen der Arbeitszeit wiederzugewinnen bzw. auszubauen.

Bereits vor der Krise gab es einen erheblichen Handlungsdruck und Handlungsbedarf in den Betrieben. Seit einem Jahrzehnt entwickelten sich die tariflichen und die effektiven Arbeitszeiten immer weiter auseinander. Statt der in weiten Teilen der Metall- und Elektroindustrie vereinbarten 35-Stunden-Woche arbeiteten die Vollzeitbeschäftigten im Durchschnitt über 39 Stunden.[6] Außerdem nahmen flexible Arbeitszeiten erheblich zu. Dabei fand die Flexibilisierung in erster Linie als Anpassung der Arbeitszeiten an die Schwankungen des Marktes und nicht nach den Wünschen der Beschäftigten statt. Für die Beschäftigten wurden ihre individuellen Arbeitszeiten immer weniger berechen- und planbar. Ausufernde und flexibilisierte Arbeitszeiten führten nicht selten zu gesundheitlichen Beschwerden und zu einer wachsenden Schieflage zwischen Arbeit und Privatleben der Beschäftigten.

Um die Fortsetzung dieser negativen Trends zu vermeiden, sind die Debatte und die Auseinandersetzung um Arbeitszeit wieder aufzunehmen. Dabei muss berücksichtigt werden: Die Arbeitszeiten haben sich zwischen den Branchen, Betrieben und Betriebsbereichen stark ausdifferenziert. Es gibt neben der anhaltenden Kurzarbeit tarifliche Arbeitszeitstandards zwischen 35 und 40 Stunden in der Woche und betriebliche Arbeitszeiten, die teilweise weit darüber hinausgehen. Es gibt Teilzeitarbeit, es gibt verschiedene Schichtarbeits- und verschiedene Gleitzeit- und Kontenmodelle – und manchmal gibt es dies alles in ein- und demselben Unternehmen.

Mit den unterschiedlichen arbeitszeitpolitischen Ausgangslagen sind unterschiedliche Interessenlagen und Gestaltungswünsche der Beschäftigten verbunden, die es anzuerkennen und zu berücksichtigen gilt. In den unterschiedlichen Arbeitskonstellationen ist der betriebliche Handlungsdruck beträchtlich. Dies schließt allerdings nicht aus, gleichzeitig nach gemeinsamen Wünschen und Orientierungen der Beschäftigten zu fragen, die sich über die differenzierten Interessenlagen hinweg in den letzten Jahren herauskristallisiert haben. Wenn wir, was wir wollen, das Handlungsfeld Arbeitszeit in Zukunft auch tarifpolitisch wieder bearbeiten, dürfen wir die Frage nach dem "gemeinsamen Nenner" und der gemeinsamen Perspektive nicht aus den Augen verlieren.

Kein Verfall von Arbeitszeiten – Arbeit und Leistung ein gesundes Maß geben

In der Metall- und Elektroindustrie sind bis zur großen Krise viele Arbeitsstunden der Beschäftigten "verfallen", indem sie weder auf Arbeitszeitkonten gesammelt, noch in Geld ausbezahlt wurden.[7] Das widerspricht den Interessen der Beschäftigten nach Anerkennung ihrer Arbeit und bedeutet gleichzeitig das Aus für jeglichen betrieblichen und tariflichen Gestaltungsanspruch bei der Arbeitszeit. Um diesem Verfall entgegenzuwirken, geht es zunächst darum, alle Arbeitszeiten zu erfassen. Darüber hinaus muss mit den Beschäftigten gemeinsam daran gearbeitet werden, betriebliche (Arbeits)Bedingungen zu schaffen, die einem "freiwilligen" Verfallenlassen entgegenwirken. Denn Beschäftigte dehnen oft "freiwillig" ihre Arbeitszeiten aus, wenn sie die erwartete Leistung im Rahmen "normaler" Arbeitszeiten nicht schaffen. Um hier vorzubauen, sind der zunehmenden Maßlosigkeit bei den Leistungsanforderungen Grenzen zu setzen. Arbeitszeitpolitik muss sich deshalb immer auch um Fragen der Leistungsgestaltung und des Leistungsvolumens im Betrieb kümmern.

Beschäftigte – unabhängig davon, in welchen Bereichen sie arbeiten, ob sie Schichtarbeit oder Projektarbeit verrichten – haben ein großes Interesse an gesund erhaltenden Arbeits- und Leistungsbedingungen und an Arbeitszeiten, die es ihnen erlauben, ihre Arbeit bis zur Altersrente ohne gesundheitliche Einschränkungen ausüben zu können. Dabei spielen ausreichende Erholzeiten eine wichtige Rolle. Während in Bereichen mit traditionellen Belastungen stündliche oder tägliche Erholzeiten zum Ausgleich auf der Tagesordnung stehen, geht es bei Projektarbeit z.B. in Forschungs- und Entwicklungsbereichen eher um Auszeiten zwischen den Projekten und nach längeren Anspannungsphasen. Wenn die IG Metall tarifpolitisch an solchen unmittelbaren Interessen ansetzt, gewinnt sie bei Mitgliedern und Nichtmitgliedern an Attraktivität.

Mehr individuelle Zeitsouveränität – Balance von Arbeit und Leben

Die Beschäftigten wollen selbstbestimmter arbeiten und leben. Flexible Arbeitszeiten sollen sich nicht einfach nach den betrieblichen Auftragslagen oder den Wettbewerbsargumenten richten, sondern mehr nach den individuellen Bedürfnissen und Wünschen der Beschäftigten. Diesen individuellen Wünschen ein Fundament zu bauen, ist nur gemeinsam möglich. Individuelle Zeitsouveränität, nicht als leeres Versprechen, sondern als reale Möglichkeit, benötigt den Unterbau kollektiv gesicherter Ansprüche. Bei zukünftigen Regelungen der Arbeitszeit – auch wenn sie zugeschnitten werden auf die jeweilige Arbeitskonstellation – ist darauf zu achten, dass sie ein höheres Maß an individueller Zeitsouveränität erlauben. Wenn die Beschäftigten ihre Arbeitszeiten – auf Basis geregelter Ansprüche – selbstbestimmter gestalten und begrenzen können, steigen auch die Chancen, Arbeit und Privatleben wieder ins Lot zu bringen. Die hier beschriebenen neuen Weichenstellungen für eine kreative Arbeitszeitpolitik reichen alleine nicht aus, ein "neues gesellschaftliches Reformprojekt Arbeitszeitverkürzung"[8] auf den Weg zu bringen. Bei einem solchen Projekt wären in erster Linie auch die Arbeitszeitstandards und -realitäten bei den anderen Einzelgewerkschaften zu beachten sowie die Stärke der gesellschaftlichen Unterstützung. Umgekehrt reicht ein allein auf Arbeitszeitverkürzung abzielendes Reformprojekt nicht aus, die Handlungsbedingungen für Gewerkschaften nachhaltig zu verbessern. Dennoch sind die hier genannten Bausteine Bestandteile eines solchen Reformprojekts. Auch eine solche Zielrichtung qualitativer Tarifpolitik ist geeignet, die Attraktivität der IG Metall zu erhöhen. Das stärkt die Bindung vorhandener und erleichtert den Gewinn neuer Mitglieder.

6. Umsteuern notwendig

Wie bereits angemerkt, reichen die hier beschriebenen neuen arbeitszeitpolitischen Impulse und Weichenstellungen sicherlich nicht aus, die seit Anfang der 1990er Jahre grundlegend veränderten Handlungsbedingungen für Gewerkschaften nachhaltig zu verbessern. Sie reichen auch nicht aus, die "gewaltige finanzmarktkapitalistische Umverteilung" zu stoppen. Das kann Tarifpolitik allein nicht leisten. Dazu ist ein verteilungspolitisches Gesamtkonzept erforderlich, das bei den Ursachen nicht nur der aktuellen Finanzmarkt- und Wirtschaftskrise, sondern auch der Deregulierung von Arbeitsmarkt und sozialen Sicherungssystemen wie auch der Erosion der Tarifbindung ansetzt. Außer in der Tarifpolitik muss auch in der Arbeitsmarkt-, der Sozial-, der Industrie- und Wirtschaftspolitik eine auf sozialstaatliche Erneuerung und auf Nachhaltigkeit zielende Umsteuerung gelingen, die zu mehr Demokratie in Wirtschaft und Gesellschaft führt.

Tarifpolitik kann hierzu beitragen. Sie kann ein Baustein für ein sozialstaatlich ausgerichtetes verteilungspolitisches Gesamtkonzept sein. Dazu muss sie an übergreifende Entwicklungstrends von Ökonomie und Arbeit anknüpfen und mit ihren Gestaltungspotenzialen Weichen in Richtung alternativer, arbeitnehmerfreundlicher Entwicklungspfade stellen. Dazu muss es ihr auch gelingen, die Wünsche und Perspektiven der Menschen nach guter Arbeit und gutem Leben – selbstbestimmt, sicher und gesund – aufzugreifen und zu Forderungskonzepten zu bündeln. Dadurch erhöhen sich auch die Chancen, die verloren gegangene betriebliche und gesellschaftliche Hegemonie über Arbeitszeitfragen zurückzugewinnen.

Die IG Metall hat sich auf den Weg gemacht. Sie will die ambivalenten Erfahrungen der Menschen mit der finanzmarktgetriebenen Arbeits- und Leistungsgestaltung in den Betrieben und ihre Erfahrung, dass die Ökonomie der Maßlosigkeit in die Krise führt, für die eigene Revitalisierung nutzbar machen.

Helga Schwitzer ist geschäftsführendes Vorstandsmitglied der IG Metall, zuständig für Tarifpolitik. Zusammen mit Kay Ohl, Richard Rohnert und Hilde Wagner ist sie Herausgeberin des im August bei VSA erscheinenden Bandes "Zeit, dass wir was drehen. Perspektiven der Arbeitszeit- und Leistungspolitik".

[1] Sozialismus 6/2010, Forum Gewerkschaften, S. 41f.
[2] Siehe IG Metall Vorstand, FB Tarifpolitik (Hrsg): F. Fiehler/D. Sauer/F. Seiß: Indirekte Steuerung – Eine gewerkschaftspolitische Herausforderung, Frankfurt a.M. 2010.
[3] Vgl. "Bildung in Deutschland 2010". 3. Bildungsbericht vom 17. Juni 2010, im Auftrag der Kultusministerkonferenz (KMK) und des Bundesministeriums für Bildung und Forschung (BMBF).
[4] C. Ehlscheid/K. Pickshaus/H.-J. Urban: Die große Krise und die Chancen der Gewerkschaft, in: Sozialismus 6/2010, S. 43-49.
[5] H. Wagner/IG Metall Vorstand, FB Tarifpolitik: Arbeitszeitpolitik und Beschäftigungssicherung, Frankfurt a.M. 2010.
[6} A. Jansen/A. Kümmerling/St. Lehndorff: Die Entwicklung der tatsächlichen Wochenarbeitszeiten in der Metall- und Elektroindustrie, Institut Arbeit und Qualifikation (IAQ) Universität Essen-Duisburg, im Auftrag von IG Metall Vorstand, FB Tarifpolitik, Frankfurt a.M. 2009.
[7] S. Stieler/M. Schwarz-Kocher: Verfall von Arbeitszeiten in indirekten Tätigkeitsbereichen – Tarifliche und betriebliche Instrumente zur Regulierung, IMU-Institut Stuttgart, im Auftrag der Hans-Böckler-Stiftung, Stuttgart 2009.
[8] Sozialismus 6/2010, Forum Gewerkschaften, S. 42.

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