1. Juli 2003 Karl Georg Zinn

Realitäten und Visionen von Arbeit und Arbeitsmarktpolitik

Arbeitslosigkeit und nicht genutzte Kapazitäten würden zeigen, sagt Keynes, dass wir unter unseren Möglichkeiten leben. Insofern kann auch nicht von einer Gesellschaft die Rede sein, die über ihre Verhältnisse lebt. Im Sinne dieser Kritik zeigt Karl Georg Zinn, dass wir einerseits des Verständnisses einer über 20 Jahre währenden Stagnation bedürfen. Andererseits muss eine krisenbewusste Gesellschaft, wie nachfolgend umrissen, den Weg zu einer gleichmäßigeren Einkommensverteilung, einem nachhaltigen Investitionsprojekt und einem anderen Umgang mit der Lebensarbeitszeit ihrer Individuen finden.

1. Die zwanzigjährige Arbeitslosigkeit betrifft fast alle entwickelten Länder

Seit mehr als zwei Jahrzehnten – genauer: seit Mitte der 1970er Jahre – wirft die Massenarbeitslosigkeit einen dunklen Schatten über Land und Gesellschaft aus. Doch das ist keine Besonderheit der deutschen Volkswirtschaft. Fast alle entwickelten Industrieländer leiden unter Massenarbeitslosigkeit und ihren verheerenden Folgen für die Moral des Zusammenlebens, für die wichtigen Gemeinschaftsaufgaben und für die Zukunftsvorsorge.

Die Dinge scheinen in Deutschland jedoch besonders schlecht zu stehen. Bereits vor der deutschen Einheit war es der Regierung der stärksten europäischen Volkswirtschaft nicht gelungen, den Trend steigender Massenarbeitslosigkeit zu brechen. Nach 1990 brachte die Ausstattung der neuen Bundesländer mit frisch gedruckter D-Mark-West zwar einen vorübergehenden Kaufrausch, aber nur in Westdeutschland und den westlichen Nachbarländern belebte sich dadurch die Wirtschaft; nur dort stiegen die Arbeitseinkommen und die Gewinne, aber schon von 1992 an setzte sich der längerfristige Trend schwachen Wachstums und steigender Massenarbeitslosigkeit wieder fort. Inzwischen bildet Deutschland das Schlusslicht in Europa beim Wirtschaftswachstum. Daher verschlechtert sich auch die Beschäftigungssituation immer weiter, und die Zahl der Unternehmenspleiten wächst.

Über die verschiedenen nationalökonomischen Schulen hinweg besteht heute die einhellige Meinung, dass der Boom der so genannten "new economy" im Jahr 2000 zu Ende gegangen war und danach ein Abschwung einsetzte. Es wäre erforderlich gewesen, die Haushaltskonsolidierung zu unterbrechen, um die Verlangsamung des privatwirtschaftlichen Wachstums nicht auch noch durch staatliche Einsparungsmaßnahmen weiter abzubremsen. Doch dem standen sowohl die ideologische Verfestigung der staatlichen Konsolidierungspolitik als auch die unselige, völlig willkürliche Drei-Prozent-Grenze für staatliche Defizite des Maastrichter Vertrags entgegen. Diese wissenschaftlich nicht begründeten "3%" sind zu einer magischen Unheils-Zahl für Wachstum und Beschäftigung geworden. Das wahre Ausmaß der Arbeitslosigkeit ist der Öffentlichkeit noch gar nicht richtig bewusst. Die breite Arbeitslosigkeit, die im Unterschied zur statistischen Arbeitslosenquote auch die stille Reserve, die Frühverrentungen und andere in der Arbeitslosenstatistik nicht ausgewiesene, aber faktisch arbeitslose Personen umgreift, beträgt weit über sechs Millionen – im Unterschied zu den 4,5 Mio. der amtlichen Arbeitslosenstatistik. Die Beschäftigungslage in den neuen Bundesländern ist – wie bekannt - besonders angespannt. Dort kommen auf fünf offene Stellen etwa 100 Arbeitslose. Wenn nicht nur die breite Arbeitslosigkeit, sondern auch die prekären Beschäftigungsverhältnisse, die Niedriglohn- und Niedrigeinkommensbeschäftigung berücksichtigt werden, so dürfte inzwischen fast ein Drittel der deutschen Erwerbsbevölkerung wirtschaftlich und sozial marginalisiert oder gar ganz ausgegrenzt worden sein (Kittler 2001). Es ist zwar damit zu rechnen, dass es vom nächsten Jahr (2004) an wieder zu einem leichten Konjunkturaufschwung kommen wird, aber die hohe Arbeitslosigkeit wird dadurch nicht beseitigt werden. Inzwischen belastet die schon längst erwartete, jetzt auch deutlich sichtbare Abwertung des US-Dollars die europäischen und insbesondere die deutschen Exportindustrien. Die Risiken für Wachstum und Beschäftigung können also noch erheblich zunehmen. Von amerikanischen Wirtschaftsfachleuten wird nicht ausgeschlossen, dass der Euro-Kurs auf $ 1.45 oder gar $ 1.60 steigt. Für die exportabhängige deutsche Wirtschaft bedeutet das ein extremes Risiko. Umso wichtiger ist es daher, dass sich die deutsche – und die europäische – Wirtschaftspolitik auch auf eine solche extreme Entwicklung einstellt und endlich erkennt, dass die binnenwirtschaftliche Nachfrageschwäche das zentrale Problem in Deutschland und Westeuropa darstellt. Denn Erwerbsarbeit leitet sich von der Nachfrage nach Gütern – Sachgütern und Dienstleistungen – ab, ist also abgeleitete Güternachfrage. Deshalb ist der entscheidende Wachstumsfaktor in entwickelten Volkswirtschaften die Nachfragedynamik auf den Gütermärkten. In erster Linie muss dort Wachstum erzeugt werden; die Belebung der Arbeitsmärkte folgt dann zwingend.

2. Keine brauchbare Therapie ohne richtige Krisendiagnostik

Wenn sich an der äußerst kritischen Wirtschaftslage etwas ändern soll, so muss die Wirtschaftspolitik, insbesondere die Finanzpolitik, verändert werden. Doch was muss geschehen und in welcher Richtung müssen Wirtschafts-, Sozial- und Gesellschaftspolitik gehen, um den seit 20 Jahren anhaltenden Trend steigender Arbeitslosigkeit und unzureichenden Wachstums zu brechen?

Eine unabdingbare Voraussetzung für jede erfolgreiche Therapie ist die richtige Diagnose der Krankheit. Daran hapert es. Nicht erst heute, sondern im Grunde schon seit Beginn der langfristigen Wachstumsabschwächung. Es ist ein fundamentaler Irrtum, wenn die Wirtschaftskrise auf zu hohe Arbeits- und Sozialkosten und die staatlichen Ausgaben zurückgeführt wird. Die Bundesrepublik Deutschland realisiert Jahr für Jahr Exportüberschüsse. Das ist mit der beste Beweis für ihre internationale Wettbewerbsfähigkeit und widerlegt die Behauptung, die deutsche Wirtschaft litte an einer Kostenkrankheit. Die falsche Diagnose führte zu falscher Medizin. Es ist hinlänglich bekannt, dass weder während der vier Legislaturperioden der Regierung von Bundeskanzler Kohl noch nach der rot-grünen Wende 1998 eine grundlegende Besserung erreicht wurde. Bereits der gesunde Menschenverstand sollte uns sagen, dass die bisherigen wirtschaftspolitischen Rezepte offensichtlich untauglich waren, um die Massenarbeitslosigkeit zu überwinden. Wenn jetzt versucht wird, keine andere Medizin zu verabreichen, sondern nur die Dosis der falschen Medizin auch noch zu erhöhen – ich meine damit sowohl die "Agenda 2010" als auch den Schnellschuss der Hartz-Kommission aus Wahlkampfzeiten –, dann wird der Patient – die deutsche Volkswirtschaft – noch weiter abmagern. Schwindsucht lässt sich aber nicht mit Sparkost heilen. Im Kern laufen die Maßnahmen der Agenda 2010 und der Hartz-Kommission jedoch auf Einsparungen und auf weitere Kaufkraftbeschränkung gerade der einkommensschwächsten Gruppen hinaus. Betroffen sind vor allem die Krisenverlierer – die Arbeitslosen und Armen. Die Umverteilung von unten nach oben wird fortgesetzt; weitere Einschnitte in die sozialen Sicherungssysteme sind programmiert; und die ideologische Diffamierung des Solidaritätsideals kann wieder einen Sieg verbuchen. Denn was anderes als Entsolidarisierung bedeutet es, wenn die Opfer der kapitalistischen Wirtschaftskrise zu Schuldigen gemacht und auch noch "bestraft" werden. Die Vorschläge der Hartz-Kommission lassen sich unter die schlagwortartige Überschrift "Vermittlungsoffensive statt Zweiter Arbeitsmarkt" bringen. Dies ist nicht nur unter den gegenwärtigen Bedingungen steigender Massenarbeitslosigkeit falsch, sondern widerspricht auch dem Nachhaltigkeitsgebot der Arbeitsmarkt- und Beschäftigungspolitik. Hierbei handelt es sich um eine noch relativ junge, wenig bekannte Konzeption. Es geht darum, den Zweiten Arbeitsmarkt quasi anschlussfähig für den Ersten Arbeitsmarkt zu machen. Dies soll dadurch erreicht werden, dass am Zweiten Arbeitsmarkt "marktnahe" Produktionen aufgezogen werden, die zwar gegenwärtig wegen der Krisenlage keine Marktnachfrage finden, aber unter besseren, normalen Wachstums- und Beschäftigungsbedingungen sehr wohl in den Ersten Arbeitsmarkt hineinfließen.

Es kann nicht überraschen, dass diejenigen, die von der unsozialen Umverteilungspolitik profitieren, ihr Beifall zollen, gegen die Gewerkschaften zu Felde ziehen und mehr oder weniger verhalten das Loblied auf eine Regierung singen, die sich mit den Organisationen der Lohnabhängigen anlegt. Umso notwendiger sind die Proteste und Demonstrationen gegen diesen sozial- und beschäftigungspolitischen Irrweg. Und es ist gut und richtig, dass der Widerstand gegen soziale Ungerechtigkeit und gegen die arrogante Unverfrorenheit der Rückschrittspolitiker heftiger wird. Schon viel zu lange dauerte das Wohlverhalten der Verlierer und Gebeutelten dieser neuen Krise der kapitalistischen Ökonomie.

3. Arbeit bei ausreichendem Einkommen – keine moderne "Sklaverei"

Die vorangegangenen Bemerkungen mögen zur Einstimmung genügen. Ich schulde Ihnen jetzt eine genauere Analyse der Ursachen der Arbeitslosigkeit, also die Diagnose der kranken kapitalistischen Ökonomie. Erst daran anschließend macht es Sinn, auch Therapien zu erörtern. Ich sage ausdrücklich Therapie-n, denn es gibt verschiedene Möglichkeiten, Arbeitslosigkeit zu reduzieren. Die Alternativen sind sozialethisch gesehen von ganz unterschiedlicher Qualität; es gibt sozusagen solidarische Wege zu mehr Beschäftigung und andere Möglichkeiten, die zu noch mehr Ungleichheit und gesellschaftlicher Spaltung führen. Es wird also notwendig sein, den Erfolg einer beschäftigungspolitischen Rezeptur nicht allein an den Daten der Arbeitslosenstatistik zu messen, sondern auch die Lebenslage der Menschen möglichst umfassend in Betracht zu ziehen und sich die Frage zu stellen, ob denn eine Verminderung der rein statistischen Arbeitslosigkeit nicht zugleich mit einem Mehr an sozialer Ungerechtigkeit bezahlt wird. Ich erinnere daran, dass die statistisch ausgewiesene Beschäftigungszunahme in den USA während der 1980er Jahre und auch noch bis Mitte der 1990er Jahre vor allem auf einem Wachstum prekärer Niedriglohnbeschäftigung beruhte. Die "arbeitenden Armen" – die "working poor" – sind typisch für das US-Beschäftigungswachstum in jener Zeit. Unter kapitalistischen Verhältnissen ist es durchaus möglich, mehr Beschäftigung durch mehr Armut herbeizuführen. Ob das allerdings mit den sozialen Menschenrechten und dem historischen Entwicklungsstand der reichen Volkswirtschaften vereinbar ist, möchte ich entschieden in Zweifel ziehen. Denn auch das Sklavenhaltersystem kannte "Vollbeschäftigung".

4. Überschuss an Produktionsfähigkeit, Mangel an Massennachfrage

Die hoch entwickelten Volkswirtschaften, die so genannten "reifen" Ökonomien, leiden weder unter einem Kapitalmangel wie die Dritte-Welt-Länder, noch fehlt es an technischen Fähigkeiten, natürlichen Ressourcen oder anderen angebotsseitigen Faktoren. Vielmehr besteht das Problem darin, die ständig wachsenden Produktionsfähigkeiten auch sinnvoll zu nutzen und in gesellschaftlichen Wohlstand umzusetzen. In den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg war das einigermaßen gelungen. Doch der Nachkriegsaufschwung musste irgendwann zu Ende gehen, sobald nämlich der Nachholbedarf befriedigt und der Wiederaufbau abgeschlossen war.

Einige herausragende Wirtschaftstheoretiker hatten die unvermeidliche Wachstumsabschwächung für die Zeit nach Auslaufen des Nachkriegsaufschwungs schon lange im voraus prognostiziert. Unter anderem hatte John Maynard Keynes (1883–1946), der bedeutendste Ökonom des vergangenen Jahrhunderts, bereits während des Zweiten Weltkriegs, im Frühjahr 1943, die voraussichtliche Wirtschaftsentwicklung für die Zeit nach Kriegsende grob skizziert. Diese Prognose aus dem Kriegsjahr 1943 umriss die tatsächliche Nachkriegsentwicklung erstaunlich zutreffend. Für uns ist es besonders interessant, dass Keynes aufgrund seines tiefgehenden Verständnisses der kapitalistischen Wirtschaft die anhaltende Wachstumsabschwächung vorhersagen konnte, die lange nach Keynes’ Tod Mitte der 1970er Jahre dann tatsächlich eingetreten ist. Keynes bezeichnete diese neue Phase als "Stagnation". Er hatte vorausgesagt, dass ohne eine grundlegende Veränderung der Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik die Beschäftigungsprobleme in der Stagnationsphase ein katastrophales Ausmaß erreichen würden. Seine beschäftigungspolitischen Empfehlungen umfassen vor allem folgende drei Punkte:

  Eine gleichmäßigere Einkommensverteilung, um den ärmeren Schichten die Kaufkraft zu geben, damit sie noch ungedeckten Konsumbedarf in Nachfrage umsetzen können, womit zugleich ein Anreiz für Erweiterungsinvestitionen verbunden ist.

  Eine Ausweitung der sinnvollen öffentlichen Investitionen und Gemeinschaftsleistungen. Hierbei geht es sowohl um staatliche Nachfrage nach privat produzierten Sachgütern und Dienstleistungen als auch um direkte Beschäftigung im öffentlichen Dienst, was auch eine Politik des Zweiten Arbeitsmarktes einschließt.

  Schließlich als unabdingbare Maßnahme in einer Wirtschaft, die durch anhaltenden technischen Fortschritt, also durch Rationalisierungen bzw. Produktivitätssteigerungen, charakterisiert ist, die fortlaufende Verkürzung der Arbeitszeit. Ob dies die Wochenarbeitszeit, die Jahresarbeitszeit oder die Lebensarbeitszeit betrifft, ist eine nachrangige Frage. Gerade wegen der zunehmenden Lebenserwartung kann der Spielraum für Arbeitszeitverkürzungen zugunsten der längeren Ruhestandsperiode genutzt werden. Also etwa konstante Arbeitszeiten während der aktiven Lebensphase, aber dafür eben mehr arbeitsfreie Jahre im Alter. Doch damit diese Rechnung aufgeht, muss das Arbeitskräftepotenzial, das durch die Zunahme der Frauenerwerbsquote noch steigen wird, auch ausgeschöpft bzw. beschäftigt werden. Wirksame Beschäftigungspolitik ist also unabdingbar auch für die Sicherung der Altersrenten und der anderen Sozialsysteme.

5. Länderbeispiele für alternative Wirtschaftspolitik

Wie bereits erwähnt, veränderte sich die Wirtschaftsentwicklung seit Mitte der 1970er Jahre grundlegend. Es kam zu einer bis heute anhaltenden Abschwächung der Wachstums in allen Industrieländern. Parallel dazu stieg die Arbeitslosigkeit. Die wirtschaftspolitischen Reaktionen der verschiedenen Länder und Regierungen wiesen jedoch in unterschiedliche Richtungen. Es gab Länder, die an der beschäftigungspolitischen Verantwortung des Staates festhielten und auch die sozialstaatlichen Fortschritte nicht ohne Erfolg gegen die weltweite Krise verteidigten. Doch in anderen Ländern, zu denen Deutschland gehört, zog sich der Staat schrittweise aus seiner Verantwortung für Beschäftigung, gesellschaftlichen Zusammenhalt und angemessene soziale Sicherheit zurück. Zu den Ländern mit einem klaren beschäftigungspolitischen Erfolgskurs zählte Schweden; lange Zeit auch Österreich und Dänemark – sowie mit gewissen Einschränkungen die Niederlande. Beschäftigungspolitisch sehr erfolgreich zeigte sich auch Frankreich während der relativ kurzen Regierungszeit von Premierminister Jospin. Zwischen 1997 und 2002 gelang es der von der französischen sozialistischen Partei geführten Regierung, die Arbeitslosenquote um über vier Prozent, nämlich von 12,5% 1997 auf etwa 8% im letzten Regierungsjahr von Jospin zu senken, und zwar ohne massiven Sozialabbau und bei weit höherem Wachstum des Bruttoinlandsprodukts und der privaten Investitionen als in Deutschland. Frankreich und die Niederlande haben auch gezeigt, dass sich mit vorsichtiger Arbeitszeitverkürzung selbst unter kritischen Bedingungen zusätzliche Arbeitsplätze schaffen lassen. Offensichtlich gab – und gibt – es doch Möglichkeiten, mehr Beschäftigung zu erreichen, ohne die soziale Armutsquote in die Höhe zu treiben oder sich von Globalisierungsängsten lähmen zu lassen.

6. Zwei Wege: "Ausbau des Sozialstaats" oder "Rückkehr zum alten, gemeinwohlvergessenen Kapitalismus"

Die Wirtschaftskrise, die – wie schon mehrmals erwähnt – Mitte der 1970er Jahre einsetzte, brachte eine Wende in der Entwicklung des jüngeren Kapitalismus. Prinzipiell ging es damals um zwei grundverschiedene Optionen, wie auf die Krise zu reagieren wäre. Plakativ lassen sich die beiden Möglichkeiten als "Ausbau des Sozialstaates" auf der einen Seite und "Rückkehr zum alten, gemeinwohlvergessenen Kapitalismus" auf der anderen Seite charakterisieren.

Die erste Möglichkeit erforderte, den bereits seit Ende des Zweiten Weltkriegs eingeschlagenen Weg der fortschrittlichen Sozial- und Beschäftigungspolitik weiter zu gehen. Dies hätte mehr Staat, stärkere Umverteilung im Sinn einer Abflachung der Verteilungspyramide und somit auch eine höhere Steuerlastquote und mehr gemeinwohlorientierte Regelungen erfordert. Es ist das Gegenteil dessen, was in unserem Land unter dem Einfluss des Neoliberalismus populär gemacht und praktiziert wurde.

Die sozialstaatliche Konzeption der Beschäftigungssicherung schwebte Keynes und anderen Wirtschaftswissenschaftlern für den Fall einer dauerhaften Wachstumsreduktion der kapitalistischen Wirtschaften vor. Bis zu einem gewissen Grad wurde dieser Weg, wie schon bemerkt, in den skandinavischen Ländern, zeitweilig auch in Österreich beschritten. Doch in einer Weltwirtschaft, die politisch gewollt auf den ganz anderen Weg einer Regeneration des anti-sozialstaatlichen Kapitalismus gezwungen wurde, hatten jene Enklaven einer betont gemeinwohlorientierten Wirtschaftsordnung nur geringe Überlebenschancen. Unter dem Einfluss der angelsächsischen Regierungen, Präsident Reagans in den USA und Premierministerin Thatchers in Großbritannien, ging es vorwärts in die Vergangenheit des vor-sozialstaatlichen Kapitalismus.

Die ideologische Verbrämung dieser die Kapitalinteressen privilegierenden Politik lieferte der Neoliberalismus, jene quasi-religiöse Heilsbotschaft von der Zauberkraft der freien Marktkräfte. Das beschäftigungspolitische Grundprinzip dieser Wirtschaftslehre ist recht einfach. Es läuft auf zunehmende Verteilungsungleichheit hinaus, auf die Aufspaltung der Gesellschaft in Besser- und Bestverdiener einerseits und Niedriglöhner sowie auf Teilzeit verwiesene Empfänger von Niedrigeinkommen andererseits. Niedrige, oftmals nicht mehr die Existenz sichernde Arbeitseinkommen der Unterbeschäftigten sollen den Wohlhabenden Anreiz bieten, möglichst viel einfache Dienstleistungsarbeitsplätze zu schaffen und auf diese Weise die statistische Arbeitslosenziffer zu senken. Die neoliberalistische Beschäftigungsstrategie läuft auf eine Art neuer Feudalgesellschaft hinaus, in der die einen billige Dienste produzieren und die anderen sie konsumieren.

Das bereits erwähnte US-Modell zeigt, wie die Sache funktioniert – oder auch nicht. Um die Niedriglohn-Strategie massenhaft durchsetzen zu können, müssen selbstverständlich Lohnersatzleistungen reduziert oder ganz beseitigt werden. Es geht also um eine neue Form des Arbeitszwangs. In der Tat lässt sich so die Zahl der Mini- und Midi-Jobs und der Billiglohnarbeitsplätze mehr oder weniger vergrößern. Damit wird jedoch das gesamtwirtschaftliche Arbeitsvolumen nicht erhöht. Vielmehr kommt es zu Mitnahmeeffekten, Verdrängungsprozessen und dem "Drehtüreneffekt", der – das sei zugestanden – immerhin den Vorteil haben kann, dass nicht nur die Arbeitgeber die geeigneteren Arbeitskräfte finden, sondern auch die durchschnittliche Dauer der Arbeitslosigkeit für manche reduziert wird; die Arbeitslosigkeit wird sozusagen besser verteilt. Wenn es beispielsweise durch Subventionierung und/oder Reduktion der Sozialabgaben im Bereich der so genannten "geringfügigen Beschäftigung" (400-Euro-Jobs) für Arbeitgeber kostengünstiger wird, Normalarbeitsverhältnisse durch solche Arbeitsplätze zu ersetzen, steigt statistisch zwar die Zahl der geringfügig Beschäftigten, aber eben zu Lasten der regulären Arbeitsplätze. Das ist weder sozialethisch akzeptabel, noch steigt damit die gesamtwirtschaftliche Beschäftigung. Im Gegenteil ist wegen der Kaufkraftverluste eher mit weiteren gesamtwirtschaftlichen Beschäftigungseinbußen zu rechnen. Zudem werden die Zukunftserfordernisse einer entwickelten Volkswirtschaft durch die Ausweitung der nicht mehr existenzsichernden Beschäftigung schwer verletzt – u.a. durch verringerte oder völlig fehlende Rentenanwartschaften der geringfügig Beschäftigten.

7. Wann wird Sozialabbau verfassungswidrig?

Gegenüber der Politik der Ausweitung von nicht mehr die Existenz sichernder Beschäftigung und der in diesem Zusammenhang praktizierten Absenkung von Sozialtransfers stellt sich nicht nur ganz allgemein die sozialethische Frage nach dem menschenwürdigen Existenzminimum, sondern es geht im Bereich des deutschen Grundgesetzes auch um das spezielle verfassungsrechtliche Problem, wie weit der Sozialstaat noch demontiert werden darf bzw. kann, ohne dass damit die grundgesetzliche Sozialstaatsgarantie schwer verletzt wird. Der Selbstgerechtigkeit der Bessergestellten, die den Sozialstaat nicht brauchen, sich aber anmaßen, ihn neu zu definieren und unter dem Etikett des "Umbaus" nur Abbruch meinen, muss Widerstand entgegengesetzt werden.

Wenn das höchste deutsche Gericht wegen irgendwelcher steuerrechtlicher Sachverhalte (etwa wegen der [Un-]Gleichbehandlung bei Vermögens- und Erbschaftssteuern) angerufen wurde und gelegentlich bestimmte Gesetzesregelungen als verfassungswidrig kippte, so könnte und sollte die Wächterfunktion dieser Institution erst recht zugunsten der Sozialstaatlichkeit in Anspruch genommen werden. Der bar jeder Leistungsbezogenheit wachsende Überreichtum an der Spitze der Verteilungspyramide bei gleichzeitigem Anstieg der sozialen Armut ist schlicht sozialstaatswidrig und somit eine Art Verfassungsbruch.

8. Die riskierte Zukunftsfähigkeit von Wirtschaft und Gesellschaft

Die moralischen und verfassungsrechtlichen Probleme, die von der neoliberalistischen Wirtschaftspolitik provoziert werden, betreffen nur die eine Seite der Medaille. Verheerend sind auch die Zukunftseffekte dieser Politik. Mit der ideologisch forcierten Privatisierung, der Entstaatlichung, der Deregulierung, der Flexibilisierung und der zum Selbstzweck verkürzten Einsparungswut wird die künftige Leistungsfähigkeit der Volkswirtschaft schwer geschädigt. Gerade dadurch bürdet man den kommenden Generationen unnötige Lasten auf. Wenn heute zu wenig in Bildung, Forschung, materielle Infrastruktur und moderne Produktionsanlagen investiert wird, dann vererbt die lebende Generation den Kindern und Enkeln vielleicht weniger Schulden, aber auch weitaus weniger Human- und Sachkapital. Einsparungspolitik erzeugt keine Wachstumspotenziale, sondern vernichtet sie. Deshalb wird auch ein scheinbarer Erfolg dieser Politik, nämlich die Zunahme von Niedriglohn- und geringfügiger Beschäftigung, das Grundproblem nicht nur nicht lösen, sondern dem quantitativen Mangel an Arbeitsplätzen auch noch den qualitativen Mangel hinzufügen, die prekäre, technologisch uninteressante Beschäftigung auszuweiten, statt sie einzudämmen. Das Wachstum bleibt dabei schwach. Statt hoch produktiver Arbeitsplätze, die entsprechende Einkommen, Gewinnbeiträge und Steuereinnahmen verschaffen, vermehren sich nur die wertschöpfungsarmen, produktivitätsschwachen, rückständigen Jobs.

Die oftmals chaotisch erscheinenden Einzelmaßnahmen der Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik der jüngeren Vergangenheit vermitteln zwar gerade nicht den Eindruck, dass eine klare Strategie zugrunde liegt, sondern dass die Politik von einer Augenblicksaktivität zur nächsten taumelt. Dennoch lässt sich das im Hinblick auf seine strategische Wirkung so undurchsichtig erscheinende Konglomerat von politischen Bocksprüngen auf eine Grundlinie zurückführen. Es geht, wie ausgeführt, darum, die Gesellschaft in steigendem Maße in Arm und Reich zu spalten, um die einen für die anderen arbeiten zu lassen.

9. Wohlstandsgerechte Beschäftigung mittels wertschöpfungsstarker Arbeit

Es sei noch einmal wiederholt: Die Volkswirtschaften der reichen Länder leiden an unzulänglicher Nachfrage, nicht an fehlender Produktionsfähigkeit und Leistungskraft. Es kommt also darauf an, die hohen, seit vielen Jahren nicht ausgelasteten Produktionspotenziale wieder für Wachstum und Wohlstand zu nutzen. Hier liegt die vordringliche Aufgabe der Wirtschaftspolitik. Erforderlich ist eine grundlegende Neuorientierung. Nicht noch mehr von der falschen Medizin, wie es gegenwärtig geschieht, sondern eine ganz andere Therapie ist notwendig. Der jährliche Wertschöpfungsverlust durch die Massenarbeitslosigkeit beläuft sich allein für unser Land auf etwa 250–300 Milliarden Euro. Wenn also wieder annähernd Vollbeschäftigung erreicht würde, ließen sich auch alle Finanzierungsprobleme der öffentlichen Haushalte und der sozialen Sicherungssysteme relativ leicht bewältigen.

Der gesamtwirtschaftliche Produktionsapparat muss anders organisiert werden, um jenes Ziel zu erreichen. Die bisherige Wirtschaftspolitik war dazu nicht geeignet, sondern hat im Gegenteil die Probleme noch verschärft, auch wenn sie die neue Krise des Kapitalismus letztlich weder verursacht noch zu verantworten hat.

Die lang anhaltende Wirtschaftsflaute der kapitalistischen Industrieländer kann nur durch nachfragepolitische Maßnahmen überwunden werden – oder gar nicht. Alle anderen, auf der Angebotsseite ansetzenden Bemühungen laufen ins Leere, solange das Nachfrageproblem ungelöst bleibt. Hingegen kann sich die Angebotsförderung dann als recht sinnvoll und produktiv erweisen, wenn sie kombiniert mit einer ausreichenden Nachfrageexpansion eingesetzt wird. Beispiel: Vermittlungsoffensive. Selbstverständlich sind alle Verbesserungen bei der Arbeitsvermittlung zu begrüßen, wenn dadurch Angebot und Nachfrage schneller und passgenauer aufeinander abgestimmt werden. Doch dadurch entstehen keine neuen Arbeitsplätze. Eine bessere Mangelverwaltung allein beseitigt eben noch nicht den Mangel an vollwertiger Beschäftigung.

Die Aufgabe, wieder in die Nähe des Vollbeschäftigungsniveaus zu kommen, wird sich nicht von heute auf morgen, aber doch innerhalb einiger Jahre erfüllen lassen. Hierbei sollten die Möglichkeiten genutzt werden, die sich durch die Europäische Union und insbesondere die Währungsunion bieten. Es kommt auf eine gemeinsame Initiative europäischer Regierungen an. Eine enge Kooperation von Deutschland und Frankreich etwa bei einem europäischen Infrastrukturprogramm wäre möglich.

Hierfür liegen seit fast zehn Jahren brauchbare Vorschläge vor. Die Brüsseler Kommission hatte noch während der Präsidentschaft von Jacques Delors im Herbst 1993 in einem "Weißbuch" zu den "Herausforderungen der Gegenwart und Wege ins 21. Jahrhundert", wie der Untertitel lautet, ein solches wachstums- und beschäftigungspolitisches Infrastrukturprojekt auf europäischer Ebene vorgeschlagen. Unsere Regierung sollte dieser Wegweisung folgen, statt noch mehr neoliberalistisches Unheil anzurichten.

10. Auf längere Sicht: Entweder Freizeitwachstum oder massenhaftes Arbeitslosenelend

Beschäftigungspolitik ist eine langfristige Daueraufgabe. Deshalb müssen auch für die fernere Zukunft Perspektiven formuliert werden. Wir alle wissen, dass endloses Wachstum auf dem endlichen Planeten Erde weder ökologisch vertretbar noch überhaupt möglich ist. Deshalb gilt es, das Instrument der Arbeitszeitverkürzung auf dem Weg in die Zukunft weit stärker als bisher zu nutzen. Denn aller Voraussicht nach wird der technische Fortschritt auch künftig Rationalisierungen bewirken und somit Produktivitätswachstum hervorrufen. Es wird möglich sein, immer mehr Güter mit immer weniger Arbeit herzustellen. Dieser große Erfolg der technischen Neuerungen muss aber auch für die Menschen genutzt werden, nämlich für mehr Freizeit bei mindestens stabilem materiellen Lebensstandard. Es war schon darauf hingewiesen worden, dass mit Blick auf die demografische Entwicklung längere Freizeit nicht gleichbedeutend sein muss und sein kann mit kürzerer Arbeitszeit, sondern mehr Freizeit wird in Form von längeren Renten- bzw. Ruhestandsphasen realisiert werden müssen. Unsere Lebensarbeitszeit wird sich also nicht wesentlich verkürzen (lassen), aber wir werden insgesamt länger leben. Auf jedes Lebensjahr entfallen somit durchschnittlich weniger Arbeitsstunden. Wenn heute während eines Arbeitslebens zwischen 55.000 bis 60.000 Stunden gearbeitet wird, so auch künftig. Doch der Freizeitunterschied liegt eben darin, dass die Lebenserwartung steigt.

Zum Abschluss sei noch eine kurze Einschätzung der Erfolgsaussichten der in den vorstehenden Überlegungen skizzierten Beschäftigungspolitik gewagt. Wenn nur die wirtschaftlich-technische Machbarkeit betrachtet wird, so lässt sich in der Tat durch angemessen dimensionierte Nachfragepolitik relativ rasch auch eine merkliche Beschäftigungszunahme erreichen. Dies haben – leider – vor allem jene Volkswirtschaften bewiesen, die durch bedenkenlose Rüstungsausgaben ihre Volkswirtschaften auf Trab brachten. Dies gilt nicht nur für Kriegsökonomien, sondern auch für Friedenswirtschaften (so etwa in den USA während der 1980er Jahre, als Präsident Reagan faktisch "Rüstungskeynesianismus" praktizierte). Skeptisch zu beurteilen sind jedoch die politischen Aussichten, dass es bald zu der notwendigen fundamentalen Neuorientierung kommt.

Dem steht die inzwischen bei den meisten Politikern und in der breiten Öffentlichkeit tief verwurzelte Vorstellungswelt der neoliberalistischen Ideologie entgegen. Aufklärung und Ideologiekritik sind daher ebenso wichtig, um der Vollbeschäftigung wieder näher zu kommen, wie die handfesten nachfragepolitischen Programme selbst. Nur wenn es gelingt, Wählerinnen und Wähler von der Notwendigkeit einer nachfrageseitigen Neuorientierung der Beschäftigungspolitik zu überzeugen, werden auch Politiker und Parteien sich zu dem Kurswechsel bewegen lassen, ohne den unsere wirtschaftlichen und sozialen Probleme ungelöst bleiben.

Literatur
Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik, Memorandum 2003. Krise im Schatten des Krieges – Mehr Steuern für mehr Beschäftigung statt Abbruch des Sozialstaates, Köln 2003.
Horn, Gustav Adolf, Deflationsgefahr. Die Lohn-Logik, in: Handelsblatt, Nr. 12, vom 17./18. Januar 2003, S. 8.
Kittler, Klaus, Leitbilder einer zukünftigen Arbeitsmarktpolitik in: Kittler, K. / ZEPRA e. V., Hrsg., Paradigmenwechsel in der Arbeitsmarktpolitik. Von der Zielgruppenorientierung zur Prävention, Hamburg 2001, S. 104-108.
Koch, Angelika / Bäcker, Gerhard, Mit Mini- und Midi-Jobs aus der Arbeitslosigkeit? Die Neuregelungen zur Beschäftigungsförderung im unteren Einkommensbereich, in: Sozialer Fortschritt, Jg. 52, H 4, 2003, S. 95-102.
Kommission der Europäischen Gemeinschaften, Wachstum, Wettbewerbsfähigkeit, Beschäftigung. Herausforderungen für die Gegenwart und Wege ins 21. Jahrhundert. Weißbuch, Brüssel / Luxemburg 1993 (Beilage 6 / 93 zum "Bulletin der Europäischen Gemeinschaften").
WissenTransfer (Wissenschaftliche Vereinigung für Kapitalismusanalyse und Gesellschaftspolitik e.V.), Hrsg., Halbierung der Arbeitslosigkeit bis 2005? Mit Leiharbeit und Niedriglohn zum flexiblen Kapitalismus. Zur Kritik der Hartz-Kommission, Hamburg (2002).
Zinn, Karl Georg, Wie Reichtum Armut schafft. Verschwendung, Arbeitslosigkeit und Mangel, 2. Aufl., Köln 2002.
Zinn, Karl Georg, Jenseits der Markt-Mythen. Wirtschaftskrisen: Ursachen und Auswege, Hamburg 1997.

Statistiken zur mittelfristigen Wirtschaftsentwicklung in den Ländern der Europäischen Union finden sich u. a. in: European Commission, European Economy, No. 6, 2002; (The EU economy: 2002 review).

Karl Georg Zinn ist Professor für Volkswirtschaft/Außenwirtschaft am Institut für Wirtschaftswissenschaften der Rheinisch-Westfälischen Technischen Hochschule Aachen.

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