1. September 2005 Martin Kutscha

Recht gegen Neonazis

Die gegenwärtig meist niedrigen Wahlergebnisse für NPD und DVU dürfen nicht darüber hinwegtäuschen, in welchem Maße neonazistische Ideologie und rassistische Freund-Feind-Schemata gerade auch bei jungen Menschen Anklang finden. Es sind weniger die rassistisch motivierten Gewaltverbrechen gegen "Fremde" als die medienwirksamen Aufmärsche von Neonazis an symbolisch befrachteten Stätten, die die Politiker nach neuen Gesetzen sowie dem massiven Einsatz des Verfassungsschutzes rufen lassen.

Der Nutzen dieser Instrumente bei der "Bekämpfung des Rechtsextremismus" ist durchaus fragwürdig – vor allem aber geraten dabei die politischen und gesellschaftlichen Hintergründe neonazistischer Aktivitäten leicht aus dem Blickfeld.[1] Gleichwohl ist es sinnvoll, sich der bestehenden Rechtsgrundlagen auf den verschiedenen Ebenen zu vergewissern, um deren Potenzial im Rahmen der politischen Auseinandersetzung mit neonazistischen Kräften richtig einschätzen zu können. Auf die Wirkung stumpfer Waffen sollte man besser nicht vertrauen.

Die Verfassungsebene

In zahlreichen Normen unseres Grundgesetzes aus dem Jahre 1949 kommt die entschiedene Abkehr vom kurz zuvor überwundenen NS-System zum Ausdruck: Dies beginnt mit dem emphatischen Bekenntnis zur Unantastbarkeit der Menschenwürde in Art. 1 I[2] sowie überhaupt der Platzierung der Grundrechte des Einzelnen vor den staatsorganisatorischen Regelungen, reicht über die Verankerung der Friedenspflicht und des strikten Verbots schon der Vorbereitung von Angriffskriegen in Art. 26[3] bis zur Statuierung besonderer Eingriffsinstrumentarien zum Schutz der Verfassungsordnung.[4] Diese "Verfassungsschutztrias" umfasst die Regelung zur Verwirkung von Grundrechten in Art. 18, die Ermächtigung zum Verbot bestimmter Vereinigungen, Art. 9 II, sowie die Möglichkeit zum Verbot politischer Parteien gemäß Art. 21 II.[5] Angesichts des Scheiterns des Verbotsverfahrens gegen die NPD im Frühjahr 2003 wurde von Politikern der Bundestagsparteien allerdings bezweifelt, ob die Institutionen des geltenden Verfassungsrechts den aktuellen Herausforderungen durch neonazistische Aktivitäten – in manchen Landesparlamenten wie auch "auf der Straße" – noch gerecht werden.

Das Bundesverfassungsgericht hat in seinem Beschluss vom 18. März 2003 der NPD indessen keineswegs die verfassungsrechtliche Unbedenklichkeit ihrer Programmatik bescheinigt, ja diese nicht einmal einer näheren Überprüfung unterzogen.[6] Das Verbotsverfahren wurde vielmehr eingestellt, weil für dessen Fortsetzung eine Zweidrittelmehrheit im erkennenden Zweiten Senat des Gerichts notwendig gewesen wäre,[7] die nicht zustande kam. Drei Mitglieder dieses Senats waren mit guten Gründen der Auffassung, dass ein "nicht behebbares Verfahrenshindernis" vorlag.[8] Dieses erblickten sie in der Einflussnahme diverser V-Leute des Bundesamtes sowie einiger Landesämter für Verfassungsschutz auf die Willensbildung in den Führungsebenen der NPD, womit der Sache nach von einer "Veranstaltung des Staates" gesprochen werden könne.

Auch abgesehen davon erwecken die in den letzten Jahren bekannt gewordenen Verquickungen von V-Leuten des Verfassungsschutzes mit der Neonaziszene vor allem in einigen ostdeutschen Bundesländern[9] doch erhebliche Zweifel an der Wirksamkeit einer solchen "Bekämpfung" oder auch nur einer effektiven Aufklärung. Eher verstärken solche Vorfälle den Eindruck des Osnabrücker Staatsrechtlers Jörn Ipsen, "dass Bedienstete des Verfassungsschutzes und Parteifunktionäre über Jahrzehnte hinweg eine Art Symbiose eingegangen sind, die sich für beide Seiten – ohne zeitliche Begrenzung – als vorteilhaft erwiesen haben dürfte. Insofern trifft die Frage nach einer möglichen ›Steuerung‹ der NPD durch Verfassungsschutzorgane nicht im Kern; es stellt sich vielmehr die Frage, welche nicht unbeträchtlichen Mittel der Rechtsstaat für zweifelhafte Zwecke zur Verfügung stellt und damit partiell zum 'Observationsstaat' mutiert".[10]

Auf der Grundlage des Art. 21 Abs. 2 GG wurden bisher zwei Parteienverbote ausgesprochen, und zwar 1952 gegen die SRP,[11] eine Art Wurmfortsatz der NSDAP, und 1956 gegen die KPD.[12] Dem gegenüber führt das Instrument der Grundrechtsverwirkung nach Art. 18 GG bisher ein absolutes Schattendasein: Die insgesamt vier Anträge von Bundesregierungen gegen einzelne exponierte Vertreter des rechtsextremen Spektrums[13] wurden allesamt vom Bundesverfassungsgericht abgelehnt.[14]

Keine geringe Rolle in der Verfassungspraxis spielt dem gegenüber die Verbotsnorm des Art. 9 II GG: Inzwischen wurden in über 400 Fällen Verbote gegen Vereinigungen verschiedener Couleur ausgesprochen, darunter auch etliche neonazistische Organisationen.[15] Die Verbotsvoraussetzungen nach Art. 9 II GG sind weiter gefasst als bei den Art. 18 und 21 II GG: Vereinigungen können nicht nur dann verboten werden, wenn sie die freiheitliche demokratische Grundordnung bekämpfen,[16] sondern auch, wenn sie sich "gegen den Gedanken der Völkerverständigung richten", oder wenn "deren Zwecke oder deren Tätigkeit den Strafgesetzen zuwiderlaufen". Entgegen dem Wortlaut der Verfassungsnorm ("sind verboten") folgt die Illegalität der entsprechenden Vereinigung nicht ex lege, also gleichsam automatisch, sondern bedarf jeweils einer konkreten Verbotsverfügung im Einzelfall.[17] Die Zuständigkeit hierfür ergibt sich mangels einer Regelung in Art. 9 II GG aus § 3 II Vereinsgesetz. Danach ist der Bundesinnenminister für das Verbot solcher Vereinigungen zuständig, deren Organisation oder Tätigkeit sich über das Gebiet eines Bundeslandes hinaus erstrecken, im übrigen ist die jeweilige oberste Landesbehörde oder die nach Landesrecht zuständige Behörde zuständig.

Während die Normen der "Verfassungsschutztrias" Art. 18, 9 II und 21 II GG im Hinblick auf die Tatbestandsvoraussetzungen relativ abstrakt formuliert sind, was die politische Grundausrichtung der jeweiligen Verfassungsgegnerschaft anbetrifft, rechtfertigt eine Verfassungsbestimmung gerade solche Freiheitsbeschränkungen, die gegen Personen wegen ihrer Beteiligung an der Machtausübung des NS-Systems verhängt wurden: Nach Art. 139 GG werden "die zur 'Befreiung des deutschen Volkes vom Nationalsozialismus und Militarismus' erlassenen Rechtsvorschriften" von den Bestimmungen des Grundgesetzes "nicht berührt". Dies bedeutet, dass die aufgrund alliierten Besatzungsrechts verhängten Sanktionen gegen belastete Personen ("Entnazifizierung") nicht etwa am Maßstab der Diskriminierungsverbote des Art. 3 III bzw. der Freiheitsgewährleistungen des Grundgesetzes gemessen werden dürfen.[18]

Auf der einen Seite ist es richtig, dass sich in Art. 139 GG das "historische Gedächtnis" unserer Verfassung aktualisiert und sie deshalb durchaus in den Kontext der Normen der "streitbaren Demokratie" eingeordnet werden kann.[19] Auf der anderen Seite darf allerdings nicht übersehen werden, dass die "Befreiungsvorschriften" der alliierten Besatzungsmächte bereits in den 1950er Jahren durch die deutsche Gesetzgebung aufgehoben wurden[20] und deshalb nicht etwa mehr als Eingriffsgrundlage z.B. gegen die NPD herangezogen werden können.[21]

Angesichts des Fehlens eines expliziten Verbots der Wiederbelebung von NS-Gedankengut in der Bundesrepublik auf Verfassungsebene sprach sich u.a. der damalige Vorsitzende der Gewerkschaft der Polizei, Norbert Spinrath, im Herbst 2000 für eine entsprechende Ergänzung des Grundgesetzes aus.[22] Von den im Bundestag vertretenen Parteien hat indessen nur die PDS den Vorschlag zur Schaffung einer "antifaschistischen Klausel" in der Verfassung aufgegriffen,[23] womit auf parlamentarischer Ebene das Schicksal dieser Idee besiegelt war.

Eine – freilich abstrakt formulierte – rechtliche Handhabe zur Beschränkung neonazistischer Aktivitäten bieten indessen die verfassungsrechtlichen Schrankenbestimmungen der Grundrechte. Die gegenwärtigen Debatten vor dem Hintergrund einer teilweise kontroversen Rechtsprechung betreffen denn auch vor allem[24] die jeweiligen Konkretisierungen der Schranken für das Grundrecht der Versammlungsfreiheit, Art. 8 GG, sowie das Grundrecht der Meinungsfreiheit, Art. 5 I 1 GG, in Gestalt des Versammlungs- sowie des einschlägigen Strafrechts.

Versammlungsrecht

Den besonderen Stellenwert des Grundrechts der Versammlungsfreiheit für die freie demokratische Willensbildung, an der auch politische Minderheiten teilhaben sollen, hat das Bundesverfassungsgericht in seinem grundlegenden Brokdorf-Beschluss vom 14.5.1985 herausgestellt.[25] Daraus hat das Gericht auch Vorgaben für die Anwendung des zentralen Eingriffstatbestands im Versammlungsrecht abgeleitet: Auflösungen und Verbote von Versammlungen unter freiem Himmel oder von Aufzügen (=Demonstrationen) dürften "nur zum Schutz gleichwertiger Rechtsgüter unter strikter Wahrung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit und nur bei einer unmittelbaren, aus erkennbaren Umständen herleitbaren Gefährdung dieser Rechtsgüter erfolgen".[26] Seine "grundrechtsfreundliche" Position hat das Bundesverfassungsgericht inzwischen in einer Vielzahl von Entscheidungen, häufig im Eilverfahren, bestätigt, weiter präzisiert und auf dieser Grundlage auch etliche Verbotsverfügungen gegen neonazistische Aufmärsche aufgehoben.[27]

Dem gegenüber hat namentlich das Oberverwaltungsgericht (OVG) Münster zahlreiche Demonstrationsverbote gegen Veranstalter aus dem neonazistischen Spektrum bestätigt. Im Grundgesetz, so seine Begründung, manifestiere sich die nachdrückliche Absage an jegliche Form von Totalitarismus, Rassenideologie und Willkür. "Mit dieser grundgesetzlichen Konzeption sind nazistische Grundgedanken von vornherein unvereinbar".[28]

Die im Eilverfahren zuständige 1. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts trat dieser Position des OVG Münster in mehreren Entscheidungen entgegen. Als Prüfungsmaßstab sei anstelle der Versammlungsfreiheit das Grundrecht der Meinungsfreiheit, Art. 5 I 1 GG, heranzuziehen, wenn versammlungsrechtliche Beschränkungen mit dem Inhalt der erwarteten Meinungsäußerungen begründet werden. Die Meinungsfreiheit, so betonte die Kammer des Bundesverfassungsgerichts, sei für die freiheitliche Ordnung des Grundgesetzes schlechthin konstituierend. "Die Bürger sind rechtlich nicht gehalten, die Wertsetzungen der Verfassung persönlich zu teilen... Die Bürger sind daher auch frei, grundlegende Wertungen der Verfassung infrage zu stellen, solange sie dadurch Rechtsgüter anderer nicht gefährden".[29] Die einschlägigen Straftatbestände, so argumentierte die Kammer des weiteren, enthielten abschließende Regelungen zur Einschränkung der Meinungsfreiheit. Wo die Schwelle der Strafbarkeit noch nicht erreicht ist, darf danach eine Demonstration nicht allein wegen des Inhalts der erwarteten Meinungsäußerungen verboten werden.

Beim Streit zwischen "Münster" und "Karlsruhe" geht es keineswegs um eine akademische Frage – vielmehr kulminieren in ihm zwei gegensätzliche Positionen in der Auseinandersetzung mit öffentlich auftretenden Akteuren des neonazistischen Spektrums. Dem OVG Münster ist darin beizupflichten, dass die öffentliche Propagierung neonazistischen Gedankengutes nicht als lediglich politisch unerwünscht und missliebig bagatellisiert werden darf. Auf der anderen Seite sind die rechtsstaatlichen Regeln und die verfassungsmäßigen Vorgaben für Grundrechtseinschränkungen auch im Umgang mit den Gegnern des Rechtsstaates strikt einzuhalten. "Das Grundgesetz verwirklicht zwar eine auf die Abwehr von Gefahren für den Rechtsstaat und die Demokratie gerichtete Ordnung, es besteht aber auf der Einhaltung der Regeln des Rechtsstaates, den es zu verteidigen gilt".[30]

Es mag zwar bedauert werden, dass in Anbetracht der aktuellen Rechtsprechung Totalverbote von Versammlungen bzw. Demonstrationen allein wegen deren neonazistischer Orientierung kaum je rechtlichen Bestand haben. Dies bedeutet jedoch keineswegs, dass die Versammlungsbehörden gegenüber neonazistischen Aufmärschen juristisch machtlos wären: Als milderes Mittel gegenüber Verbot oder Auflösung erlaubt § 15 Versammlungsgesetz die Verhängung beschränkender "Auflagen". Von der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts werden solche "Auflagen" vor allem dann gebilligt, wenn auf diese Weise ein besonders provokantes und aggressives Erscheinungsbild der Versammlung verhindert werden kann. Art. 8 GG, so das Gericht, schütze Aufzüge, "nicht aber Aufmärsche mit paramilitärischen oder sonstwie einschüchternden Begleitumständen".[31] Dementsprechend wurde in den letzten Jahren in etlichen Fällen per "Auflage" z.B. das Tragen martialischer oder uniformähnlicher "szenetypischer" Kleidungsstücke wie Springerstiefel, Bomberjacken u.ä., das Mitführen bestimmter Flaggen oder die Benutzung von Trommeln verboten.[32]

Wohl vor allem die Befürchtung, am 60. Jahrestag der Befreiung vom deutschen Faschismus mit weltweit ausgestrahlten Fernsehbildern grölender Neonazihorden im Zentrum Berlins konfrontiert zu werden, veranlasste die Bundestagsmehrheit, noch rechtzeitig im März 2005 eine Ergänzung des Versammlungsgesetzes und des StGB zu verabschieden.33 Nach dem neuen § 15 II Versammlungsgesetz kann künftig eine Versammlung oder ein Aufzug insbesondere auch dann verboten oder von bestimmten Auflagen abhängig gemacht werden, wenn zwei Voraussetzungen erfüllt sind: Zum Ersten muss die betreffende Versammlung oder der Aufzug an einer "Gedenkstätte von historisch herausragender, überregionaler Bedeutung"[34] für die Opfer des NS-Gewaltsystems stattfinden. Zum Zweiten muss nach den zur Zeit des Erlasses der Verfügung konkret feststellbaren Umständen zu befürchten sein, "dass durch die Versammlung oder den Aufzug die Würde der Opfer beeinträchtigt wird".

Das Umfeld der betreffenden Gedenkstätten wird mithin nicht generell-abstrakt zu einer "demonstrationsfreien Zone" erklärt, sondern es muss zugleich ein Angriff auf die Menschenwürde der Opfer zu erwarten sein. In diesen Fällen war aber schon nach der bisher geltenden Fassung des § 15 Versammlungsgesetz ein Verbot zulässig. Wenn nämlich ein Verhalten die in Art. 1 I GG absolut geschützte Menschenwürde beeinträchtigt, liegt zugleich eine unmittelbare Gefährdung der "öffentlichen Sicherheit" im Sinne des § 15 I Versammlungsgesetz und damit auch nach altem Recht ein Verbotsgrund vor.[35] Es spricht deshalb einiges für die These, dass es sich bei der jüngsten Ergänzung des Versammlungsgesetzes lediglich um "symbolische Gesetzgebung" handelt.

Strafrecht

Durch die Gesetzesnovelle vom 24.3.2005 wurde indessen auch der strafrechtliche Tatbestand der Volksverhetzung, § 130 StGB, erweitert. Damit könnten möglicherweise in Zukunft neonazistische Aufmärsche leichter verboten werden, weil der Verstoß gegen Strafgesetze zugleich eine unmittelbare Gefährdung der öffentlichen Sicherheit und damit einen Verbotsgrund nach § 15 Versammlungsgesetz darstellt.

Schon bisher konnte das Grölen von Parolen wie "Ausländer raus!" als Volksverhetzung bestraft werden.[36] Im Jahre 1994 wurde die Strafbestimmung durch einen speziell gegen die Auschwitz-Leugnung zielenden Tatbestand erweitert. Nach der Ergänzung des § 130 StGB im März 2005 wird künftig auch bestraft, "wer öffentlich oder in einer Versammlung den öffentlichen Frieden in einer die Würde der Opfer verletzenden Weise dadurch stört, dass er die nationalsozialistische Gewalt- und Willkürherrschaft billigt, verherrlicht oder rechtfertigt".[37]

Durch die Ergänzung des § 130 StGB ist nun nicht mehr nur die Billigung, Leugnung oder Verharmlosung des unter der NS-Herrschaft begangenen Völkermords[38] strafbar, sondern jegliche Billigung, Verherrlichung oder Rechtfertigung der nationalsozialistischen Gewalt- und Willkürherrschaft überhaupt. Voraussetzung dafür ist aber, dass hierdurch der öffentliche Frieden in einer die Würde der Opfer verletzenden Weise gestört wird. Es bleibt abzuwarten, welche Rolle diese Ausweitung des Straftatbestands in der gerichtlichen Praxis spielen wird. Auf jeden Fall aber werden Provokationen wie die Bezeichnung der Bombardierung Dresdens durch die britische Luftwaffe im Zweiten Weltkrieg als "Bomben-Holocaust" mit diesem Straftatbestand auf keinen Fall erfasst.

Fraglich ist darüber hinaus ebenso wie bei der Erweiterung des § 15 Versammlungsgesetz, ob mit der Änderung des Straftatbestands neonazistische Versammlungen oder Demonstrationen in Zukunft leichter verboten oder aufgelöst werden können. Schon aufgrund der alten Rechtslage wurde z.B. das Verbot einer Versammlung verfügt, die unter dem Motto "Ruhm und Ehre der Waffen-SS" in der Nähe eines ehemaligen Konzentrationslagers stattfinden sollte; das Bundesverfassungsgericht hat dieses Verbot bestätigt.[39] Zu Recht konnte in diesem Fall wegen der Verletzung der Menschenwürde der Opfer eine unmittelbare Gefährdung der öffentlichen Sicherheit angenommen werden, der Berufung auf einen speziellen Straftatbestand hat es mithin nicht bedurft. Insgesamt dürfte jedenfalls die Einschätzung zutreffend sein, dass die jetzigen Änderungen im Versammlungs- und Strafrecht "keine rechtsextremistische Versammlung verhindern" würden, "die man nicht ohnehin nach der Rechtsprechung des BVerfG hätte verbieten können".[40]

Neben dem Tatbestand der Volksverhetzung (§ 130 StGB) mit seinen verschiedenen Ausprägungen spielen vor allem die Tatbestände der Verwendung von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen (§ 86 a StGB) und mitunter auch der öffentlichen Aufforderung zu Straftaten (§ 111 StGB) in solchen Strafverfahren eine Rolle, die das Auftreten von Neonazis in der Öffentlichkeit als politischer Bühne zum Gegenstand haben. Um eine andere Handlungsebene geht es indessen dort, wo Gewalttaten gegen ethnische Minderheiten oder politisch Andersdenkende zu ahnden sind, nämlich um die Tatbestände zum Schutz des Lebens und der körperlichen Unversehrtheit (§§ 211 ff. StGB).

In diesem Zusammenhang verdienen neue Entscheidungen zur Strafbarkeit wegen der Bildung einer terroristischen Vereinigung gemäß § 129 a StGB besondere Beachtung. So wertete das Oberlandesgericht Brandenburg in seinem Urteil vom 7.3.2005 eine Gruppe von elf jungen Männern als "terroristische Vereinigung" im Sinne dieser Norm. Die Gruppe beging in den Jahren 2003/2004 zehn Anschläge auf Geschäfte von Ausländern, um damit "das Havelland von Ausländern zu säubern".[41] Am 4.5.2005 verurteilte das Bayerische Oberste Landesgericht Mitglieder der Gruppe um den Münchner Neonazi Martin Wiese ebenfalls wegen Bildung einer terroristischen Vereinigung.[42] Damit wurde seit vielen Jahren wieder verdeutlicht, dass das Planen und systematische Durchführen von Gewaltakten gegen Ausländer aus rassistischen Motiven als Terrorismus zu qualifizieren ist, dieser Begriff also keineswegs – wie in den Medien üblich – nur auf Bombenanschläge durch fanatische "Islamisten" beschränkt werden kann, sondern die bittere Realität hinter dem Schein mancher dörflichen oder kleinstädtischen Idylle widerspiegelt.

Eine Schlussbetrachtung

Wo das scharfe Schwert des Strafrechts zum Einsatz gebracht werden muss, haben zivilgesellschaftliche Mechanismen der Auseinandersetzung mit dem Neonazismus längst versagt. Die Schaffung neuer gesetzlicher Eingriffsgrundlagen erscheint deshalb nicht selten als wohlfeile Beschwichtigungsmaßnahme: Die Demonstration gesetzgeberischer Tatkraft verdeckt langfristig wirkende Versäumnisse der Politik sowie die sozialen Hintergründe des Einflusses neonazistischer bzw. rassistischer Ideologie auf einen relevanten Teil der Bevölkerung.

Neue Gesetze dürfen indessen nicht zum Alibi geraten; sie können die notwendige gesellschaftliche und politische Auseinandersetzung nicht ersetzen, sondern nur flankieren. Im Übrigen müssen die rechtsstaatlichen Regelungen und Verfahren auch bei der Auseinandersetzung mit neonazistischen Kräften strikt eingehalten werden. Schließlich würde ein "lockerer Umgang" mit der Verfassung gefährliche Gewöhnungseffekte auslösen: Wenn gegen "Extremisten" jedes Mittel recht ist, erscheinen auch extralegale Repressionsmaßnahmen gegen die Linke als legitim, von der Berufsverbotepraxis bis zu martialischen Polizeieinsätzen bei Demonstrationen z.B. gegen den CASTOR-Transport.[43]

Zu fragen ist z.B. nach der Wahrung des Verhältnismäßigkeitsprinzips bei Maßnahmen wie der Sperrung einzelner Internetseiten mit neonazistischen Inhalten.[44] Angesichts der kommunikationstechnischen Umgehungsmöglichkeiten bei einer solchen Sperrung ist deren Eignung als Barriere gegen die Verbreitung neonazistischen Gedankengutes durchaus zweifelhaft. Aber auch bei Verboten oder Auflagen gegen manche neonazistische Aufmärsche scheint das symbolische Moment mitunter im Vordergrund zu stehen. Priorität nach unserer Verfassungsordnung genießt aber weniger das positive Image des Wirtschaftsstandorts Deutschland, das durch den medial in aller Welt verbreiteten und fürwahr unerfreulichen Anblick martialisch dreinblickender Ewiggestriger unter dem Brandenburger Tor Schaden nimmt. Es geht vielmehr um den effektiven Schutz besonders der Schwachen in dieser Gesellschaft, die allein aus Gründen ihrer ethnischen Herkunft oder politischen Anschauung mancherorts um Leib und Leben fürchten müssen. Im Falle einer solchen manifesten Bedrohung aber ist jede Verharmlosung fehl am Platz und der entschlossene Einsatz staatlicher Zwangsmittel unverzichtbar.

Prof. Dr. Martin Kutscha lehrt Staats- und Verwaltungsrecht an der Fachhochschule für Verwaltung und Rechtspflege in Berlin und war lange Zeit Bundesvorsitzender der Vereinigung Demokratischer Juristinnen und Juristen (VDJ).

[1] Vgl. dazu Butterwegge, Die politische Mitte als Stichwortgeberin für antidemokratische Kräfte, in: Paech u.a. (Hrsg.), Demokratie – wo und wie? 2002, S. 78; Butterwegge/Lohmann (Hrsg:), Jugend, Rechtsextremismus und Gewalt, 2. Aufl. 2001.
[2] Vgl. z.B. Böckenförde, Menschenwürde als normatives Prinzip, Juristenzeitung 2003, S. 809. Dieser historische Hintergrund des Art. 1 I GG wird von den Befürwortern der "Rettungsfolter" freilich ausgeblendet; zur aktuellen Debatte pointiert Bommarius, Die neuen Verfassungsfeinde, in: Müller-Heidelberg u.a. (Hrsg.), Grundrechte-Report 2005, S. 28.
[3] Vgl. Frank, in: Grundgesetz, Alternativkommentar, 3. Aufl. 2001, Art. 26 Rdnr. 1. Zur Missachtung des Art. 26 GG durch die Kriegseinsätze der Bundeswehr vgl. Kutscha, Weltweite Bundeswehreinsätze, in: Paech u.a. (Hrsg.), Völkerrecht statt Machtpolitik, 2004, S. 268.
[4] Vgl. Bundesverfassungsgericht, Neue Juristische Wochenschrift (NJW) 2001, S. 2077; Kutscha, Verfassung und "streitbare Demokratie", 1979, S. 65ff.; grundsätzlich ablehnend Ridder, Zur Ideologie der "streitbaren Demokratie", 1979.
[5] Vgl. im einzelnen Papier/Durner, Streitbare Demokratie, Archiv des öffentlichen Rechts Bd. 128 (2003) S. 349ff.; Kutscha, Verfassung... S. 111ff.
[6] Vgl. das Interview mit dem Vizepräsidenten des BVerfG, Hassemer, in "Der Spiegel" 5/2005, S. 24.
[7] Vgl. § 15 IV Bundesverfassungsgerichtsgesetz.
[8] Bundesverfassungsgerichtsentscheidungen (BVerfGE) 107, S. 360.
[9] Details z.B. bei Gössner, Geheimdienste als Fremdkörper der Demokratie – am Beispiel "Verfassungsschutz", in: Paech u.a. (Hrsg.), Demokratie – wo und wie? 2002, S. 167; zur Situation in Brandenburg vgl. z.B. "Berliner Zeitung" v. 30.8.2003: "Verfassungsschutz warnt Neonazis vor Razzia".
[10] Ipsen, Das Ende des NPD-Verbotsverfahrens, Juristenzeitung 2003, S. 489. So räumte der NPD-Aktivist Wolfgang Frenz, der dem Verfassungsschutz fast 37 Jahre als V-Mann zu Diensten war, später denn auch freimütig ein, dass mit dem dafür erhaltenen Geld die NPD in Nordrhein-Westfalen "ja aufgebaut worden" sei (FR v. 6.11.2003).
[11] BVerfGE 2, S. 1.
[12] BVerfGE 5, S. 85; dazu im einzelnen Kutscha, Das KPD-Verbot, in: Mayer/Stuby (Hrsg), Das lädierte Grundgesetz, 1977, S. 42.
[13] Es handelt sich um Otto Ernst Remer, Gerhard Frey, Thomas Dienel und Heinz Reisz.
[14] Vgl. zu den Verfahren im einzelnen Butzer/Clever, Grundrechtsverwirkung nach Art. 18 GG: Doch eine Waffe gegen politische Extremisten? Die Öffentliche Verwaltung 1994, 637; Papier/Durner a. a. O., S. 349f.
[15] Vgl. Papier/Durner a.a.O., S. 353.
[16] Art. 9 II GG spricht von "verfassungsmäßiger Ordnung".
[17] Vgl. § 3 I Vereinsgesetz.
[18] Vgl. BVerfGE 1, S. 7; Hamann/Lenz, Grundgesetz, 3. Aufl. 1970; Art. 139, Anm. A.
[19] So jetzt Battis/Grigoleit, Neue Herausforderungen für das Versammlungsrecht, Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht 2001, S. 124; ähnlich auch bereits Stuby, Bemerkungen zum verfassungsrechtlichen Begriff der "freiheitlich demokratischen Grundordnung", Demokratie und Recht 1976, S. 148; Kutscha, Verfassung...., S. 110f.; dezidiert gegen diese Position die Ridder-Schüler Borchers u.a., Das Grundgesetz – eine antifaschistische Wertordnung? Demokratie und Recht 1976, S. 153.
[20] Vgl. z.B. das Dritte Gesetz zur Aufhebung des Besatzungsrechts vom 23.7.1958, BGBl. I, 540.
[21] Vgl. Verwaltungsgerichtshof Kassel, NJW 1986, 2662 gegen Verwaltungsgericht Frankfurt, NJW 1986, 2661; Lübbe-Wolff, in: Dreier (Hrsg.), Grundgesetz, Bd. III, 2000, Art. 139 Rdnr. 8.
[22] Vgl. FR v. 26.8.2000; ähnlich der Vorschlag von Kniesel, in: Lisken/Denninger (Hrsg.), Handbuch des Polizeirechts. 3. Aufl. 2001, Rdnr. H 517.
[23] Vgl. deren Gesetzentwurf, BT-Drs. 14/5127; ausführlich dazu Bühring, Demonstrationsfreiheit für Rechtsextremisten?, 2004, S. 98ff. sowie die Sachverständigenanhörung im Rechtsausschuss des BT am 5.6.2002, Protokoll Nr. 131, 14. WP.
[24] Auch das Grundrecht der Kunstfreiheit, Art. 5 III GG, kann im Falle z.B. der Verletzung der Menschenwürde durch Songtexte neonazistischer Musikgruppen eingeschränkt werden, dazu Soiné, Rechtsextremistische Musik unter Grundrechtsschutz? Juristische Schulung 2004, S. 386.
[25] BVerfGE 69, S. 343 u. 346f.
[26] BVerfGE 69, S. 315 (Leitsatz 2 b).
[27] Vgl. z.B. BVerfG, NJW 2000, S. 3053; vgl. auch die Darstellungen bei Bühring a.a.O. S. 5ff.; Dörr, Keine Versammlungsfreiheit für Neonazis? Verwaltungsarchiv Bd. 93 (2002), S. 485.
[28] OVG Münster, NJW 2001, S. 2111.
[29] BVerfG, NJW 2001, S. 2069.
[30] BVerfG, NJW 2000, S. 3056; ähnlich BVerfG, Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht (NVwZ) 2004, S. 91.
[31] BVerfG, NJW 2001, S. 2071.
[32] Vgl. im einzelnen Leist, Zur Rechtmäßigkeit typischer Auflagen bei rechtsextremistischen Demonstrationen, NVwZ 2003, S. 1300.
[33] Gesetz zur Änderung des Versammlungsgesetzes und des Strafgesetzbuches vom 24.3.2005, BGBl. I 2005, 969.
[34] Explizit wird in der neuen Regelung das Denkmal für die ermordeten Juden Europas in Berlin genannt. Weitere Orte sollen durch Landesgesetz bestimmt werden.
[35] Ebenso z.B. Verwaltungsgerichtshof Mannheim, NVwZ 1995, S. 505; Bühring a.a.O., S. 165f.; Dörr a.a.O., S. 494.
[36] Vgl. z.B. Oberlandesgericht Brandenburg, NJW 2002, 1440.
[37] BGBl. I, 2005, 970.
[38] Vgl. die Definition in § 6 Völkerstrafgesetzbuch von 2002.
[39] BVerfG, NVwZ 2002, S. 714.
[40] Leist, Die Änderung des Versammlungsrechts: ein Eigentor? NVwZ 2005, S. 503.
[41] Vgl. den Bericht in Neue Justiz 4/2005, S. Vf.
[42] Vgl. FR v. 6.5.2005.
[43] Vgl. nur Kutscha, Ein unbequemes Grundrecht, FR-Dokumentation v. 11.11.2002.
[44] Vgl. einerseits OVG Münster, Multimediarecht 2003, S. 348; andererseits Engel, Multimediarecht-Beilage 4/2003, S. 1ff.

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