22. Februar 2015 Christoph Lieber: Ulrich Beck und die Haltbarkeit von Zeitdiagnosen

Reflexive Moderne und das Elend der Welt

Zu modernen kapitalistischen Gesellschaften gehören immer auch Formen öffentlicher Selbstbeschreibung und Deutung. Je nach geschichtlich unterschiedlichen Konstellationen können dabei auch Einzelwissenschaften gesellschaftliche Deutungsmacht erlangen.

So hat in der frühen Bundesrepublik der Sozio­loge Helmut Schelsky (1912-1984) mit seinen bekannten Formeln von der »nivellierten Mittelstandsgesellschaft« und der »skeptischen Generation« eine solche Rolle in der gesellschaftlichen Öffentlichkeit gespielt.[1] Nach dem Ende des Nachkriegskapitalismus, wie wir ihn bis Anfang der 1980er Jahre kannten, spielte der Soziologe Ulrich Beck (Jg. 1944) eine vergleichbare Rolle. Am 1. Januar 2015 ist er überraschend gestorben. Die Nachrufe würdigten ihn unisono als einen Intellektuellen, der mit seinem Klassiker »Risikogesellschaft« aus dem Jahr 1986 wie kein anderer seiner Zunft den Nerv der neuen Zeit getroffen hat und über seine Profession hinaus in Zeitschriften und den Feuilletons der Tageszeitungen bis weit hinein in die bundesdeutsche Alltagskultur zum zeitdiagnostischen Stichwortgeber wurde und insbesondere einen Begriff prägte, um den sich seitdem unzählige kleine und große, alltagsprachliche wie theorielas­tige Erzählungen organisieren sollten: »Individualisierung«.

Gemeinhin wird der durchschlagende Erfolg des Buches »Risikogesellschaft« in der darin variantenreich präsentierten These »Not ist hierarchisch – Smog ist demokratisch« und der damit impliziten Relativierung der Bedeutung sozialer Ungleichheit verortet. Diese Zeitdiagnose stellt auch André Kieserling, früherer Mitarbeiter von Beck, ins Zentrum seines Nachrufes. »Gegen die Gesellschaftstheorie der sozialen Ungleichheit machte Beck damals geltend, dass die Individuen sich unterdessen eher an Gefahrenlagen als an Klassenlagen orientieren: Nicht gleicher Reichtum oder gleiche Armut würden die Gruppenbildung und das Alltagsverhalten bestimmen, sondern die gleiche Angst vor den Risiken der Großtechnologie.« (FAZ, 5.1.2015)

Aber diese Erklärung trifft nicht ganz den springenden Punkt. Der Titel des Buches selbst war nur die ökologiekritische und aufgrund der Koinzidenz mit der Reaktorhavarie von Tschernobyl verkaufsfördernde »grüne« Verpackung einer provokanten sozialwissenschaftlichen und klassentheoretischen Botschaft: Wir leben in einem »Kapitalismus ohne Klassen«, in dem »der Motor der Individualisierung auf vollen Touren läuft« (Beck 1986: 117, 157). Das grenzte damals für viele kritische Geister in Kultur und Wissenschaft, die noch in den 1960er Jahren gegen Kulturindustrie und den »Eindimensionalen Menschen« Sturm liefen, in den 1970ern die sozialdemokratischen »Sozialstaatsillusionen« brandmarkten und angesichts der neokonservativen Wende der »Birne Kohl« dann überraschend kleinlaut wurden, an einen Tabubruch. Und in der Tat begründete sich die letztlich übergroße Zustimmung zum Beckschen Individualisierungstheorem in einem längst überfälligen »Vatermord« an den beiden großen bundesdeutschen Nachkriegsintellektellen Adorno/Horkheimer, die immer wieder das »Ende des Individuums« beschworen – die »Redupers«, die allseitig reduzierte Persönlichkeit, wie die Filmemacherin und Mitbegründerin des Aktionsrates zur Befreiung der Frau im SDS, Helke Sander, ihren Film von 1978 titelte. Für viele, auch kapitalismuskritische Geister, wirkte dies wie ein lang ersehnter Befreiungsschlag, der Systemkritik und »postmoderne« Aufbruchstimmung zu Beginn der 1980er Jahre versöhnte.

Ganz in diesem Sinne charakterisiert die israelische Soziologin Eva Illouz – die ihrerseits in über jede kulturkritische Verdachtshermeneutik erhabenen Studien das heutzutage neuartige Feld der Emotionen und seiner Diskurse im Kapitalismus untersucht, welches den modernen Individuen ganz andere Legitimationsmuster und Bearbeitungsformen von Leid und Glück zur Verfügung stellt – in ihrem Nachruf den Wegbereiter dieser Sicht auf die moderne Individualität und Subjektivität mit den Worten: »Ulrich Beck betrieb eine Form von Kritik, die ich als ›Kritik ohne Düsternis‹ oder ›sonnige Kritik‹ bezeichnen würde.« Becks zeitdiagnostische Arbeit »quälte sich nicht mit der Möglichkeit herum, dass zur Moderne auch böse Kräfte gehören ... Er verweigerte sich der düsteren Diagnose der Moderne, die die Frankfurter Schule charakterisiert hatte, bis Habermas kam.« (Die Zeit, 8.1.2015)

Habermas selbst verarbeitete in seinem fünf Jahre vor der Beckschen »Risikogesellschaft« veröffentlichten Hauptwerk »Theorie des kommunikativen Handelns« (1981) neue zeitgeschichtliche Erfahrungen – die misslichen sozialen Nebenfolgen und das letztliche Scheitern immer fragiler werdender sozialdemokratischer Klassenkompromisse sowie die Bedeutung neuer sozialer Protestpotenziale – zu einer gegenüber den Frankfurter Übervätern optimistischeren Sichtweise auf die »Dialektik der Moderne«, zentriert um das entwicklungsfähige Verhältnis von System und Lebenswelt. Aber heraus kam »ein hoffnungslos akademisches Buch« – so Habermas über Habermas – und die wenig alltagstaugliche und nur bedingt massenwirksame Zeitdiagnose einer »Neuen Unübersichtlichkeit« (1985). Dagegen sorgte Becks »Individualisierungstheorem« für frischen Wind und neue Orientierung.

Ging Habermas noch von der Gefährdung einer Kolonialisierung der Lebenswelt durch Systemzwänge aus, dreht Beck mit seiner These einer »neuen Unmittelbarkeit von Individuum und Gesellschaft«, wodurch »der oder die einzelne selbst zur lebensweltlichen Reproduktionseinheit des Sozialen« (1986: 119) wird, dieses Verhältnis von System und Lebenswelt noch einmal individualisierungstheoretisch um: »Wo alles verfügbar, Produkt von Menschenhand geworden ist, ... herrschen keine Sachzwänge mehr, es sei denn, wir lassen und machen sie herrschen.« (Ebd. 372) Damit transformieren sich für Beck die Zwänge kapitalistischer Modernisierung in einen offenen »Lernprozess, in dem durch die Revidierbarkeit der Entscheidungen die Zurücknahme später erkannter Nebenwirkungen immer möglich bleibt« (ebd. 294). Der reflexive Umgang mit den Nebenfolgen industriekapitalistischer Modernisierung läutet eine neue, zweite Epoche der Moderne ein: die reflexive Moderne.

Beck verstand seitdem seine »reflexive Modernisierungssoziologie« als Sprengung eines »immer noch weitgehend ungebrochenen großen Ma(r)x-Weber-Modernisierungskonsenses« (1996: 37) innerhalb der »traditionellen und kritischen Theorie« und hielt sich zugute, damit die beiden Klassiker in ihren Kernaussagen gegen den Strich zu bürsten: Max Webers unterstellte lineare Steigerung von Bürokratisierung und Rationalisierung endet eben nicht im stählernen »Gehäuse der Hörigkeit«, sondern der Ausbruch daraus ist in der zweiten, reflexiven Moderne möglich; und gegen eine einseitige Lesart von Marx als Klassentheoretiker, Egalitaristen und Kollektivisten sieht Beck ihn als einen der »entschiedensten Individualisierungstheoretiker« an, der »an vielen Stellen seines Werkes immer wieder betonte, dass mit der Ausbreitung des modernen Industriekapitalismus ein historisch bislang unbekannter Freisetzungsprozess in Gang kommt« (1986: 132). Dies 1986 in der »Risikogesellschaft« so eingängig und publikumswirksam ausgesprochen zu haben, bleibt Becks Verdienst.

Um allerdings die Tragfähigkeit der Beckschen Zeitdiagnostik von »Individualisierung« und »reflexiver Moderne« über den gesamten Zeitraum der »Risikogesellschaft« von 1986 bis heute kritisch bilanzieren zu können, muss angesichts grassierender Geschichtsvergessenheit der zeithistorische Kontext in Erinnerung gerufen werden, der in den Nachrufen meistens unterbelichtet blieb. Denn Beck brachte lediglich auf den Punkt, worüber auch in anderen unterschiedlichsten gesellschaftspolitischen Such- und Diskussionsprozessen versucht wurde, sich Klarheit zu verschaffen: in den Worten Ralf Dahrendorfs über das »Ende des sozialdemokratischen Zeitalters« und die Folgen.


Zeitdiagnosen der 1980er Jahre: Der Anfang vom Ende von was?

Was sich von heute aus gesehen als Epochenzäsur entschlüsseln lässt, wofür meistens das Ende von Bretton Woods und der so genannte Ölpreisschock stehen, verlief zeitgeschichtlich in einer langgezogenen Zäsur, die sowohl die Brandtsche Reform­ära, das Schmidtsche Krisenmanagement als auch sozialliberale Agonie beinhaltete. »In Analogie könnte man vielleicht von den langen siebziger Jahren sprechen, die sich in der Bundesrepublik von der Generationsrevolte und sozialliberalen Koalition von 1968/69 bis etwa zur Kohlschen Wende von 1982/83 erstrecken würde.«[2] Dass allerdings dem Höhepunkt »sozial«-»demokratischer« Reformeuphorie schon die einsetzende Krise des Fordismus unterlag, wurde verkannt. Die zeitgeschichtlichen Akteure wussten mitnichten, »wo die Glocken hängen«. Der gesellschaftliche Mentalitätswandel vollzog sich nur langsam, da noch aus den 1950er und 60er Jahren »die industrielle Moderne den Erfahrungsraum aller lebenden Generationen bildete und ihren Erwartungshorizont bestimmte«.[3] In der kapitalis­tischen Moderne sind Erfahrungsraum und Erfahrungshorizont aber zugleich nicht mehr statisch aufeinander bezogen, sondern konstituieren zeitliche Differenzen in der Gegenwart mit überschießendem, utopischem Potenzial und verschränken somit Vergangenheit und Zukunft auf ungleiche Weise ineinander, was auch zu gesellschaftlichen Fehleinschätzungen führen kann. »Bewusst oder unbewusst hat der Zusammenhang, den sie jeweils stiften, selber eine prognostische Struktur. Damit hätten wir ein Merkmal geschichtlicher Zeiten gewonnen, das zugleich deren Veränderbarkeit anzeigen kann.«[4]

Die Einschätzungen des Zeitbewussteins bezogen auf Krisenwahrnehmung und (emanzipatorisches) Veränderungspotenzial waren in den zeitdiagnostischen Debatten zu Beginn der 1980er Jahre durchaus unterschiedlich. So gingen die Analysen von Jürgen Habermas und Claus Offe, die vornehmlich auf das politische Feld und den Staat fixiert waren, davon aus, dass der durch den Spätfordismus beförderte Erwartungshorizont insbesondere der nachrückenden Generationen, die »nicht mehr wie ihre Eltern leben wollten«, dem bundesdeutschen Kapitalismus »Legitimations- und Unregierbarkeitskrisen« bescheren würde. Diese Diagnose wurde durch den schrittweisen neoliberalen Siegszug von Reaganomics und Thatcherismus in den 1980er Jahren zunächst Lügen gestraft. Hier wurde der »Kapitalismus als soziale Utopie« (Reagan) mit Zukunftsfähigkeit ausgerufen. Zu Recht hatte deshalb Klaus Dörre, der in den letzten Jahren zu Prekarisierung, Gesellschaftsbild der LohnarbeiterInnen und Postwachstumsökonomie – alles in der »Risikogesellschaft« schon unter anderen Begriffen thematisierte Problemfelder – empirisch gesättigte Analysen vorgelegt hat, die die Beckschen Prognosen zurechtrücken, schon in seiner frühen Beck-Kritik den Bogen zu den Zeitdiagnosen im bürgerlichen Lager Anfang der 1980er Jahre gespannt: »In (neo)konservativen und (neo)liberalen Zukunftsentwürfen werden Zusammenbruchsprognosen in ihr Gegenteil verkehrt. Das ›Zeitalter der Individuen‹ (Genscher, FR 4.5.1985) erscheint erreichbar nur als Resultat der radikalen Durchsetzung von kapitalistischen Marktprinzipien und technologischer Modernisierung. Ein – sicher nur für einen Teil des Unionsspektrums repräsentatives – Beispiel ist der vieldiskutierte ›Späth-Bericht‹, dessen tragender Grundgedanke sich wie folgt umreißen lässt: ... Individualisierung, Pluralität von Lebensstilen und Selbstverwirklichungsmöglichkeiten, ... Flexibilisierung ...«[5]

Zur Beckschen »Risikogesellschaft« gehören also als zeitgeschichtliches Hintergrundskolorit auch die Anfänge neoliberaler Individualisierungsmelodien. Deren fatales Pendant markiert ein aufkommender Zynismus innerhalb eines entstehenden akademischen »Proletariats«,[6] welches seine während der bundesdeutschen Bildungsexpansion in den 1960er und 70er Jahren erlangten Zertifikate nicht mehr in entsprechend dotierte Überbaustellen ummünzen konnte und nun zum Aussteigen aufgefordert wird – individualisierungstheoretisch mit Nietzsche und Heidegger begründet in einer »Kritik der zynischen Vernunft« (1983) aus der Feder eines damaligen Außenseiters und heutigen Staatsphilosophen: Peter Sloterdijk. Die 1980er Jahre über wurde diese brisante Mischung von Individualisierung, Neokonservatismus und intellektuellem Außenseitertum – eine frühe Brutstätte von Renegatentum und intellektuellem Rechtspopulismus – durch »postmodernen« Zeitgeist und »Erlebnisgesellschafts«-Kultur überlagert und verdeckt.

Die aus meiner Sicht entscheidenden Zeitdiagnosen jener Jahre mit Langzeitwirkung finden sich allerdings nicht in den kulturellen Diskursen, sondern auf kapitalismustheoretischen, industriesoziologischen und sozialstrukturellen Forschungsfeldern, die in der Sache die These vom »Ende der Arbeitsgesellschaft«[7] zurückwiesen, die mehr oder weniger alle Diskurse und Zeitdiagnosen dieses Jahrzehnts affizierte – von der Ökologie über Feminismus und die neuen sozialen Bewegungen bis hin zu Becks Individualisierungstheorem. Mit »Der kurze Traum immerwährender Prosperität« (1984) verarbeitet Burkart Lutz (1925-2013) den Epochenbruch Mitte/Ende der 1970er Jahre und ordnet ihn über eine Kritik an der Theorie langer Wellen und Rosa Luxemburgs Akkumulationstheorie in die Entwicklung des deutschen Kapitalismus im 20. Jahrhundert ein – für die Sozialwissenschaften in den 1980er Jahren politökonomisch innovativ und eine Alternative zur Beckschen Wende in der Modernisierungstheorie, die letztlich auf sozialphilosophischer Ebene verbleibt. Die Tragfähigkeit der Langfristdiagnose von Lutz zeigt sich auch darin, dass in den Krisenanalysen seit 2007ff. sein politökonomisch-soziologischer Ansatz wieder in die Diskussion kommt.[8]

In »Das Ende der Arbeitsteilung?« (1984) werden für einen Kernbereich des bundesdeutschen Kapitalismus, die Industriearbeit, von Horst Kern und Michael Schumann (SOFI Göttingen) ein zukunftsweisender Befund erhoben: »In einer Zeit, in der die quantitative Ersetzung menschlicher Produktionsfunktionen durch Technik eskaliert, steigt das Bewusstsein für die qualitative Bedeutung menschlicher Arbeitsleistung und die Wertschätzung der besonderen Qualitäten menschlicher Arbeit.« Auch hier spielen sich durch Kompetenzerweiterung und Veränderungen in der Arbeitsorganisation so was wie Individualisierungsprozesse ab, die dann im Zuge des neoliberalen und finanzmarktkapitalistischen Umbaus der Unternehmen zu immer widersprüchlicheren Formen in der Subjektivierung der Arbeit, indirekter Steuerung, Eigenverantwortlichkeit, aber eben auch Selbstschädigung, Stress und Burnout führen. Im Unterschied zur diskursiven Entgegensetzung von industriekapitalistisch halbierter erster Moderne und reflexiver Modernisierung in der Beckschen Risikogesellschaft besitzt industriesoziologische Forschung zeitdiagnostische Tiefenschärfe, da sie bildlich gesprochen in die Maschinenräume der Individualisierungsmotoren hinabsteigt.[9] Hier im zentralen Bereich gesellschaftlicher Wertschöpfung zeigt sich die ganze Bandbreite der Formen von Selbständigkeit und Abhängigkeit, in denen moderne individualisierte Arbeitnehmer als »Zivilisierte sich selbst zu allem verwenden« (Marx) und eben auch nach wie vor verwenden lassen.

Im Unterschied zu den kapitalismustheoretischen und industriesoziologischen Implikationen der Beckschen »Individualisierungsthese« fand bezogen auf ihre klassenanalytische und sozialstrukturelle Bedeutung in dem Diskussionsband »Individualisierungen – ein Vierteljahrhundert ›jenseits von Stand und Klasse‹?« (2010) eine zeitdiagnostische Bilanzierung statt.[10] Ausgangspunkt dafür war, »dass es, zumindest gemessen an der Zahl ihrer Widerlegungsversuche, in der Nachkriegsgeschichte der deutschen Soziologie wohl kaum eine erfolgreichere These als die ›Individualisierungsthese‹ gegeben hat«, wie es im Vorwort heißt. Dazu gehört, dass ihrer publizistischen Zuspitzung in der Beckschen »Risikogesellschaft« selbst schon ein breiterer und kontroverser Diskussionsprozess unter Einschluss orthodox-marxistischer, weber-marxistischer und bürgerlicher erwerbsarbeitszentrierter Klassen- und Schichtenmodelle voranging, der zu Beginn der 1980er Jahre seinen Ausgangspunkt in einem Sonderband der »Sozialen Welt« mit dem damals irritierenden Titel »Soziale Ungleichheiten« (hrsg. von Reinhard Kreckel, 1983) hatte. Darin findet sich auch ein Originalbeitrag von Pierre Bourdieu »Ökonomisches Kapital, kulturelles Kapital, soziales Kapital«, der dann in der Klassendiskussion Karriere machen sollte, insofern er gegenüber einem herkömmlichen Klassen- oder Schichtenbegriff einen alternativen Zugang darstellte, mit dem die von der Individualisierungsthese angezeigte Pluralisierung von Lebenslagen und Lebensstilen klassentheoretisch integriert werden konnte, wofür dann die stilbildende Studie »Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft« (1982, frz. 1979) steht. Darüber hinaus reagieren Bourdieu und seine Forschergruppe mit ihrer bahnbrechenden Studie »Das Elend der Welt. Zeugnisse und Diagnosen alltäglichen Leidens an der Gesellschaft« (1997, frz. 1993) auf den neoliberalen Gesellschaftsumbau mit der sich ausbreitenden Prekarisierung, und der frühere Mitarbeiter von Bourdieu, Robert Castel, spannt einen Untersuchungsbogen von den »Metamorphosen der sozialen Frage« (2000, frz. 1995) über die »Stärkung des Sozialen« (2005) bis zur »Krise der Arbeit. Neue Unsicherheiten und die Zukunft des Individuums« (2011), in dem Formen negativer Individualisierung thematisiert werden.

Bourdieu, Castel u.a. bestreiten Individualisierung keineswegs, sondern verweisen im Gegenteil ihrerseits auf eine zentrale regulatorische Voraussetzung im Kapitalismus, die Beck überhaupt nicht in den Blick bekommt, dass nämlich gerade »der wachsende Einfluss des Sozialstaates als ein mächtiger Individualisierungsfaktor gewirkt hat, indem er dem Individuum beträchtliche kollektive Sicherungsleistungen zur Verfügung stellte«.[11] Wird diese regulatorische Basis zerstört, schlägt Individualisierung in negative Individualisierung um, die mit neuen Gefährdungen und Ambivalenzen verbunden ist. »Paradoxerweise führt das Ideal individualisierter Lebensführung heute, anders als in der Prosperitätsphase der Bundesrepublik, nicht mehr aus der Klassengesellschaft heraus, sonder trägt, im Gegenteil, zur Rückkehr klassengesellschaftlicher Strukturen und Lebensformen im neuen Gewand bei.«[12]

Beck selbst setzt sich mit diesen Forschungen im Fortgang seiner Individualisierungsthese nicht explizit auseinander, sondern fertigt Bourdieus Ansatz noch 1996 als »konstruktivistisch zu einer Theorie sozialer Klassifikationen ausgedünnte Klassensoziologie« in einer Fußnote ab (Beck 1996: 41).[13]

Aber schon zu diesem Zeitpunkt war es die Arbeitsgruppe um Michael Vester, Peter von Oertzen und andere, die im Unterschied zur Soziologie der reflexiven Moderne gerade in der Tradition und innovativen Verknüpfung von Marx, Weber und Bourdieu mit »Soziale Milieus im gesellschaftlichen Strukturwandel« 1993 eine empirisch gesättigte Zeitdiagnose der bundesdeutschen Sozialstruktur vorgelegt haben, die danach aktualisiert wurde und für weitere Forschung anschlussfähig ist.


Becks Zeitdiagnostik und Politikberatung – eine Bilanz

Unter dem Titel »Der Entpolitisierer« wird im Nachruf der traditionsmarxistischen Tageszeitung »junge welt« Ulrich Beck als wichtigster Ideologe der neuen Sozialdemokratie mit den Worten gewürdigt: »Diejenigen unter seinen linken Kollegen, die wegen der Verwendung einer nicht hinreichend präzisen Begriffssprache am Anfang seiner Karriere auf ihn herabblickten, sahen sich am Ende blamiert. Denn nicht ihre, sondern seine Ideen wurden materielle Gewalt. Im Gegensatz zu ihnen übte sich Beck kontinuierlich in einer Kunst, von der viele heutige Bewunderer von Brecht und Gramsci meist nur hochgestochen schwafeln: im eingreifenden Denken.« (Thomas Wagner, jw 5.1.2015) Aber wie sah dieses eingreifende Denken aus und was waren seine Stationen?

1997 ruft Beck in der traditionsreichen Regenbogenreihe der Suhrkamp-Kultur ein publizistisches Großprojekt aus: »Edition Zweite Moderne«, die »eine öffentliche Kontroverse darüber anzetteln soll, wie die Orthodoxie der Ersten Moderne gebrochen werden kann. Es muss endlich unter Beteiligung der Sozialwissenschaften darüber gestritten werden, wohin der Weg führt. Was an Sicherheit verloren geht, kann als Freiheit gewonnen werden.« (Editorial »Zweite Moderne«) Im Gründungsband »Kinder der Freiheit« (hrsg. von Ulrich Beck 1997) findet sich parallel zum Aufstieg von New Labour, modernisierter Sozialdemokratie und neuer Mitte die zentrale These, »die Menschen sind zukunftsfähiger als die gesellschaftlichen Institutionen« (ebd. 19) und sind deshalb in der zweiten Moderne angehalten, sich ohne Unterstützung selbst gesellschaftlich zu integrieren. Die Aushöhlung gesellschaftlicher Basisinstitutionen aus der Ersten Moderne wird dann von Beck als neue Kultur der Selbständigkeit in der angebrochenen Zweiten Moderne (um)gedeutet, ohne die Gefahr neo­liberaler Vereinnahmung zu thematisieren.[14] Es wundert daher nicht, dass er in dieser Zeit mit einem Reformvorschlag »Erwerbsarbeit durch Bürgerarbeit ergänzen« bei der Bayerisch-Sächsischen Zukunftskommission unter Federführung des neoliberalen Thinktankers Meinhard Miegel, der schon 1983 auf die Leistungsfähigkeit privater Haushalte zur Überwindung der Krise orientierte, mitmischte und angesichts von Massenarbeitslosigkeit sein Bürgerarbeitskonzept als »eine öffentliche Nische, in der die Menschen die schönen Seiten eines begrenzten ›Arbeitsdrogenentzugs‹ erfahren können«, propagierte.

Diese »Edition Zweite Moderne« ist noch vor der großen Krise 2007 sang und klanglos eingestellt worden und auch in den Nachrufen auf den Gründer kaum der Rede wert gewesen. Allerdings muss Beck zugute gehalten werden, dass er eine fatale Entwicklungslinie der Individualisierungsdynamik im Blick hatte. »In der dritten Phase der neunziger Jahre treffen aufeinander: Grundrechtsabbau, Zukunftsangst und Freiheitsanspruch, Freiheitsbewusstsein. Dies ist die Geburtskonstellation des hässlichen Citizen.« (Beck 1997: 25) Leider ist Becks damals angekündigtes Buch, Der hässliche Bürger, nie erschienen, wo dieser Citizen nun längst auf der Welt und unter uns ist.

Von heute aus gesehen lassen sich die 1990er und 2000er Jahre als Aufstieg und Krise neoliberaler Hegemonie einordnen, was auch das Irrlichtern der europäischen und deutschen Sozialdemokratie erklärt. Jürgen Habermas, der noch im Wahlkampf 1998 intellektuelle Schützenhilfe für Rot-Grün leistete, wies schon früh darauf hin, dass »der Unterschied zwischen Margret Thatcher und Tony Blair vor allem deshalb verschwimmt, weil sich die neuste Linke an die ethische Vorstellungswelt des Neoliberalismus angleicht. Ich meine die Bereitschaft, sich auf das Ethos einer weltmarkt-orie­ntierten Lebensform‹ einzulassen, das von allen Bürgern erwartet, sich zu ›Unternehmern ihres eigenen Humankapitals‹ auszubilden.« (Habermas, Blätter für deutsche und internationale Politik 4/1999, S. 430) Diese zeitdiagnostische Sensibilität fehlt den politischen Interventionen eines Anthony Giddens und Ulrich Beck für den »dritten Weg«, der hierzulande 2005 jämmerlich scheitern sollte.

Obwohl Beck selbst sah, dass der vielgepriesene Motor der Individualisierung aus den noch erträglicheren Zeiten der 1980er Jahre längst durch eine politische Ökonomie der Unsicherheit deformiert ist, hielt er am archimedischen Punkt seiner politischen und zeitdiagnostischen Argumentation fest: die These vom Ende der Arbeitsgesellschaft. Faktisch haben wir nach Beck längst ein Ausmaß der gesellschaftlichen Entgrenzung erreicht, bei dem es keine Umkehr mehr geben kann. Die lange prognostizierte Brasilianisierung des Westens ist für ihn unhintergehbare Realität geworden. Im Brennpunkt der Zweiten Moderne steht nach Beck genau dieser Systemwechsel der Erwerbsarbeit: »Die anhaltende Debatte um Aufstieg und Fall fordistischer Massenproduktion, des Massenkonsums und standardisierter Vollbeschäftigung sowie – dementsprechend – das Bild der formierten Gesellschaft und die politische Rezeptur des Keynesianismus gehört dem Paradigma der Ersten Moderne an. In der Zweiten Moderne hingegen regiert das Risikoregime ... Mit dem Risikoregime werden den Menschen individuelle Lebensentwürfe, Mobilität und Formen der Selbstversorgung zugemutet. Die neue Mitte wird zur prekären Mitte.« (Beck 1999, 73)

Das ist heute noch bedrückendere Realität geworden gepaart mit einer ständig wachsenden Kluft von Arm und Reich, was gegenwärtig nicht nur die internationale Piketty-Diskussion belegt, sondern jeder neue Armuts- und Reichtumsbericht hierzulande. Aber noch bei seiner letzten öffentlichen Wahlunterstützung für Rot-Grün und der Polemik des »Neoprotektionismus« gegen die neue Linkspartei (Beck 2005) scheute sich Beck nicht, diese Prozesse der Unterminierung gesellschaftlicher Sicherheiten, sozialer Rechte und demokratischer Kultur in eine »patriotische Not des Ungerechtsein-Müssens durch Schröder und die Grünen« (ebd. 40) umzudeuten.

Hier rächt sich dann doch, was die eingangs zitierte Eva Illouz in ihrem Nachruf dem »sonnigen Kritiker« Beck zugute hält, dass er sich immer der »düsteren Diagnose der Moderne« verweigerte; Illouz selbst muss zugestehen: »Mein eigenes Land, Israel, ist ein tragisches Gegenbeispiel zu Becks verwegenen Hoffnungen.«

Dass in kapitalistischen Modernisierungsprozessen Zivilisierung und Destruktivkräfte nah beieinander liegen, lässt sich nicht einfach eskamotieren oder reflexiv versöhnen. Die gegenüber Becks reflexiver Modernisierung anders fundierten Zeitdiagnosen aus den 1980er Jahren unterscheiden sich darin, dass sie das kapitalismustheoretische Kritikpotenzial der politischen Ökonomie nicht vorschnell ins soziologische Antiquariat der Ersten Moderne abschieben, sondern analytisch für ihre industriesoziologisch oder klassentheoretisch informierten Zeitdiagnosen fruchtbar machen. Denn dem kapitalistischen Modernisierungsprozess wohnt eine »Schrankenlosigkeit in Grenzen« inne, wo nicht die Grenzen in die erste und die Schrankenlosigkeit in die zweite Moderne verschoben werden können. Ihre immanente Widersprüchlichkeit, der theoretisch Rechnung getragen werden muss, gilt übergreifend.

»Daraus aber, daß das Kapital jede solche Grenze als Schranke setzt und daher ideell darüber weg ist, folgt keineswegs, daß es sie real überwunden hat, und da jede solche Schranke seiner Bestimmung widerspricht, bewegt sich seine Produktion in Widersprüchen, die beständig überwunden, aber ebenso beständig gesetzt werden. Noch mehr. Die Universalität, nach der es unaufhaltsam hintreibt, findet Schranken an seiner eignen Natur, die auf einer gewissen Stufe seiner Entwicklung es selbst als die größte Schranke dieser Tendenz werden erkennen lassen und daher zu seiner Aufhebung durch es selbst hintreiben.« (Marx 1857/58)


Bücher von Ulrich Beck:

  • Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne, Frankfurt 1986
  • Reflexive Modernisierung. Eine Kontroverse, zusammen mit Anthony Giddens und Scott Lash, Frankfurt 1996
  • Kinder der Freiheit, hrsg. von Ulrich Beck, Frankfurt 1997
  • Schöne neue Arbeitswelt. Vision: Weltbürgergesellschaft, Frankfurt/New York 1999
  • Was zur Wahl steht, Frankfurt 2005


Christoph Lieber
ist Redakteur von Sozialismus.

[1] Vgl. dazu Gerhard Schäfer, Soziologie ohne Marx. Helmut Schelsky als »Starsoziologe« und Intellektueller im Hamburg der 1950er Jahre, Supplement der Zeitschrift Sozialismus 1/2015: »Kein anderer deutscher Soziologe der Nachkriegszeit hat in der gesellschaftlichen Öffentlichkeit solch enormen Wirkungen erzielt – weder die Frankfurter Schule noch René König und dessen Kölner Mitstreiter.«
[2] Konrad H. Jarausch, Verkannter Strukturwandel. Die siebziger Jahre als Vorgeschichte der Probleme der Gegenwart, in: ders. (Hrsg.), Das Ende der Zuversicht, Göttingern 2008, S. 11.
[3] Anselm Doering-Manteuffel/Lutz Raphael, Nach dem Boom, Göttingen 2008, S. 35.
[4] Reinhart Koselleck, Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt/M 1979, S. 359.
[5] Klaus Dörre, Risikokapitalismus. Zur Kritik von Ulrich Becks »Weg in eine andere Moderne«, Marburg 1987, S. 27. Auch in der Zeitschrift »Sozialismus« wurde die Becksche Zeitdiagnostik von der »Risikogesellschaft« (7/8-1987), »Chaos der Liebe« (5-1991) über seine »Edition Zweite Moderne« (9-1998), »Schöne neue Arbeitswelt« (5-1999) bis zu seiner Bundestagswahlempfehlung (8/9-2005) kritisch analysiert und kommentiert.
[6] Hier kündigt sich eine sozialstrukturelle Kontinuitätslinie an, die quer zum Beckschen individualisierungstheoretisch begründeten Epochenbruch steht und verschiedene Transformationen in seinen Erscheinungsformen hin zum gegenwärtigen »Bildungsprekariat« durchläuft.
[7] In seinem Vortrag »Arbeit als soziologische Schlüsselkategorie« auf dem Soziologentag 1982 in Bamberg, der damaligen Wirkungsstätte von Ulrich Beck, vertrat Claus Offe die folgenreiche These von der schwindenden Strukturierungskraft gesellschaftlicher Arbeit für moderne bürgerlich-kapitalistische Gesellschaften.
[8] Vgl. Klaus Dörre/Stephan Lessenich/Hartmut Rosa, Soziologie – Kapitalismus – Kritik, Frankfurt a.M. 2009; Wolfgang Streeck, Gekaufte Zeit. Die vertagte Krise des demokratischen Kapitalismus, Berlin 2013.
[9] Diese zeitdiagnostische Qualität der Industriesoziologie ermöglicht Michael Schumann sowohl Rückblick und selbstkritische Bilanzierung als auch Aktualisierung seiner Analysen: Das Jahrhundert der Industriearbeit. Soziologische Erkenntnisse und Ausblicke, Weinheim/Basel 2013. »Die Crux der ökonomischen und gesellschaftlichen Entwicklung in Deutschland besteht darin, dass eine Weiter- und Höherentwicklung der Arbeit im Sinne Neuer Produktionskonzepte immer wieder abgebremst, teilweise auch zurückgeworfen wurde. Es wäre gefordert, auf die gegenwärtige Krisenkonstellation mit einem Pfadwechsel in Richtung innovativer Arbeitspolitik zu antworten. Gegenwärtig ist das nicht in Sicht. Gleichwohl gehört ein gesellschaftliches Reformprogramm, das einschneidende Systemkorrekturen vornimmt und dabei Wirtschaftsdemokratie unter den Bedingungen des 21. Jahrhunderts neu einbringt, auf die Tagesordnung.« (37) Schumann führt die Bilanzierung seiner Forschungsarbeiten im Rahmen eines Kooperationsworkshops von Gewerkschaften und Wissenschaft noch weiter aus: »Praxisorientierte Industriesoziologie. Eine kritische Bilanz in eigener Sache«, in: D. Wetzel/J. Hofmann/H.-J. Urban (Hrsg.), Industriearbeit und Arbeitspolitik, Hamburg 2014.
[10] In seinem Beitrag »Ulrich Beck und die zwei Marxismen. Ende oder Wandel der Klassengesellschaft?« unternimmt Michael Vester eine empirische Überprüfung der Individualisierungsthese mit der Schlussfolgerung, dass Kompetenzrevolution und »höhere Ansprüche zur steigenden Unzufriedenheit mit den wieder steiler gewordenen Verteilungs- und Autoritätshierarchien unserer Gesellschaft beitragen – und damit zu der Erfahrung, dass sie doch noch eine Klassengesellschaft ist.« (2010: 47)
[11] Robert Castel, Die Stärkung des Sozialen. Leben im neuen Wohlfahrtsstaat, Hamburg 2005, S. 93. In diesem Zusammenhang verweist Castel auf Emile Durkheim, der schon 1899 davon spricht, dass »Individualismus und Etatismus Hand in Hand (gingen)« (ebd.).
[12] So Cornelia Koppetsch in ihrem Beitrag »Jenseits der individualisierten Mittelstandsgesellschaft? Zur Ambivalenz subjektiver Lebensführung in unsicheren Zeiten« in dem Diskussionsband zu Beck »Individualisierungen« (2010: 225).
[13] Schon Klaus Dörre schrieb in seinem »Risikokapitalismus« Ulrich Beck ins Stammbuch: »Mehr Bourdieu Beck!« (1987: 53), was offensichtlich nicht fruchtete.
[14] Im Unterschied zu Beck wies der marxistische Historiker Eric Hobsbawm damals weitsichtig darauf hin: »Auf die eine oder andere Weise wird das Schicksal der Menschheit im neuen Jahrtausend vom Wiederaufbau der öffentlichen Institutionen abhängig sein.« (Das Zeitalter der Extreme, München 1995, S. 711)

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