1. Januar 2001 Richard Detje

Rente – eine Reform, die keine ist

Wenn die Fraktionen von SPD und Grünen am 26. Januar im Bundestag in zweiter und dritter Lesung die Renten»reform«gesetze verabschieden, wird die Stimmung irgendwo zwischen »großer Genugtuung« (Walter Riester) und »ein klein wenig Stolz« (Dieter Schulte) schwanken. Wenn schon kein überparteilicher, so scheint in letzter Stunde ein breiter gesellschaftlicher Konsens gefunden zu sein über einen der Eckpfeiler der bundesdeutschen Sozialverfassung. Immerhin geht es um mehr als ein Achtel des BIP und ein Fünftel der Einkommen der privaten Haushalte. Doch zwischen den Inszenierungen auf der politischen Bühne und der sozialen Realität besteht eine tiefe Kluft.

1. Das beginnt bei den Zielen des Umbaus der Alterssicherung. Als solche bezeichnet Riester nach den Irrungen und Wirrungen der letzten Monate erstens die Deckelung des Beitragssatzes in der Gesetzlichen Rentenversicherung bei max. 22% (in 2030) und zweitens die Einführung einer kapitalgedeckten Zusatzvorsorge. »Lebensstandardsicherung« spielt keine Rolle mehr, »Solidarität« ist ein Auslaufmodell. Von einer Reform kann schon deshalb keine Rede sein, weil die entscheidende Zukunftsaufgabe gar nicht auf der Tagesordnung stand: das Leben im Alter auf dem Hintergrund diskontinuierlicher Erwerbsbiografien zu sichern. Während in Westdeutschland Männer im Durchschnitt nach 39,7 und Frauen nach 25,3 Versicherungsjahren aus dem Erwerbsleben ausscheiden, feiert der Geist des Standardrentners, der 45 Jahre ununterbrochen mit durchschnittlichem Einkommen das Volksvermögen vermehrt hat, fröhliche Urständ. Altersarmut wird nicht nur in Kauf genommen, sondern geschaffen: durch die Absenkung des Rentenniveaus auf – nicht schöngerechnete – 64,5% ebenso wie durch den Wahn, dass es zur Flexibilisierung der Arbeitsverhältnisse letztlich keine Alternative gäbe.

2. Mit einem Beitragssatz von 23,6% wäre eine dem heutigen Rentenniveau vergleichbare Alterssicherung langfristig paritätisch finanzierbar gewesen. Dass stattdessen eisern daran festgehalten wird, dass der Beitragssatz der Arbeitgeber auf keinen Fall über 11% steigen darf, während Lohnabhängige auf eine Gesamtbelastung aus gesetzlicher und privater Altersvorsorge in Höhe von 15% kommen, ist nur unzureichend mit dem zu einem Mythos gewordenen Vorurteil eines Standortwettbewerbs um Lohnnebenkosten zu erklären. Zumal der reale Unterschied zwischen der In-Option (GRV) und der Out-Option (Kapitalfonds) für erstere bis zum Jahr 2030 nicht mehr als 0,8% ausmacht. Es geht um mehr: Die Rentenversicherung ist das politische Feld, auf dem am 26. Januar über den schrittweisen Ausstieg der Kapitalseite aus der kollektiven Sozialversicherung entschieden wird. An den Ausstiegsszenarien aus der Gesetzlichen Krankenversicherung wird seit geraumer Zeit mit Hochdruck gearbeitet.

3. Auf die simple Frage, wodurch ein Mischsystem aus Umlagefinanzierung und privater Altersvorsorge via Kapitalmarkt zukunftstauglicher sein soll, gibt es keine positive Antwort. Das neuere Umlagesystem, das Sozialdemokraten und Grüne für hoffnungslos antiquiert halten, wurde 1957 im Bewusstsein seiner Krisenüberlegenheit geschaffen. Nachdem eine kapitalgedeckte Alterssicherung mehrfach Konkurs angemeldet hatte: in der Inflation und der Weltwirtschaftskrise der 20er Jahre und nachdem sie dem deutschen Faschismus als Kapitalstock für die Rüstungsfinanzierung gedient hatte.

Der Spiritus Rector des Mischsystems, der Volkswirt Paul Samuelson, hatte noch die Erwartung, über einen Anstieg des gesamtwirtschaftlichen Sparens (private Zusatzversicherung) höhere Investitionen und damit ein flotteres Wirtschaftswachstum herbeiführen zu können. Im Shareholder-Kapitalismus wandern die Sparbeträge auf die Kapitalmärkte, weil sie keine hinreichende realwirtschaftliche Anlage finden. Nach Berechnungen des DIW ergeben sich aus dem von der Bundesregierung honorierten de facto Zwangssparen Wachstumseinbußen von 0,3 bis 0,5% pro Jahr. Entsprechend instabiler wird das System. Denn die Basis jedes Renten-Modells können auch die virtuosesten Finanzakrobaten nicht außer Funktion setzen: Jede gezahlte Rentenmark muss im gleichen Jahr als BIP-Mark erarbeitet werden. Für Kapitalfonds – wenn der Bankrott mit dem Platzen der Spekulationsblase nicht früher kommt – schlägt spätestens dann die Stunde der Wahrheit, wenn weniger Kapital neu gebildet, als für Rentenzahlungen abgebaut wird. Während für die GRV demographische Horrorszenarien aus der Werkstatt eines Stephen King entwickelt werden, setzt der ökonomische Verstand aus, sobald die Versicherungswirtschaft im Geschäft ist.

Angesichts dieser Zumutungen wird gerne die Geschichte von einer Sozialdemokratie erzählt, die, wäre ihr das Schicksal einer gewonnenen Bundestagswahl erspart geblieben, einen heißen Herbst organisiert und den Systemumbau der Sozialversicherung zu Fall gebracht hätte. Das ist eine Illusion. Die Substanz der Neuen Sozialdemokratie ist eine andere. Für sie gibt es keine sozialpolitische Garantie des Lebensstandards mehr. Für sie hat Umverteilung (»Sozialismus«) allenfalls noch in der Klasse eine Zukunft. Für sie ist soziale Ungleichheit Motor individuellen – und als Summe des Strebens aller auch gesellschaftlichen – Fortschritts. Für sie ist ein Ewiggestriger, wer in der Zivilisierung des Kapitalismus den Ausgangspunkt für zivilgesellschaftliche Reformen sieht. Für sie beginnt die neue Zeit mit 20 Mrd. Mark Subventionen für die Privatisierung und Entsolidarisierung kollektiver Vorsorge. Und für alle, deren Skepsis durch bittere soziale Erfahrungen fundiert ist, hält die Neue Sozialdemokratie ihre sozialpolitische Allzweckwaffe bereit: den »aktivierenden Staat«.

Die Gewerkschafter, die im November und Dezember die Arbeit niederlegten und gegen den Systemumbau demonstrierten, verfügen über mehr Zukunftssinn als die Clique der geschichtsvergessenen »Modernisierer«. Entgegen den Erwartungen etlicher Funktionäre und Repräsentanten haben sie gezeigt, dass gewerkschaftlicher Fortschritt denkbar ist. Dann, wenn das Programm der Neuen Sozialdemokratie verhindert wird.

Richard Detje ist Redakteur von Sozialismus.

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