29. November 2012 J. Bischoff / B. Müller: Die programmatischen Profil-Erweiterungen der Grünen

Soziale Gerechtigkeit & Schuldenbremse?

Knapp ein Jahr vor der nächsten Bundestagswahl beherrscht die Bundeskanzlerin die politische Agenda in Deutschland. So bejahen 65% der Deutschen die Feststellung: »Auch wenn ich nicht mit allem übereinstimme, ist unser Land bei der jetzigen Regierung in guten Händen.« Seit November 2011 steigt diese Zustimmung Monat für Monat an – obwohl in dieser Zeit durchaus umstrittene Themen wie das Betreuungsgeld, Altersarmut, steigende Strompreise oder die Personalquerelen in der FDP die Schlagzeilen der Medien und die öffentliche Debatte prägten.


Erfolgreichste Regierung aller Zeiten?

Zugespitzt gesagt: Bei den WählerInnen kann sich die Bundeskanzlerin eher auf eine zunehmende Vertrauensbasis stützen, was für die Parteien der christlich-liberalen Koalition nicht gleichermaßen festgestellt werden kann. Vor allem die FDP hat deutlich an Terrain verloren und bei den anstehenden Landtagswahlen in Niedersachsen droht die liberale Partei an der 5%-Hürde zu scheitern. Deshalb und nicht wegen Stimmenverlusten der CDU ist die schwarz-gelbe Koalition im Herbst 2013 bei den Bundestagswahlen möglicherweise nicht mehr mehrheitsfähig.

Die demoskopischen Werte für die Bundeskanzlerin und eingeschränkt auch ihre Partei haben viel zu tun mit der im europäischen Vergleich noch relativ guten wirtschaftlichen Bilanz der Berliner Republik – trotz Abschwächung des Wirtschaftswachstums und stagnativer Tendenzen am Arbeitsmarkt. Die ökonomische Stabilität und die gewachsene Führungsmacht der Bundesrepublik wird der Bundeskanzlerin und ihrer Regierung zugeschrieben. In der politischen Rhetorik wird dies von Merkel stark betont: »Diese Bundesregierung ist die erfolgreichste seit der Wiedervereinigung.« Die Arbeits­losigkeit habe den tiefsten Stand seit 1990 erreicht und das Land sei stärker aus der Krise 2008 und 2009 herausgekommen, als es in sie hineingegangen ist.

Die Botschaft der Kanzlerin lautet: Wir haben das Land gut durch die bisher schon fünf Jahre währende Euro- und Finanzkrise geführt und sind bei der Überwindung der Schulden- und Finanzprobleme auf dem richtigen Weg. Allerdings werde dies voraussichtlich noch mindestens fünf Jahre andauern: »Wer glaubt, das kann in ein oder zwei Jahren behoben sein, der irrt«, sagte Angela Merkel. Sie wirbt als Krisenmanagerin um Vertrauen für das Festhalten am bisherigen Kurs. »Die Art und Weise – und das ist für mich auch eine große Enttäuschung –, wie wir auf die internationale Finanzkrise, auf das Platzen von zig Blasen heute schon wieder neigen zu antworten in weiten Teilen der Welt, nämlich mit wieder mehr staatlichen Stimulus-Programmen, mit Konjunkturprogrammen und mit mehr Liquidität in den Märkten, das beunruhigt mich zutiefst.« Europa und die Bewältigung der Euro- und Finanzkrise will die CDU-Vorsitzende ins Zentrum des Wahlkampfs rücken.


Der richtige Gegenkandidat?

Dagegen sich als glaubwürdige Alternative zu profilieren, damit tut sich die Sozialdemokratie ausgesprochen schwer. Mit Beginn des Wahlkampfs rücken die heiklen Themen der Agenda 2010 wieder in den Vordergrund: Altersrenten, Rentenalter, Hartz IV etc. Der frühere Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) gibt seine politische Zurückhaltung auf und erklärt das Abrücken seiner Partei von der Agenda 2010 zu einem schweren politischen Fehler. »Die deutsche Sozialdemokratie wäre heute die stärkste in Europa, wenn sie die Kraft gefunden hätte zu sagen: Die Agenda war richtig.«[1]

Die Kür von Peer Steinbrück zum SPD-Kanzlerkandidaten hat weder ihm noch seiner Partei bisher Fortschritte gebracht. Seit Beginn der Debatte um seine Nebentätigkeiten und Vortragshonorare sinken seine Zustimmungswerte und die seiner Partei wieder. Das Problem, das ein von der Agenda 2010 nach wie vor überzeugter Spitzenkandidat die von der SPD beschlossenen Korrekturen an der Agenda-Politik (Mindestlohn, armutsfeste Solidarrente, Überprüfung der Rente mit 67, Einhegung der Leiharbeit) glaubwürdig vertreten kann, hat sich damit eher noch vergrößert. DIE SPD schwankt in den aktuellen Umfragen zwischen 26% und 29%.

Während die FDP enttäuscht feststellen muss, dass ihr die Entscheidungen des Koalitionsgipfels Anfang November mit der Abschaffung der Praxisgebühr etc. von potenziellen WählerInnen nicht honoriert worden sind und sie im Umfragetief verharrt und auch das »Transparenzversprechen« der Piraten verbraucht ist, sodass sie um den Einzug in den Bundestag bangen müssen, erfreuen sich die Grünen wieder wachsender Zustimmung.

Die Stärkung ihrer Position im politischen Kräfteverhältnis hatte sich schon bei den letzten Wahlen (NRW, Bremen und zuletzt der Oberbürgermeisterwahl in Stuttgart) angedeutet. Sie bewegt sich in den Umfragen wieder zwischen 14% und 16%, und damit deutlich über ihrem Bundestagswahlergebnis von 2009 (10,7%).


Die neue »grüne Welle« und ihre Hintergründe

Die neuerliche »grüne Welle« basiert nicht zuletzt auf einer programmatischen Erweiterung des Profils der Partei, die mit der Wahl des Spitzenduos und auf der letzten Bundesdelegiertenkonferenz in Hannover deutlich wurde. So werden die Grünen mit Katrin Göring-Eckardt und Jürgen Trittin an der Spitze in den Bundestagswahlkampf 2013 ziehen. Überraschend klar hat sich die Basis der Partei für diese Doppelspitze entschieden. An der Urwahl beteiligten sich 60% der Mitglieder, was auf ein hohes Engagement schließen lässt.

Wenig überraschend war die Wahl von Jürgen Trittin, dessen zentrale Rolle mit über 70% Zustimmung eindrucksvoll bestätigt wurde. Gerechnet worden war dagegen nicht mit der Wahl von Karin Göring-Eckardt, die sich mit 47% Zustimmung deutlich gegen Renate Künast und Claudia Roth durchsetzen konnte. Göring-Eckardt hat einige Jahre Theologie in Leipzig studiert und ist heute Präses der Evangelischen Kirche Deutschlands. Ist die Entscheidung für die sich selbst als »bürgerlich« und »wertkonservativ« einstufende Kirchenfrau eine Zäsur in der Geschichte der Grünen? Beileibe nicht. Die Entscheidung für die Kandidatin aus Thüringen ist vielmehr Ausdruck einer Entwicklung, die sich bereits in den 1990er Jahren abzuzeichnen begann.

Die Grünen repräsentieren jene Teile der modernisierten Mitte, die sozialen und kulturellen Aufstieg erfahren haben und auch in der Großen Krise die stabilen Positionen der Arbeitsgesellschaft besetzen. Ihre letzten Erfolge in Nord­rhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz, Bremen und vor allem Baden-Württemberg zeigten nicht zuletzt, dass ihr Aufstieg auf einer langfristigen und nachhaltigen Positionierung bei Teilen des »aufgeschlossenen Bürgertums« beruht.

»Die Grünen repräsentierten früher eine Partei der gebildeten, aber eher schlecht verdienenden sowie ökologisch orientierten Jungen. In den vergangenen Jahren ist es ihnen gelungen, sowohl die frühen Unterstützer dauerhaft an die Partei zu binden als auch nach wie vor überdurchschnittlich erfolgreich bei Erst- und Jungwählern zu sein. Heute sind die Grünen die Partei der umweltbewussten, gut gebildeten, gut verdienenden Beamten und Selbstständigen mittleren Alters in Großstädten. Gering Gebildete, Arbeitslose und Geringverdiener unterstützen die Grünen hingegen kaum.«[2]

Heute bilden die Grünen »einen Nukleus der bürgerlich-mittigen Wissensgesellschaft. Für rund ein Fünftel der Bundesbürger mit Abitur und Hochschulabschluss sind sie die Partei der ersten Wahl. Beamte mit akademischer Ausbildung stellen den Kern ihrer Stammwählerschaft. Aber auch unter den Selbständigen sympathisieren 15% mit der Ökopartei.«[3] Sie finden »die höchste Unterstützung bei einem gutsituierten Bildungsbürgertum. Gerade auch der Erfolg bei Selbstständigen und Freiberuflern sowie bei Personen mit überdurchschnittlichen Einkommen untergräbt den bürgerlichen Alleinvertretungsanspruch von Union und FDP für diese Klientel.«[4]

Die Transformation der Grünen von der »Antipartei« in eine politische Formation des »neuen Bürgertums« geht einher mit einer Veränderung der in diesen Milieus dominierenden Wertvorstellungen. »In den grünen Milieus vollzieht sich eine bemerkenswerte Synthetisierung von Werten aus der eigenen Oppositionsbiografie mit Basisnormen des früheren konservativen Gegners. Das grüne Bürgertum hält zwar weiter an den Postulaten des Eigensinns, der Emanzipation, der Freiräume und der Partizipation fest. Es verbindet sie aber im familialen Alltag mit Tugenden, die noch in den 1980er-Jahren geschmäht wurden: Pünktlichkeit, Höflichkeit, Verlässlichkeit, Rücksicht. Die eigenen Kinder werden zum Respekt angehalten.«[5]

Diesen besserverdienenden Aufsteigerschichten sind Bürgerrechte wichtig. Für sie sind zudem soziale Fragen, die Chancen der nächsten Generation und die Ökologie von Bedeutung. Ihnen brennen Themen wie Kinderbetreuung, Ganztagsschule, Probleme von Alleinerziehenden und die städtebauliche Entwicklung unter den Nägeln. Gleichzeitig wünschen sie sich auch etwas mehr Ordnung und Kontrolle.


Schärfung des sozialen Profils mit angezogener Bremse

Keineswegs zufällig will deshalb die Spitzenkandidatin neben der Umwelt- und Klimapolitik »soziale Gerechtigkeit« ins Zentrum des grünen Bundestagswahlkampfs stellen und damit das Themenfeld der Grünen nach der durchgesetzten »Energiewende« deutlich erweitern. »Die soziale Frage ist für die Grünen sehr wichtig. Uns geht es anders als den anderen Parteien auch um diejenigen, die ganz draußen sind. Wenn die SPD sich vor allem um die Arbeitnehmer kümmert, sind wir die Lobby derjenigen, die am Rand stehen. Uns geht es um den Zusammenhalt von Gesellschaft. Das ist ein immer wiederkehrendes Thema. Bei der Generationengerechtigkeit – wenn wir über Rente reden –, bei der Armutsbekämpfung, in der Bildungspolitik und bei der Arbeitsmarktpolitik.«[6]

Die Grünen nehmen daher eine deutliche Abgrenzung gegenüber der schwarz-gelben Koalition vor. »Die Bilanz von sieben Jahren Kanzlerschaft Merkel ist, dass sich die Schere zwischen Arm und Reich dramatisch geöffnet hat und soziale Ungleichheit stark gewachsen ist. Während sie ihr präsidiales Image pflegt, fällt die deutsche Gesellschaft weiter auseinander. Deutschland, das ist heute ein Land privaten Reichtums der oberen zehn Prozent, öffentlicher Armut für die Mehrheit. Beste Aussichten für einige Privilegierte und ihre Familien, unterfinanzierte Bildungseinrichtungen und mangelnde öffentliche Daseinsvorsorge für die Mehrheit. Merkels Deutschland: gespaltene Gesellschaft, verfestigte Strukturen und ungleiche Chancen.«[7]

Diese zunehmende soziale Spaltung wollen die Grünen zu einem Schwerpunkt machen und erweitern mit Blick auf die erfolgreichen Veränderungen in der Energiepolitik ihr programmatisches Angebot: Mindestlohn, höhere Hartz-IV-Sätze, Garantierente. Sie ziehen mit der Forderung nach tiefgreifenden Sozialreformen in den Bundestagswahlkampf 2013. Konkret wollen sie einen auf 420 Euro erhöhten Hartz-IV-Regelsatz sowie eine Aussetzung der Sanktionen für die BezieherInnen von Sozialleistungen. Die Grünen bekennen sich zwar immer noch grundsätzlich zur Rente mit 67, fordern aber immerhin eine »armutsfeste Garantierente«. Sie soll oberhalb der Grundsicherung liegen und allen gezahlt werden, die dem Arbeitsmarkt mehr als 30 Jahre zur Verfügung standen oder Kinder betreut haben. Mit weiteren Beschlüssen verlangen sie mehr Transparenz und Demokratie in Europa.

Keine Frage: Weitaus deutlicher als der gewünschte künftige Koalitionspartner SPD ziehen die Grünen Schlussfolgerungen aus den Folgen der Agenda 2010. »Diese Entwicklung (einer zunehmenden sozialen Polarisierung, d.V.) ist das Ergebnis der Dominanz neo­liberalen Denkens, das einen freien Markt über alles stellt, Sozialpolitik als Hemmschuh im internationalen Wettbewerb betrachtet und eine Teilhabe für alle durch gute öffentliche Institutionen ausbremst. Auch die Rot-Grüne Regierungszeit war nicht frei von diesem Geist, auch wir haben Fehler gemacht. In der Steuer- und Sozialpolitik haben wir Maßnahmen mit zu verantworten, wie etwa die Senkung des Spitzensteuersatzes oder die Einseitigkeit bei den Sozialreformen, die zu der beschriebenen Entwicklung beigetragen haben und nach 2005 noch verschärft wurden. Wir Grüne haben uns in den letzten Jahren dieser Diskussion gestellt, die Regierungszeit aufgearbeitet und unsere Konzepte weiterentwickelt.«[8]

Etwas weniger emphatisch formuliert das der grüne Spitzenkandidat Jürgen Trittin: »Die richtige Konsequenz in meinen Augen ist nicht der Verzicht auf notwendige Strukturreformen, sondern dass man solche Reformen machen muss mit einem ausgewogenen, sozial gerechten Profil. Dass ein solches Profil fehlte, hat die erste rot-grüne Koalition ihre Mehrheit gekostet.«[9] Die Grünen werden zwar auch weiterhin für eine Modernisierung des Kapitalismus eintreten, aber sie wollen die Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit nicht um den Preis einer weiteren Vertiefung der sozialen Spaltung. Dazu gehört ein deutlicher Kurswechsel in der Finanzpolitik: Gefordert wird, den Spitzensatz der Einkommensteuer von 42% auf 49% zu erhöhen. Reiche sollen befristet eine Vermögensabgabe zahlen, das Aufkommen der Erbschaftsteuer verdoppelt werden. Kapitalerträge wollen die Grünen künftig nicht mehr mit der 25%igen Abgeltungsteuer belegen, sondern mit dem zumeist höheren persönlichen Einkommensteuersatz.

Auch Spitzenfrau Göring-Eckardt vertritt die Verschiebung in der grünen Strategie selbstbewusst: »Wir sprechen in der ganzen Republik ein aufgeklärtes Bürgertum an, dem Bürgerrechte wichtig sind, das mitreden und mitbestimmen möchte und dem auch soziale Fragen und die Chancen der nächsten Generation und die Ökologie wichtig sind. Uns wählen inzwischen auch enttäuschte CDU-Wähler, die glaubwürdige und werteorientierte Politik wünschen. Diese Wähler sollten wir gezielt stärker ansprechen … Es geht um Leute, die sich gegen die soziale Spaltung der Gesellschaft wenden. Im Übrigen wollen wir die Einnahmen aus der Vermögensabgabe nicht ausgeben, sondern wir wollen damit die Schulden tilgen. Das ist eine klare Aussage für die Generationengerechtigkeit.«[10]

Die Grünen sind allerdings nicht nur visionär, sondern gleichzeitig auch überzeugte Anhänger der Schuldenbremse. So heißt es etwa im Beschluss der Hamburger Grünen auf ihrer Landesmitgliederversammlung vom 4.11.2012: »Unsere Handlungsspielräume orientieren sich an der in der Verfassung verankerten und von uns Grünen mitgetragenen Schuldenbremse. Wir stehen für eine Haushalts- und Finanzpolitik, die nicht zulasten der kommenden Generationen geht.«[11] Da die grundgesetzlich verankerte Regelung zur Kreditaufnahme auf Sanierung durch Ausgabenkürzungen und staatliche Aufgabenkritik zielt und die strukturelle Unterfinanzierung von öffentlichen Aufgaben missachtet, ist mit dem Festhalten an der Schuldenbremse eine Spannung zur reformpolitischen Agenda programmiert, deren Auflösung für die Zukunft spannend bleibt.

Die Grünen machen in der Summe ihrer steuer- und abgabenpolitischen Forderungen (neben Steuererhöhungen gehören auch ein Abschmelzen »ökologisch schädlicher Subventionen« in der Größenordnung von 7,5 Mrd. Euro und ein erster Schritt bei der »Abschmelzung des gesellschaftlich falschen Subvention des Ehegattensplittings« dazu, die 3,5 Mrd. Euro bringen soll) folgende Rechnung auf: »Die Länder werden durch die bisherigen steuerpolitischen Beschlüsse insgesamt um über 9 Milliarden Euro, die Kommunen um über 1,5 Milliarden Euro entlastet. Auf Bundesebene rechnen wir – bezogen auf das Jahr 2014 als erstes Jahr eines Politikwechsels – mit einem Gestaltungsspielraum von mindestens 12 Milliarden Euro.«[12]

12 Mrd. Euro sind allerdings nicht besonders viel Geld für eine nachhaltige Einhegung der sozialen Spaltung und eine Erneuerung der öffentlichen Infrastruktur in der Berliner Republik. Aber selbst diese eher bescheidenen Reformvorschläge sind gesellschaftlich sofort heftig umstritten. So hat die Bundesagentur für Arbeit ausgerechnet, dass die Anhebung des Hartz IV-Regelsatzes um 50 Euro nicht wie von den Grünen behauptet 2,5 Mrd. Euro, sondern 7,5 Mrd. Euro kosten würde. Ob die Grünen im Zweifelsfall zu ihrer sozialpolitischen Agenda stehen oder sich letztlich dem Druck der »Schuldenbremse« beugen, bleibt abzuwarten.

Mit ihrer »sozialpolitischen Erneuerung« suchen die Grünen sich als politische Kraft eines »aufgeschlossenen Bürgertums« zu profilieren, die im Unterschied zur FDP nicht auf der strikten Verteidigung der Besitztitel besteht. »Nach allem, was wir wissen, ist das Thema soziale Gerechtigkeit für die Grünen-Wähler von großer Bedeutung – auch wenn viele selbst ein gutes Auskommen haben. Grünen-Wähler wollen, dass allen Menschen eine gerechte Teilhabe ermöglicht wird.«[13] Deshalb sollen auch eine stärkere Beteiligung der Besserverdienenden und Vermögenden an der Finanzierung der gesellschaftlichen Aufgaben (Vermögensabgabe) und die Beseitigung der gröbsten sozialen Missstände etwa durch die Einführung eines Mindestlohns angegangen werden.

Es ist für die große Mehrheit der grünen Partei kein Widerspruch für die Schuldenbremse und die konsequente Schuldentilgung zugleich einzutreten. Dass eine Politik der Rückgewinnung der politischen Handlungsspielräume entscheidend von der Organisation eines qualitativen Wachstums abhängt, wird dabei weniger betont. Die Grünen wissen mehrheitlich: Die Reichen werden immer reicher, die Armen immer ärmer. Und es gibt Boom-Regionen und Regionen, in denen die Leute eher abgehängt werden. Aber sie misstrauen der These, dass nur mit einer Veränderung der gesellschaftlichen Reproduktion und des Wachstums die negativen Folgen überwunden werden können. Sie polemisieren allerorten gegen die Option, nur Wachstum, Wachstum, Wachstum bringe uns weiter und löse alle Probleme, ohne zugleich anzugeben, wie die negativen gesellschaftlichen Entwicklungen gestoppt werden können. Insofern steht die Grundsatzdebatte über einen Ausweg aus der Krisenkaskade und der umfassenden sozialen Spaltung noch aus.


Wie reagieren SPD, LINKE und Union?

Die programmatische Erweiterung in der Sozial- und Finanzpolitik ist ohne Zweifel eine Herausforderung für Sozialdemokratie und die Partei DIE LINKE. Jürgen Trittin traut zudem der Linkspartei keine Energie und Beweglichkeit zu einer programmatisch-strategischen Erneuerung zu: »Die Linkspartei ist mit ihrem Politikmodell in einer strategischen Sackgasse gelandet. Sie wollte in den Punkten Hartz IV und Afghanistan bretthart sein und damit Veränderungsdruck erzeugen. Nun kommt der Afghanistan-Abzug, und die Hartz-IV-Sätze sind vom Bundesverfassungsgericht entschieden worden, und jetzt steht Die Linke nackt da. Parteien der linken Mitte brauchen eine Vorstellung, wo die Gesellschaft sich in zehn oder fünfzehn Jahren hin entwickeln soll. Das müssen keine Utopien sein oder Visionen, sondern Ziele, die sie erreichen wollen. Und daran müssen sie ihre Politik ausrichten, wissend, dass das immer mit Kompromissen und Rückschlägen verbunden ist.«[14]

Die Grünen wollen mit Geschlossenheit, programmatischer Erweiterung und einem pragmatischen Mitte-Links-Kurs zurück an die politische Macht. Sie haben zudem ihr unzweideutiges Bekenntnis zur Stärkung des Europäischen Parlaments und einer deutlichen Abgrenzung von der neoliberalen Politik bekräftigt, mit der die krisengeschüttelten Euro-Länder durch zu harte Sparvorgaben immer tiefer in die Abwärtsspirale hineingedrückt werden.

Vor diesem Hintergrund dürfte es für die SPD und die Linkspartei nicht einfach werden, in den nächsten Monaten ein ähnlich klares politisches Profil zu entwickeln. Die Einschätzungen der LINKEN-Vorsitzenden Katja Kipping in Auswertung der Hannoveraner Bundesdelegiertenkonferenz der Grünen – »Von einem Linksruck kann keine Rede sein«; »Wir haben es hier mit mehr Schein als Sein zu tun« – reichen mit Sicherheit als strategisch-programmatische Richtschnur nicht aus. Die von den Grünen vergrößerte programmatische Schnittmenge mit der Linkspartei müsste verarbeitet werden. Ein treffendes Beispiel: Viele Forderungen der von der LINKEN kürzlich vorgestellten »Bausteine für ein sozial-ökologisches Konjunkturprogramm«[15] finden sich auch auf der Agenda der Grünen Partei. Die Linkspartei wird durch die programmatisch-politische Erweiterung gezwungen, ihre Reformkonzeption für die tief sozial gespaltene Berliner Republik zu konkretisieren.

Innerhalb der Unionsparteien gibt es vor dem Hintergrund des Wiedererstarkens der Grünen und des Dauertiefs der FDP eine neuerliche Debatte um Schwarz-Grün als einer möglichen Option für die Bundestagswahl 2013. Für die Modernisierer in der CDU ist es nach der Schlappe in Stuttgart höchste Zeit für einen Kurswechsel oder mindestens eine Strategiediskussion. Prominentester Fürsprecher dieser Linie ist der frühere CDU-Generalsekretär Heiner Geißler, der eine grundlegende Erneuerung und Ausrichtung seiner Partei auf die Linie der Vorsitzenden und Kanzlerin Angela Merkel einforderte. »Ihr Kurs, die CDU als eine moderne Volkspartei zu präsentieren, ist absolut richtig.«[16] Aber: »Es gibt immer noch zu viele konservativ-neoliberale Kräfte, die altmodischen Positionen nachhängen.«

Als Beispiel nennt Geißler ein »antiquiertes Familien- und Frauenbild«, die »ständige Kritik an der Energiewende und der europäischen politischen Einigung« und »eine marktradikale Wirtschaftspolitik«. Damit könne eine Volkspartei zu Beginn des 21. Jahrhunderts nicht erfolgreich sein. Der Widerstand gegen Frauenquote und Mindestlohn müsse endlich beendet werden. Die CDU müsse sich in den ökologischen und sozialen Fragen deutlich von der FDP distanzieren, sonst werde sie in deren Abwärtssog hineingezogen.

Als Konsequenz aus der erneuten Niederlage bei einer Großstadtwahl, haben sich jetzt alle CDU-Bundestagsabgeordneten, die aus Städten mit mehr als 500.000 Einwohnern kommen, zu einer Arbeitsgruppe jenseits der etablierten Fraktionsstrukturen zusammengetan. Sie haben ein Manifest erarbeitet,[17] in dem sie für eine Auseinandersetzung und Kooperation mit den Grünen plädieren.

Widerspruch gegen die Forderung nach Modernisierung und Annäherung an die Grünen kommt vom konservativen Flügel der Partei. »Ich warne davor, dass wir uns in eine Union für die Metropole und eine ländliche Union auseinanderdividieren lassen«, sagt der CDU-Innenpolitiker Wolfgang Bosbach, und warnte seine Partei davor, sich bei den Grünen-Wählern anzubiedern. »Die Union wäre gut beraten, nach dem Ergebnis in Stuttgart keine grünen Fantasien zu pflegen.«[18] Die Union müsse sich treu bleiben und auf der Suche nach dem Wechselwähler den Stammwähler nicht vergessen. »Die Bürger wählen das Original, nicht das Plagiat.«

Bosbach gehört zu einer Reihe PolitikerInnen in der CDU, die seit längerer Zeit von der Notwendigkeit einer organisierten konservativen Strömung innerhalb der Partei überzeugt sind. Die Finanz- und Europolitik, die Wende in der Energie- und Schulpolitik, die Abschaffung der Wehrpflicht und die Familienpolitik hätten die Fragen nach der Zielvorstellung christdemokratischer Politik immer lauter werden lassen.

Durch die neue sozialpolitische Reformagenda der Grünen haben die Spekulationen über Schwarz-Grün allerdings einen deutlichen Dämpfer erhalten. So kommt der Vorsitzende der nordrhein-westfälischen CDU, Armin Laschet, wenig selbstkritisch zu dem Schluss: »Dass wir in jüngster Zeit so viele Großstädte verloren haben, hat nichts mit unserer Programmatik zu tun – die ist viel moderner als die der Grünen. Schauen Sie sich doch an, was die Grünen auf ihrem Parteitag in Hannover beschlossen haben: Sozialstaatsromantik und Umerziehungsideen. Wir müssen den Grünen selbstbewusst entgegenhalten: Ihr seid keine bürgerliche Partei, den Mittelstand schwächen und Menschen umerziehen ist nicht bürgerlich.«[19]

Laschets »Vision für die nächsten zehn Jahre: Jeder soll den Aufstieg in unserem Land schaffen können, unabhängig von der Herkunft der Eltern«, findet sich allerdings ähnlich bei den Grünen. Der grundsätzliche Streit geht um die Wege, und die Frage einer unbedingten Verteidigung der Eigentumstitel.

Die Bundestagswahl wird letztlich entschieden über die Frage, welche Konzepte die Parteien für eine Stabilisierung der von den Rändern her in die Zange genommenen gesellschaftlichen Mitte haben. Nachdem mit der von Schwarz-Gelb vollzogenen »Energiewende« ein prinzipielles Hindernis für eine schwarz-grüne Bündniskonstellation auf Bundesebene beseitigt wurde, ist je nach Wahlergebnis und parteiinternen Kräfteverhältnissen nicht völlig auszuschließen, dass CDU und Grüne in einem gemeinsamen Regierungsprojekt die Stabilisierung der bedrohten gesellschaftlichen Mitte betreiben.

Joachim Bischoff ist Mitherausgeber, Bernhard Müller Redakteur von Sozialismus.

[1] Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung vom 24.11.2012
[2] Martin Kroh/Jürgen Schupp: Bündnis 90/Die Grünen auf dem Weg zur Volkspartei? In: DIW-Wochenbericht 12/2011.
[3] Franz Walter, Grün und bourgeois, in: Capital 12.11.2012.
[4] Kroh/Schupp, a.a.O.
[5] Walter, a.a.O.
[6] Südthüringer Zeitung vom 5.9.2012.
[7] »Ein Gesellschaft für Alle: Umfassende Teilhabe und Selbstbestimmung durch gute Institutionen und gerechte Verteilung«, Beschluss der 34. Ordentlichen Bundesdelegiertenkonferenz in Hannover, 16.-18. November 2012.
[8] Ebd., S. 3.
[9] »Merkels Bilanz als sparsame Hausfrau ist schlecht«, Interview mit der FAZ vom 16.11.2012.
[10] »Grüne sprechen überall Bürgertum an«, Interview mit RP Online vom 23.10.2012.
[11] http://hamburg.gruene.de/sites/hamburg.gruene.de/files/dokument/08-10-2012/lmv-2012-11-04-antrag-l01-sozialgerechtgruen.pdf
[12] »Eine Gesellschaft für alle«, a.a.O., S. 27
[13] Katharina Fegebank (Sprecherin der Hamburger Grünen), »Wir setzen nicht auf Übervater Staat, Interview, in: Die Welt vom 3.11.2012.
[14] »Merkels Bilanz als sparsame Hausfrau ist schlecht«. Interview mit der FAZ vom 16.11.2012.
[15] »Das Ruder jetzt herumreißen. Wirtschaft und Beschäftigung sichern, soziale Infrastruktur stärken, ökologischen Umbau gestalten. 23.11.2012 – www.die-linke.de/nc/dielinke/nachrichten/detail/zurueck/detail/artikel/das-ruder-jetzt-rumreissen/
[16] Ruhr Nachrichten vom 23.10.2012.
[17] Matthias Zimmer/Marcus Weinberg, Die CDU in der Großstadt: Probleme, Potentiale und Perspektiven, 13.11.2012
[18] Stuttgarter Nachrichten vom 23.10.2012.
[19] »Die CDU muss die Grünen stellen«, Interview mit der FAZ vom 26.11.2012.

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