1. April 2009 Redaktion Sozialismus[2]

Sozialistische Transformation – aber wie?

Die gegenwärtige Weltwirtschaftskrise stellt eine tiefe Erschütterung der kapitalistischen Ökonomien dar. Sie wird nicht kurzfristig überwunden sein, sondern einen längeren Prozess von Entwertung auf den Kredit- und Finanzmärkten, der Reproportionierung des gesellschaftlichen Gesamt­reproduktionsprozesses der Nationalkapitale mit den entsprechenden Folgewirkungen auf den Arbeitsmärkten sowie Staatsinterventionismus und Re-Regulierung internationaler Finanz- und Währungsinstitutionen nach sich ziehen. In Ansehung dieser mittel- und langfristigen Zeitschiene ist es für die Linke wichtig, die kurzfristigen Handlungsspielräume der zentralen politischen Akteure abzuschätzen.

In einem Strategiepapier des Instituts für Gesellschafts­analyse der Rosa-Luxemburg-Stiftung (RLS) wird das gegenwärtige gesellschaftlich-politische Kräfteverhältnis und die darin eingeschlossene "umkämpfte Tagesordnung der Herrschenden" als eine "offene geschichtliche Situation" bewertet. "Die Krise wird sich über längere Zeit, vielleicht ein Jahrzehnt, hinziehen, bis sich aus der Konkurrenz der Bearbeitungsversuche eine hegemoniale Richtung herauskristallisiert, die eine gewisse Bandbreite von unterschiedlichen Wegen einschließt. Noch aber sind wir in einer relativ offenen geschichtlichen Situation."[3]

Was aber heißt "offene geschichtliche Situation"? Für die Autoren haben sich "die Reserven des nach wie vor dominierenden Neoliberalismus als organisierender Ideologie im Übergang zur informationstechnologischen transnationalen Produktionsweise erschöpft" /8/. Andererseits habe sich eine spezifische Akteurskonstellation herausgebildet: "Die Oben können nicht mehr in alter Weise, die in der Mitte wollen nicht mehr oder werden reaktionär, und die Ausgegrenzten und ohne Perspektive sind verzweifelt." /9/ Mit Verweis auf die ideologische Schwäche der Herrschenden und einer Paraphrasierung der Leninschen Definition einer revolutionären Situation legen die Autoren eine optimistische Lesart nahe. Allerdings wird dieser Optimismus zugleich zurückgenommen, denn: "Die Krise könnte sich – vergleichbar mit vorangegangenen Regulations- und Reproduktionskrisen – als Übergangskrise zu einer neuen Periode des Kapitalismus erweisen" /9/.

Dass die Situation der "stürmischen See" in der Zukunft so oder so überwunden sein wird, entlastet eine strategische Ortsbestimmung für die kurzfristige Entwicklung nicht davon, im Hier und Jetzt das Gefahrenpotenzial der geschichtlichen Situation möglichst genau zu bestimmen. Über Tiefe und Verlauf der Wirtschaftskrise entscheiden die auf den Weg gebrachten Antikrisenprogramme, die zwar deutlich angemessener als in den 1930er Jahren sind, gleichwohl – noch der Logik des Finanzmarktkapitalismus weitgehend verhaftet – hinter den notwendigen Anforderungen weit zurückbleiben.

Blockierendes Element für eine richtige Dosierung von Antikrisenmaßnahmen ist die Furcht vor den negativen Folgen des offensiven Einsatzes von öffentlichen Krediten. John Maynard Keynes bemerkte zu Recht: "Langfristigkeit ist irreführend im Alltagsgeschäft. Langfristig sind wir alle tot. Ökonomen (und Politiker) machen es sich zu leicht, wenn sie in stürmischen Zeiten nur sagen, dass das Meer wieder ruhig sein wird, wenn der Sturm vorüber ist." Noch zeichnet sich kein Abflauen des Krisensturmes ab und insofern bestehen noch immer weiter greifende Möglichkeiten, den Verlauf zu beeinflussen. Im Grundsatz – so unsere Schlussfolgerung – muss die politische Linke im weiteren Verlauf des Krisenprozesses eine Doppelstrategie verfolgen: Zum einen gilt es, die politische Hegemonie zu erringen und den Neoliberalismus, dem die ökonomisch-gesellschaftliche Geschäftsgrundlage entzogen wurde, auch konzeptionell mit einer Antikrisenpolitik an den Rand zu drängen. Zum anderen kann auf dieser Grundlage die Formation einer solidarischen Ökonomie mit einem neuen Verhältnis von Markt- und gesellschaftlich-öffentlicher Steuerung vorangebracht sowie sich über einen Sozialismus im 21. Jahrhundert verständigt werden.

Ohne eine erfolgreiche Abfederung der wirtschaftlichen Talfahrt und eine Stabilisierung des gesellschaftlichen Gesamtreproduktionsprozesses wird es keine neue, zumal auch andere Regulierung, der nationalen Ökonomie sowie des internationalen Finanz- und Währungssystems geben. Die Kritik an den Rettungsversuchen seit Frühjahr 2007 lautet demzufolge: Beim Einsatz der Ressourcen steht das Finanzsystem im Zentrum. Durch öffentliche Einschüsse und Garantien allein lässt sich freilich die unvermeidliche Reproportionierung des Finanzsektors nicht bewältigen. Bei den Rettungsoperationen stehen zudem die angeschlagenen Finanzinstitute im Mittelpunkt und es fehlt an einer Gesamtkonzeption. Schließlich sind die meisten Stützungsprogramme für die Realökonomie unzureichend dimensioniert. Vor allem führt die Konzentration auf die gesellschaftliche Infrastruktur (gesellschaftliches Fixkapital) zu einer unzulässigen Vernachlässigung offensiver Arbeitsmarktpolitik und zu einer Ausblendung von Programmen gegen soziale Spaltung und Armut.

Richtig ist, dass die große Krise nicht die Stunde der politischen Linken ist. Die Krisenkonstellation trifft die Linke – auch Gewerkschaften und Sozialverbände sowie die globalisierungskritische und Sozialforumsbewegung – in den europäischen Metropolen in einer paradoxen Situation. Ihr politischer Einfluss und ihre erfolgversprechenden Bündnisse mit den Gewerkschaften waren in den zurückliegenden Jahren – in Frankreich, Italien und Deutschland unterschiedlich konturiert – entwickelter als in der manifesten Krise des neo­liberalen Finanzmarktkapitalismus heute. Ein Großteil der europäischen Linken (siehe insbesondere Frankreich und Italien) steckt mitten in einem Prozess der Selbstzerlegung und/oder Ansätzen der Reorganisation. Aber auch DIE LINKE in Deutschland und die verschiedenen Kräfte eines gesellschaftlichen Bündnisses für einen radikalen Politikwechsel sehen sich mit massiven Hindernissen konfrontiert. Hinzu kommt eine Sozialdemokratie, die – so sie denn wieder eine emanzipatorische Akteursrolle spielen will – sich zu allererst in einem komplizierten und mühsamen Prozess ihrer tief sitzenden neoliberalen ideologischen Einbindung entledigen muss, bevor sie einen Platz in einem neuen historischen Block einnehmen kann. Bei dieser Schwäche der politischen Opposition verwundert es nicht, dass das bürgerliche Lager trotz erodierender Hegemonie politisch agil in Erscheinung tritt. Bei Ausbruch der Krise wurde der historische Fehler einer "Brüning-Politik" eben nicht wiederholt, sondern – wenn auch mit unzureichendem Ressourceneinsatz – eine relative Stabilisierung der gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse erreicht. Daneben differenziert sich dieses bürgerliche Lager in der Frage des Staatsinterventionismus und der sozialen Lastenverteilung bei der Entwertung von Vermögens- und Einkommenstiteln weiter aus. Und trotz aller Beteuerung internationaler Kooperation agieren die nationalen bürgerlichen Regierungen auf europäischer Ebene keineswegs koordiniert, sondern konkurrieren um Vorteile bei der Verteilung der Krisenfolgen und bei der Erringung neuer vorteilhafter Startpositionen. Deutschland marschiert dabei vorneweg – getreu dem "wilhelminischen" Motto, nach der Krise einen Platz an der Sonne zu haben.

Das Scheitern des Neoliberalismus vornehmlich in seiner ideologischen und hegemonialen "Erschöpfung" auszumachen und nach einer vorübergehenden "staatsinterventionistischen" Zwischenphase wieder eine "Fortsetzung des Neoliberalismus mit anderen Mitteln" /9/ zu befürchten – die Kehrseite im RLS-Papier zu seinem Optimismus –, unterschätzt, dass der Neoliberalismus eine wirtschafts- und gesellschaftspolitische Gestaltungskonzeption war, über Vermögenspolitik die Kapitalakkumulation zu stärken und die Gesellschaft dementsprechend umzuwälzen. Dem ist durch die Krise die reale Geschäftsgrundlage entzogen:

  Bildung von Wohnungseigentum bei geringer oder keiner Eigenkapitalbeteiligung; Ausbildungskredite;

  Privatisierung des Gesundheitsschutzes;

  Kapitalisierung der Renten;

  EU-Richtlinien zur Liberalisierung von Finanzmarktinstitutionen und zur Privatisierung der Sparkassen.

All diese Punkte stehen vor dem Scheitern. Stattdessen werden vor allem die Folgewirkungen ihrer krisenhaften Abwicklung die Spielräume der nächsten Zeit für emanzipatorische Alternativen abstecken.

Hinter dem Griff des bürgerlichen Lagers zu staatsinterventionistischen Maßnahmen steht weder ein bewusstes Kalkül der Übergangsmaßnahmen, noch eine ausgewiesene Zielvorstellung über eine Neujustierung im Verhältnis von Staat und Markt. Vielmehr werden diese politischen Interventionen immer wieder durch die verselbständigten ökonomischen Strukturen des neoliberalen Finanzmarktkapitalismus konterkariert werden. Solange der Markt keine rationelle Preisbildung für die verschiedenen Segmente des Finanzüberbaus generiert, müssen die bürgerlichen Regierungen Entwertungsprozesse und Reproportionierungen von Kreditstrukturen auf staatlichem Wege vornehmen, um die Kontinuität des Revenueflusses (Masseneinkommen) und ein Minimum an gesellschaftlicher Stabilität zu gewährleisten. Darüber hängt jedoch immer das Damoklesschwert des Scheiterns. Im Alltagsbewusstsein von Teilen der Bevölkerung kann dies die Befürchtung reaktivieren, dass letztlich nur eine Vernichtung des Kapitalstocks, vergleichbar mit den kriegerischen Katastrophen des 20. Jahrhunderts, die Bereinigung der gegenwärtigen ökonomischen Krise bewerkstelligen könne.

Die herrschenden neoliberalen Wirtschafts- und politischen Eliten haben unter dem Druck der Krisenprozesse ihre bisherige Orientierung aufgegeben, was nicht heißt, dass sie zu einer wirksamen Antikrisenpolitik bereit sind. Deshalb ist richtig: Der Neoliberalismus hat sich als Ideologie und als hegemoniales Projekt noch nicht selbst erledigt. Aber die gesellschaftliche Macht, nahezu unbehelligt Themen zu generieren und gesellschaftspolitische Deutungen durchzusetzen, hat schwer gelitten. Zugleich müssen wir feststellen, dass Teile der Opposition sich nicht auf diese labilen Kräfteverhältnisse einlassen (wollen), sondern Anleihen aus der Vergangenheit bezüglich der Krise des Kapitalismus bemühen. Die 1930er Jahre sind aber mit heute nicht einfach vergleichbar. Dies erschwert zusätzlich die Bildung eines historischen Blocks emanzipatorischer Kräfte und politischer Alternativen. Deren Herausforderung liegt in erster Linie in gravierenden sozialstrukturellen Veränderungen begründet: Bislang ist es weder der Linken, noch der globalisierungskritischen Bewegung gelungen, ein Bündnis zwischen Lohnarbeit, Prekarität als neuer Qualität des Gegenwartskapitalismus und fast einem Drittel nicht mehr erwerbstätiger Wahlbevölkerung herzustellen. Hinzu kommt das Fehlen einer dafür erforderlichen neuen politischen Kultur und Repräsentanz, die die Zentrierung aus dem 20. Jahrhundert – "Die Hegemonie geht von der Fabrik aus" – konstruktiv überwindet. So begrüßenswert die These vom "strategischen Dreieck linker Politik" von sozialem Lernen, Bündnispolitik und Emanzipationsprojekten in dem IfG/RLS-Strategiepapier auch ist: Auf das Ausloten von "Zeitfenstern", Rochaden im bürgerlichen Lager und die Rolle der SPD hierzulande und die Schwierigkeiten der deutschen Linken, im Deutungskampf des Krisenprozesses bei Teilen der Bevölkerung Terrain zu gewinnen, wird nicht näher eingegangen. Der Hinweis, dass der jetzt in die Krise geratene Neoliberalismus eine "Antwort auf die Überakkumulationskrise" /5/ gewesen sei, wird analytisch und strategisch nicht weiter fruchtbar gemacht. Die Diagnose einer überzyklischen Überakkumulationskrise ist nur sinnvoll, wenn diese – jenseits einer vorschnellen Fixierung auf einen "Hightech-Kapitalismus" – in der näheren Charakterisierung einer spezifischen "gesellschaftlichen Betriebsweise des Kapitals" fundiert wird, was in dem Thesenpapier aber unterbleibt. Die fordistische Betriebsweise generierte die Prosperitätszyklen der 1950er bis 1970er Jahre; erst die anhaltende und bis heute nicht durch eine "postfordistische Betriebsweise" überwundene Krise des Fordismus erzeugte eine Konstellation zyklenübergreifender, chronischer Überakkumulation. Sie bildet den eigentlichen Nukleus der jetzt in die Krise geratenen Schuldenökonomie.

Rückblickend auf die Genesis der Krise, aber auch noch für ihren kurzfristigen Verlauf, kann deshalb als Leitfaden dienen: "Die Abweichungen (im gesellschaftlichen Gesamt­reproduktionsprozess) zeigen sich ... in einer allmählichen Häufung von Abweichungen (divergences), die ... zu einer Krise führen, zu einer gewaltsamen, scheinbaren Reduktion auf die alten Verhältnisse..." (Marx, MEW 26.3/505). Dies spielt sich momentan in bizarren Formen vor unseren Augen ab. Eine Analyseanordnung von Krise der gesellschaftlichen Betriebsweise, zyklus­übergreifender Deformation und gewaltsamem Umschlag des verselbständigten Finanzüberbaus in "scheinbar alte Verhältnisse" würde also zugleich den Blick für die so wichtige "allmähliche Häufung von Abweichungen" freigeben. Sie rühren daher, dass bei einem historisch längst erreichten Stand von Überschussproduktion große Teile des gesellschaftlich produzierten Surplus die "accumulated claims upon production" (Marx) der Vermögens- und Besitztitel bedienen müssen. Die gesellschaftliche Verteilung von Produktivitätsgewinnen in Form von Lebensstandard sichernden, armutsfesten Einkommen und Zeitwohlstand sowie die Nutzbarmachung arbeitsorganisatorisch-technischer Potenziale und die selbstbewusste Einbringung subjektiver Kreativität – verbunden mit weiterreichenden Strukturen von Wirtschaftsdemokratie – in die gesellschaftliche Wertschöpfung bleiben unter ihren eigentlich reichen Möglichkeiten. Die gesellschaftliche und politische Durchsetzung einer den neuen Produktivkräften entsprechenden Betriebsweise kommt nicht voran. Sie scheitert immer wieder an den Blockaden der entfremdeten Strukturen der Geldkapitalakkumulation und an den Interessen der Vermögensbesitzer.

Damit ist auch in der Krise ein Terrain eröffnet, auf dem die Produktion des Mehrwerts, die Verteilung der Arbeitszeit, das "Was, Wie und für Wen der Produktion" in einem "arbeitspolitischen wie zivilgesellschaftlichen Stellungskrieg" thematisiert werden kann. Die Hegemonie geht zwar nicht mehr umstandslos von der Fabrik aus, aber die Enttabuisierung des Mehrwerts und die Auseinandersetzung um Arbeitszeitverkürzung müssen gerade in der Krise als Eckpunkte einer gesellschaftlichen Inklusionsstrategie herausgearbeitet werden.

[1] Institut für Gesellschaftsanalyse der Rosa Luxemburg Stiftung: "Die Krise des Finanzmarkt-Kapitalismus – Herausforderung für die Linke", in: Kontrovers – Beiträge zur politischen Bildung 01/2009. Die Seitenzahlen in Schrägstrichen beziehen sich auf dieses Papier.
[2] An der Erarbeitung dieses Beitrags waren beteiligt: Joachim Bischoff, Richard Detje, Hasko Hüning, Christoph Lieber, Bernhard Müller, Bernhard Sander, Gerd Siebecke, Guido Speckmann.
[3] "Die Krise ist auch eine Chance". Sozialistische Transformation im Blick: Die strukturellen Probleme des Kapitalismus erfordern eine Selbstveränderung der Linken. Ein Gespräch mit Mario Candeias, in: Junge Welt vom 18.3.2009

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