1. März 2010 Redaktion Sozialismus

''Spätrömische Dekadenz''

FDP-Chef Guido Westerwelle hat das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zu den Hartz IV-Regelungen – ganz im Stil europäischer Rechtspopulisten vom Schlag eines Jörg Haider oder des Schweizers Christoph Blocher – zum Anlass für eine Kampagne gegen die EmpfängerInnen von Sozialleistungen genommen und eine "Reform" des Sozialstaats gefordert.

Die Diskussion um Hartz IV trage "sozialistische Züge", ihr Opfer seien die Mittelschichten, "die hart arbeitenden Menschen", die mit ihrer Leistung den Sozialstaat erst möglich machten.

Das Gericht hatte in seinem Urteil ein "Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums" ausgewiesen. Faktisch wird damit die durch den Finanzmarktkapitalismus herbeigeführte Tendenz zur sozialen Ausgrenzung wachsender Teile der Bevölkerung anerkannt und den Betroffenen die gesellschaftliche Sicherstellung der materiellen Voraussetzungen, "die für seine physische Existenz und für ein Mindestmaß an Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben unerlässlich sind", also ein Minimum an sozialer Inklusion, als Rechtsanspruch garantiert.

In Deutschland sind aktuell ca. 8 Mio. BürgerInnen auf Sozialleistungen angewiesen und häufig ohne jede Hoffnung, durch Arbeit die eigene Existenz absichern zu können. Ihre Zahl wird als Folge der anhaltenden Wirtschaftskrise noch einmal deutlich zunehmen.

Das Gericht erklärt die geltende Fassung des Hartz IV-Gesetzes für verfassungswidrig, weil a) Leistungen aus Härtefallgründen nicht gewährt werden und b) die bisherige Bemessung der Regelleistungen weniger auf fundierten Zahlen, denn auf Tricksereien und unzulässigen Pauschalierungen beruht, was von Sozialverbänden, Gewerkschaften und der politischen Linken in der Vergangenheit auch immer wieder kritisiert wurde. Mit anderen Worten: Die Armutsgrenze in Deutschland muss neu festgestellt werden.

Das Verfassungsgericht hat kein beziffertes Existenzminimum vorgeschrieben. Dessen transparent und nachvollziehbar begründete Festlegung sei Aufgabe der politischen Organe. "Zur Ermittlung des Anspruchsumfangs hat der Gesetzgeber alle existenznotwendigen Aufwendungen in einem transparenten und sachgerechten Verfahren realitätsgerecht sowie nachvollziehbar auf der Grundlage verlässlicher Zahlen und schlüssiger Berechnungsverfahren zu bemessen." Weil die Politik einen großen Spielraum zur Festlegung des Existenzminimums hat, versucht die FDP in Allianz mit den größeren Teilen des Unternehmerlagers eher geringere Sätze durchzusetzen. Keine Frage: Ein niedriges Existenzminimum ist ein guter Katalysator für die weitere Ausbreitung prekarisierter Lohnverhältnisse.

Westerwelles rechtspopulistisches Flügelschlagen hat also zum einen den Sinn, einen Damm gegen Forderungen nach Verbesserung der Regelleistungen zu errichten. Zum anderen handelt es sich aber auch um den gezielten Versuch, der Enttäuschung, die sich insbesondere bei der FDP-Klientel schon nach 100 Tagen schwarz-gelber Koalition breit gemacht hat, zu begegnen. Sinkende Umfragewerte der FDP und anhaltende Streitigkeiten der Regierungspartner um Steuersenkungen und Kopfpauschale veranlassten den schleswig-holsteinischen FDP-Fraktionschef Kubicki, gar schon von einem "Stellungskrieg innerhalb der Koalition" zu sprechen.

Die Tinte unter dem Koalitionsvertrag war noch nicht trocken, da stritten sich die Koalitionäre schon um dessen Auslegung. Das einzige, was die neue bürgerliche Mehrheit bisher zustande gebracht hat, ist das – wegen der Opposition etlicher CDU-Landesregierungen nur unter Mühen zustande gekommene – "Wachstumsbeschleunigungsgesetz". Nach Meinung vieler Experten war auch dieses angesichts der Haushaltssituation wider die "bürgerliche Vernunft". Inzwischen bringt ein Detail, die Mehrwertsteuersenkung für das Hotelgewerbe, vor allem die FDP in den berechtigten Geruch des Lobbyismus. Dabei hat es an vollmundigen Ankündigungen nicht gefehlt: "Wir stellen den Mut zur Zukunft der Verzagtheit entgegen. (...) Wir wollen unser Land aus der Krise heraus zu einem neuen Aufbruch in das neue Jahrzehnt führen." (Koalitionsvertrag)

Von einem "neuen Aufbruch" ist bislang nichts zu sehen. Das Land befindet sich auf einem sehr steinigen Weg aus der Wirtschaftskrise. 2009 ist die Wirtschaftsleistung um 5% eingebrochen und die Aussichten für 2010 sind bescheiden. Mehr als ein kleines Plus von 1% des BIP ist wenig wahrscheinlich. Die Arbeitslosigkeit steigt in schnellen Schritten und Sozial- und öffentliche Kassen sind leer.

Die bürgerliche Regierung stand deshalb von Beginn an unter dem Druck, den Staatsinterventionismus zunächst fortsetzen zu müssen und alle wesentlichen neuliberalen Vorhaben auf die Zeit nach dem Ende der Wirtschaftskrise zu verschieben. So erhalten die Bundesagentur für Arbeit und die Krankenkassen auch 2010 Zuschüsse, um Einnahmeverluste und Ausgabenanstieg auszugleichen.

Die Exit-Strategie, also der Ausstieg aus der Politik der Flutung der Finanzmärkte mit liquiden Mitteln und der Auflegung von Konjunkturprogrammen, auf die sich die Koalitionäre vertraglich festgelegt haben, harrt bis heute der Konkretisierung. Niemand weiß genau, wie die weitere wirtschaftliche Entwicklung verläuft. Zwar werden schon einmal "drastische Einschnitte", vor allem bei den Sozialhaushalten, angekündigt, wann sie genau realisiert werden, ist indes noch offen. Und das Hartz IV-Urteil des Bundesverfassungsgerichts droht zu neuen Belastungen zu führen, die mit den Steuersenkungsphantasien und Sozialabbauplänen nicht kompatibel sind.

Die Zögerlichkeit in der Politik der "Koalition der Mitte" sowie die vielen Misstöne und Einzelstimmen im schwarz-gelben Chorgesang haben also nicht in erster Linie mit der NRW-Landtagswahl im Mai zu tun, sondern mit den schwierigen wirtschaftlichen Rahmenbedingungen. Während allerdings die CDU – auch in Auswertung der Bundestagswahlen – über neue zukunftsfähige Integrationsstrategien nachdenkt und sich mit der "Berliner Erklärung" auf eine partielle Modernisierung bürgerlicher Politik verpflichtet hat, um neue Wählerschichten zu erschließen, beharrt die FDP auf der unbedingten Sicherung der Besitzstände ihrer Klientel.

Die "Volksparteien" CDU/CSU haben seit 2002 25% (absolut fünf Millionen) ihrer WählerInnen verloren. Der Vertrauensverlust in das bürgerliche Lager hielt sich bisher nur deshalb noch in Grenzen (unterm Strich ein Verlust von 1,5 Mio. Stimmen), weil die Partei des radikalisierten Kleinbürgertums, die FDP, deutlich zulegen konnte. Gegenüber 2002 hat sie 2009 insgesamt 3,6 Mio. Stimmen (2005: + 1,7 Mio. Stimmen) mehr auf sich vereinigen können. Diese Umgruppierung der Stimmen im liberal-konservativen Lager hat zusammen mit der sinkenden Wahlbeteiligung die neue bürgerlichen Mehrheit erst ermöglicht.

Die Attraktion der FDP für die bürgerlichen Schichten basiert auf deren Versprechen, die "vergessene Mittelschicht" in Deutschland wieder zu stärken, also das Sammelbecken jener "Leistungsträger", die es schon geschafft haben, und jener, "die einsteigen statt aussteigen wollen". Die FDP "ist der Anwalt der Mitte der Gesellschaft. (...) Sie ist vor allem eines: eine Grundhaltung. Für sie sind Leistungsbereitschaft, Fleiß, Aufstiegswille keine Fremdwörter. Ihr Denken in Generationen und sozialen Zusammenhängen, ihr Verantwortungsbewusstsein und ihr Fleiß, ihre Eigenverantwortung und der starke Leistungswillen sind das Fundament unserer Gesellschaft. Die FDP ist der Partner der Mitte." (FDP-Wahlprogramm)

Diese "Mitte" hat vor gut zehn Jahren rund zwei Drittel der Gesellschaft ausgemacht. Heute sind es noch knapp über die Hälfte der BürgerInnen. Vor allem durch erneute massive Steuersenkungen und die Privatisierung weiterer Teile der sozialen Sicherungssysteme verspricht die FDP die Stabilisierung dieser sozialen Schichten.

Mit diesem Programm ist die FDP – und hier wirkte die Krise als Katalysator – zum Sprachrohr auch jener geworden, die sich als "Opfer" der Berliner Republik sehen, gegen die das Vorurteil einer "Verteiler-" vs. "Leistungsgesellschaft" reaktiviert wird. Der Zuspruch, den die Partei erfahren hat, ist deswegen keineswegs nur als Votum arrivierter und gesättigter Wählergruppen zu verstehen. Es ist vielmehr Votum sowohl jenes Kleinbürgertums, das in der Krise unter Druck gerät (übrigens auch durch jene von den Banken zu verantwortende Kreditklemme), als auch der vermögenden Klassen, die darauf aus sind, ihre Eigentumsposition bei den anstehenden Aufräumarbeiten der Krise zu verteidigen.

Das vorläufige Festhalten der schwarz-gelben Koalition an einer eher staatsinterventionistischen Linie ist für den freidemokratischen Club – und den Wirtschaftsflügel der Union – schwer zu ertragen. Die Penetranz, mit der die Partei der Vermögenden und verängstigten Kleinbürger das Mantra von der Beglückung durch Steuersenkung vorträgt, hat die übrigen Koalitionäre schon bis in die Haarwurzeln genervt. Und auch eine deutliche Mehrheit der WählerInnen ist angesichts der dramatisch leeren öffentlichen Haushalte vom ungenierten kreditfinanzierten liberalen Griff in die Staatskassen keineswegs begeistert.

Zudem kann die FDP auch bei der Umstellung der Finanzierung des Gesundheitssystems auf ein Kopfpauschalenmodell nicht punkten. Der Versuch, die als Folge der noch von der schwarz-roten Bundesregierung auf den Weg gebrachten Gesundheits"reform" jetzt erhobenen Zusatzbeiträge als Plädoyer für die Einführung der Kopfpauschale zu nutzen, kommt beim Wahlvolk nicht gut an. Die sinkende Zustimmung ist in einen beschleunigten Fall übergegangen, seit öffentlich wurde, dass die FDP sich ihren Einsatz fürs Hotelgewerbe mit einer Parteispende von einer Million Euro von der Hotelkette "Mövenpick", einem in der Branche engagierten Ableger des Firmenimperiums des August Baron von Finck, hat versüßen lassen.

Der Bundesrechnungshof hat moniert, dass die neue Bundesregierung, vorneweg erneut die FDP, besonders kreativ bei der Schaffung von Sinekuren ist. Ein langjähriger Weggefährte von Wirtschaftsminister Brüderle wurde auf den Posten eines "Kreditmediators" gehievt, der Streitigkeiten zwischen Banken und Unternehmen schlichten soll. Für die acht Mitarbeiter in dessen Büro sind Monatsgehälter von 15.000 Euro eingeplant. Ein "Geschmäckle" hat auch, dass der frühere Generalsekretär Dirk Niebel in Oppositionszeiten die Abschaffung des Entwicklungshilfeministeriums gefordert hatte, sich dann aber in der schwarz-gelben Koalition mit den Insignien ministerieller Würden an der Spitze eben dieses Ministeriums ausgestattet hat.

Die hektischen Versuche des Führungspersonals der Freidemokraten, dem auch im Hinblick auf die NRW-Wahl gefährlichen Stimmungsumschwung durch Korrekturen am Hotel-Lobby-Gesetz zu begegnen, haben den "schrecklichen Ansehensverlust" (Gerhart Baum) der "Liberalen" eher verstärkt denn begrenzt. Das Image einer Klientelpartei wird die Partei so schnell nicht mehr los.

Die Streithammel in der bürgerlichen Koalition kommen allerdings nicht nur aus der FDP. Da versucht sich die CSU als Gegenpol zur FDP vor allem in der Frage des Gesundheitssystems, bewegt sich allerdings vor dem Hintergrund des in Bayern besonders massiven Wirtschaftseinbruchs (-6,6% im ersten Halbjahr 2009) und dramatisch sinkender Steuereinnahmen in Richtung 40-minus-x%Partei und verliert damit weiter an bundespolitischem Gewicht.

Die CDU-Landesregierungen wehren sich gegen zusätzliche Belastungen durch die Bundespolitik. Was da zu erwarten ist, darauf hat die Auseinandersetzung um das "Wachstumsbeschleunigungsgesetz" einen ersten Vorgeschmack gegeben. Die Bundesarbeitsministerin Ursula von der Leyen möchte den Begriff (nicht etwa den Tatbestand der sozialen Drangsalierung) "Hartz IV" am liebsten aus dem öffentlichen Wortschatz tilgen, während ihr hessischer Parteikollege Roland Koch gerne mit dem Ressentiment vom Hartz IV-Nassauer Politik macht, um den rechten Rand bei der Stange zu halten. Gleichzeitig steppt der Bär in Sachen Energiepolitik. Der Festlegung von Umweltminister Norbert Röttgen, bis spätestens 2030 alle Atomkraftwerke vom Netz zu nehmen und damit den zeitlichen Endpunkt der "Brückentechnologie" Atomenergie festzulegen, trifft sofort auf den heftigen Widerstand der CDU-Ministerpräsidenten Koch und Mappus sowie Seehofer, in deren Bundesländer die meisten Atommeiler stehen.

Welche Linie sich wann im bürgerlichen Lager durchsetzt, wann der Übergang zu einer Exit-Strategie stattfindet, hängt nicht zuletzt auch von der weiteren wirtschaftlichen Entwicklung ab. Sicher dürfte die zwangsläufige Enttäuschung mindestens von Teilen der WählerInnen dieser Koalition sein. Dies trifft auch und vor allem auf die in die FDP große Hoffnungen setzende kleinbürgerliche Klientel zu. Dann droht eine Situation, wo das bürgerliche Lager jede Reformfähigkeit verliert und selbst minimale Schritte in Richtung mehr sozialer Inklusion blockiert sind.

Hamburgs regierender Bürgermeister Ole von Beust hat darauf warnend hingewiesen. "Es kann nicht sein, dass die Wohlhabenden sich nur um ihre Interessen kümmern und diejenigen, die in einer schwierigen Situation leben, nicht einmal mehr die Hoffnung oder die Chance haben, dass es besser werden kann." Konkreter Anlass: Die schwarz-grüne Koalition versucht in Hamburg eine Schulreform mit einer sechsjährigen gemeinsamen Primarschule als Kern. Diese Reform ist nach Ansicht von von Beust für den sozialen Zusammenhalt unverzichtbar. Dagegen opponieren vor allem Eltern aus den oberen sozialen Milieus, und mit ihnen die FDP und Teile der CDU. Sie haben in einem Volksbegehren 180.000 Stimmen gesammelt, sodass nun über die Reform im Sommer in einem Volksentscheid entschieden werden muss.

Der Versuch Guido Westerwelles und der FDP, die Enttäuschung über die in sie gesetzten Erwartungen durch Rückgriff auf den "Instrumentenkasten eines ›Extremismus der Mitte‹" (Franz Walter) aufzufangen, ist deshalb ein gefährliches Spiel. Die Pose des Sprechers der "schweigenden Mehrheit", des Mannes der starken Worte, der sich durch Auflagen einer Political Correctness in seiner Mission nicht aufhalten lässt und der es wagt, den permanenten Missbrauch der Sozialsysteme auf Kosten der Leistungsträger beim Namen zu nennen und die "Einheitsschule" als leistungsfeindlich zu entlarven – all das sind probate und anderswo erfolgreiche Mittel des europäischen Rechtspopulismus.

Ob die FDP und ihr "Führer" Westerwelle an der Spitze einer solchen Bewegung der "entrüsteten Mitte" marschieren können, ist angesichts ihrer Verstrickung in klientelistische Strukturen zweifelhaft. Die Liberalen könnten aber gleichwohl mit ihrem ressentimentgeladenen "Mitte-Diskurs" – wie z.B. in den Niederlanden oder Österreich – auch in Deutschland zum Durchlauferhitzer eines neuen Rechtspopulismus werden.

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