1. September 2001 Fritz Fiehler

Stichwort: Konjunkturzyklus

»Jedesmal, wenn wir das heutige Gleichgewicht durch vermehrte Investitionen sichern«, schreibt John Maynard Keynes, »verschärfen wir die Schwierigkeit der Sicherung des Gleichgewichts von morgen.« Die Rede ist von industrieller Erneuerung, Infastrukturprojekten und dem Baugewerbe.

Zunächst würden derartige Investitionen, heißt es in der »General Theory«, für Beschäftigung und Einkommen sorgen. Und diese wirtschaftliche Belebung würde sich wellenförmig ausbreiten. Dennoch sei damit eine darauf folgende Flaute nicht zu vermeiden. Diese käme dann mit einem Mangel an Aufträgen und einem finanziellen Überfluss daher. Während man sich über diesen realwirtschaftlichen Zyklus kaum Gedanken mache, ist in der »General Theory« weiter nachzulesen, werde in der Finanzpolitik eine ganz andere Rechnung aufgemacht. »Es ist eine bemerkenswerte Sache, dass die übliche Meinung sich dieser unausweichlichen Schwierigkeit nur bewusst zu sein scheint, wenn es sich um öffentliche Investition handelt, wie im Falle von Straßenbauten, Häuserbauten und dergleichen.«

Die Schwierigkeit der Sicherung des künftigen Gleichgewichts lässt sich für Keynes nicht auf ein »deficit spending« beschränken. Die angeführte Stelle widerspricht dem Werk vom Hören und Sagen. Sie ist auch himmelweit von einer »Politik der ruhigen Hand« entfernt, die mit der Gestaltung von »Anreizstrukturen« einen »real-business-cycle« begleiten will. Vielmehr hat Keynes das Problem des industriellen Zyklus benannt. Was zwingt uns eigentlich in diesen »Mechanismus«, der mit dem Herdentrieb der Investoren unzulänglich umschrieben wäre? Mit seiner Fragestellung trägt Keynes einer Hypothese Rechnung, die Marx im »Kapital« wie folgt formuliert hat. »Durch diesen eine Reihe von Jahren umfassenden Zyklus von zusammenhängenden Umschlägen, in welchen das Kapital durch seinen fixen Bestandteil gebannt ist, ergibt sich eine materielle Grundlage der periodischen Krisen, worin das Geschäft aufeinanderfolgende Perioden der Abspannung, mittleren Lebendigkeit, Überstürzung, Krise durchmacht. Es sind zwar die Perioden, worin Kapital angelegt wird, sehr verschiedene und auseinanderfallende. Indessen bildet die Krise immer den Ausgangspunkt einer großen Neuanlage. Also auch - die ganze Gesellschaft betrachtet - mehr oder minder eine neue materielle Grundlage für den nächsten Umschlagszyklus.«

Das mag für die Zeit von Marx und auch noch für die von Keynes der Fall gewesen sein, wird man einwenden wollen. Aber ist die Erwägung von Umschlagszyklen noch in einer Gesellschaft anzustellen, deren Erwerbstätige sich überwiegend im Dienstleistungsbereich befinden? Zunächst ist an den Sinn der zitierten »materiellen Grundlage« zu erinnern. Wenn sich Marx in diesem Passus auf die Bestimmungen des fixen Kapitals bezieht, dann hat er erstens einen Produktionsapparat vor Augen. Für seine Bestandteile muss Geld vorgeschossen werden, dessen Rückfluss nur nach und nach zu erwarten ist. Dabei sind die Unternehmen gehalten, für eine ständige Auslastung ihrer Kapazitäten zu sorgen. Damit hat sich das Kapital eine spezifische Produktionsweise geschaffen, die ihm wiederum eine zyklische Reproduktion aufherrscht. Entsprechend beschreibt Keynes den »double bind« der Markterwartungen: Mit dem Klotz getätigter Investitionen am Hals optimistisch an eine Zukunft heranzugehen, die sich durch Unsicherheit auszeichnet.

Marx unterscheidet den Umschlag des fixen Kapitals von dem seiner zirkulierenden Bestandteile. Danach müssen aus den Erlösen wenigstens Löhne und Lieferungen bezahlt werden können. Dabei stellen die monatlich zu zahlenden Einkommen nicht nur einen erheblichen Posten dar, sondern mit ihnen ist auch die Schöpfung von Wert und Mehrwert verbunden. Insofern schließt diese Reproduktionstheorie völlig unterschiedliche Umschläge ein, deren Vermittlung auf zuschüssigem Geldkapital basiert. Diese Umschlagsstruktur widerspricht der von dem Nationalökonomen Gottfried Haberler unterstellten »Parallelität von Geld- und Güterströmen«. Nach Marx kann dieser wertmäßige Ausgleich erst in einem Umschlagszyklus hergestellt werden. Drittens gehört die Bildung latenten Kapitals (Geldkapital, Produktionskapazität, Lager) und die Produktion einer »menschlichen Reserve« zur Umschlagsthese. Viertens hat Marx die von den Ökonomen konstatierten Zeitverzögerungen (»lags«) auf den Begriff gebracht. Auf die Bildung disponiblen Kapitals hat Keynes sich mit seiner Liquiditätspräferenz einen Reim zu machen versucht. Diese Spekulation hätte Marx etwas sagen können, weil er seine Umschlagszyklen - in unserer Aufzählung wäre das der fünfte Gesichtspunkt - für Marktformen, Unternehmensverfassungen und Banksysteme offen gehalten hat. Die Antwort auf die Frage, was die Unternehmen in materielle Reinvestitionszyklen zwingt, lautet nach Marx: In diesen Mechanismus zwingt sie die Konkurrenz. Und in der Konkurrenz macht sich wiederum die kapitalistische Selbststeuerung geltend, nämlich die Profitrate.

Wie eine Prosperität die Gründe für Krise und Depression schafft, ist in den späten 20er Jahren gezeigt worden. Die Weltwirtschaftskrise (1929-1933) brach in den Vereinigten Staaten von Amerika aus und erfasste alle anderen Länder. Dabei hatte sich die »wirksame Nachfrage« nicht nur als Grenze für die Prosperität erwiesen, sondern durch ihre Schwäche hat sie die Depression qualvoll in die Länge gezogen. Den letzten Grund einer Krise erblickt Marx in den antagonistischen Verteilungsverhältnissen, »welche die Konsumtion der großen Masse der Gesellschaft auf ein nur innerhalb mehr oder weniger enger Grenzen veränderliches Minimum reduziert.« »Ferner, je reicher das Gemeinwesen«, schreibt Keynes, »um so größer die Neigung, dass sich die Kluft zwischen der wirklichen und potentiellen Erzeugung erweitert und daher um so augenscheinlicher und empörender die Mängel unserer wirtschaftlichen Ordnung.« Es sind vor allem zwei Lehren gewesen, die in der neuen und alten Welt gezogen worden sind. Erstens hatte die Krise die Notwendigkeit einer Wohlfahrt unterstrichen. Entsprechend sind die 30er und 40er Jahren zu Ausgangspunkten der von Gösta Esping-Andersen typisierten Wohlfahrtsregime geworden. Zweitens hatte die Krise Zentralbanken die Notwendigkeit liquide gehaltener Geschäftsbanken vor Augen geführt. Zwar haben sich die Gewerkschaften in ihrem Kampf für Vollbeschäftigung nicht durchzusetzen vermocht, dennoch sind aus diesen Auseinandersetzungen wirtschaftspolitische Berichterstattung und gesamtwirtschaftliche Rechnungswesen hervorgegangen. Dank dieser Buchführung hat die Gesellschaft eine Vorstellung davon entwickelt, wie ihr Reichtum jährlich geschaffen und verbraucht wird. Daran orientieren sich die Verteilungsverhältnisse.

Die kapitalistische Akkumulation verläuft in zyklischer Form. Ihrer Regelmäßigkeit liegt nach Marx ein zentraler Umschlagszyklus zugrunde. Seine Kenntnis macht die Unterscheidung von Reproduktionsverläufen erforderlich. Der Konjunkturverlauf unterliegt Wechselwirkungen. »Ganz wie Himmelskörper, einmal in eine bestimmte Bewegung geschleudert, dieselbe stets wiederholen«, beschreibt Marx, »so die gesellschaftliche Produktion, sobald sie einmal in jene Bewegung wechselnder Expansion und Kontraktion geworfen ist.« Eine Konjunkturanalyse setzt die wirkliche Konstitution der Gesellschaft voraus, weshalb sie sich auf das Zusammenspiel von Bewegungsgesetzen und Kräfteverhältnissen einlassen muss. Dazu gehört auch die von Keynes zitierte Überzeugung des Mannes auf der Straße. Die Analyse von Konjunktur und Krise, das hat Marx in seinen Schriften über Frankreich unter Beweis gestellt, ist das Instrument der Deutung einer sozialen Situation. Da Marx den industriellen Zyklus als Exekutor strukturellen Wandels und finanziellen Ausgleichsprozess begreift, gliedert er Aufschwung und Abschwung in die Phasen der mittleren Lebendigkeit, Produktion unter Hochdruck, Krise und Stagnation auf. Diese Phasen zeichnen sich ihm durch wechselnde Konstellation aus. Als Abschnitt eines Akkumulationsverlaufes übernimmt jeder Zyklus die Hypotheken seiner Vorgänger und gibt auch solche an seine Nachfolger weiter.

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