1. Juli 2005 Oskar Negt

Streiter für politisch-öffentliche Urteilskraft

Es wäre vermessen, in einem Nachruf für Jürgen Seifert jene Persönlichkeitszüge treffen zu wollen, die Trostgrund für die ihm Nahestehenden sind und gleichzeitig seinen öffentlichen Rang erklären. Wie jemand das geworden ist, um dessen schmerzlichen Verlust wir trauern, mag jedoch auf Interesse der Überlebenden stoßen. So ist die redlichste Form wohl die des höchstpersönlichen Blicks.

Es sind jetzt über 40 Jahre her, als Jürgen Seifert und ich uns kennenlernten; die Situation, in der das geschah, ist nicht mehr in meinem Gedächtnis. Was geblieben ist, ist freilich die beglückende Erfahrung einer ganz und gar gelungenen Beziehung; denn Jürgen Seifert gehört zu jener kleinen Zahl von Menschen, mit denen ich nicht nur persönlich, sondern auch politisch über alle Brüche und gesellschaftlichen Verwerfungen hinweg eine absolut verlässliche und haltbare Freundschaft bewahren durfte. Das ist, um es jetzt in einer Art Lebensbilanz festzuhalten, umso erstaunlicher, als es doch sehr verschiedene Charaktere und Temperamente gewesen sind, die hier auf kooperationsfähiges Niveau zu bringen waren.

Jürgen Seifert verstand sich zwar gerne als Friedensrichter und ist es wohl in vielen Fällen auch gewesen, aber keineswegs war er ein leidenschaftsloser Mensch, vielmehr impulsiv und manchmal mit Wutausbrüchen, bei denen die Umstehenden erschraken, die jedoch in ihrer cholerischen Hitze nie verharrten, sondern immer in der allmählichen Abkühlung ein Angebot für einvernehmliche Klärung sachlicher Differenzen hatten. Wer ihn etwas länger kannte, konnte sich mit der Gewissheit aus solcher Wutarbeit entfernen, die Beziehung nicht aufgekündigt zu empfinden.

Etwas von dieser Willenskraft, spontan aufzusprengen, was sich unter der Alltagsdecke zu normalisieren und an Protestenergien zu zerfasern drohte, und durch Konzentration auf ein Ziel zu richten, muss sehr früh in Seiferts Charakterprägung eingegangen sein.

Charakter heißt ja im Griechischen: das Eingegrabene, Eingeprägte, mit scharfen Gegenständen Eingeritzte. Die Griechen sahen sehr wohl, dass in solchen Charakterprägungen auch erlittene Gewalt steckt.

Wer hat hier eingeritzt, wie entsteht ein so verlässlicher und in seiner Integrität, selbst in prekären Grenzsituationen, nie wirklich angezweifelter politischer Charakter?

Wenige Jahre in der Differenz von Geburtsdaten können entscheidende Abweichungen in den Erfahrungslinien bestimmen, die dann auch (manchmal sogar in traumatischer Fixierung) weiterwirken. Der 1928 geborene Jürgen Seifert hat doch viel mehr von den versteckten, aber auch sichtbaren Verbrechen des Systems mitbekommen oder geahnt, zumal ja sein Vater Beamter im Reichssicherheitshauptamt war, als ich, der doch nur wenig jünger ist. So spielt der Faschismus als Aufarbeitungshypothek in dem bildungshungrigen jungen Mann eine unvergleichlich größere Rolle für die eigene Identitätsfindung als für die, die nur fünf oder sechs Jahre später geboren sind, die Opfererfahrungen mitbrachten, aber zu jung waren, um die von den Nazis ausgehende Faszination Teil ihres Inneren werden zu lassen.

Etwas in Jürgen Seiferts Kinder- und früher Jugendwelt muss in seinen Werdegang der Persönlichkeitsbildung eingeritzt worden sein, was Erfahrungserweiterung ermöglicht; es ist ja nicht so, dass man als vorurteilsfreier Mensch geboren wird. Viele Vorurteile schleppt man sein Leben lang mit, selbst wenn man der festen Absicht ist, sie in ihren Auswirkungen unter Kontrolle zu haben. Nicht Vorurteile sind das Problem, sondern ob man sich Werkzeuge schafft, sie zu bearbeiten oder so zu lassen, wie sie sind. Vielleicht ist es ein aufbewahrter Kinderglaube, der jenem Staunen zugrunde liegt, von dem die griechischen Philosophen das Erkennen ausgehen sehen. Diese Seite Seiferts hat mich bei der Durchsicht seiner Kladden und Hefte, deren Einsicht mir seine Lebensgefährtin Mechthild Rumpf ermöglichte, aufs Äußerste verblüfft.

Es sind Aufzeichnungen, Zitatsammlungen, Kommentare, eigene Gedichte, Aphorismen – alles in einer Niederschriftform des begierigen Aufgreifens von Weltkenntnis. Das alles macht den Eindruck, als seien es Embryonen von Büchern. So ist eine Sammlung mit "Schnitzeljagd" bezeichnet, die andere, von 1958, mit "Unterm Wolfspelz". Sein erstes in dieser Art verfasstes Buch heißt: "Meine Heimat" J. Seifert. Das ist das Cover, auf der ersten Seite heißt es: Mein Heimatbuch. Und es beginnt mit der Botschaft dieses Buches (übrigens alles in Sütterlinschrift): "Was das Büchlein spricht: Halte mich schön sauber und hebe mich sorgfältig auf. Wenn du groß bist, wirst du deine Freude an mir haben. Ich erzähle dir von deiner Heimat. Du, deine Heimat ist schön!"

Im Nachhinein eines Lebens kann man sich in vielfältigen Deutungen ergehen; ich will das nicht tun. Als ich allerdings dieses erste "Buch" gelesen hatte, kam mir in Erinnerung, dass die Nazis von solchen den Kindern aufdiktierten Büchern erwarteten, dass sie über Eltern und Vorfahren Auskunft geben, um rassische Merkmale besser identifizieren zu können. Gewiss ist dieses erste "Buch" nicht aus freiem Willen des Achtjährigen entstanden; vielmehr ist es die Form dieses kleinen Büchleins, die mich erstaunt hat und die kaum von einem Elternteil hat diktiert werden können. Es ist ein sorgfältig eingebundener Text, akkurates Inhaltsverzeichnis von 86 Seiten, 45 Kapiteln. Jedes Kapitel bekommt im Inhaltsverzeichnis eine Seitenzahl zugeordnet. Am Anfang stehen die Deutschen Fest- und Gedenktage. An erster Stelle 20.4.36 unser Führer 47 Jahre alt. 1.8.36 bis 16.8. die 11. Olympischen Spiele. Das ist den einzelnen Abschnitten vorausgestellt. Dann kommen die Eltern. Dann kommt der zweite Abschnitt von der Heimat und der dritte vom Himmel. Der vierte Abschnitt handelt von "Was ich von der Sonne weiß", der fünfte Abschnitt "Der Mond". Ich weiß, dass es nicht wegweisend in einem Lebenszusammenhang gedeutet werden darf, der aus nachträglicher Perspektive betrachtet wird. Was mich irritiert, ist etwas ganz anderes. Die Art und Weise, wie Jürgen Seifert diese kleinen Büchlein gestaltet hat, zum Teil in Leder gebunden, mit Außenansichten, die Büchern ähneln – darin unterscheidet sich das kleine Büchlein "Mein Heimatbuch" überhaupt nicht von den Kladden, die von ihm später als Selbstverständigungsnotizen in den Jahren des Studiums in Münster gemacht worden sind.

Einen Kinderglauben hat Jürgen Seifert sich bewahrt – er konnte mit Kindern gut zurecht kommen, so ungeduldig er manchmal gegenüber Erwachsenen war, in so strapazierfähiger Geduld verhielt er sich gegenüber Kindern. Er war darauf auch stolz, wie ich zur Genüge aus dem von ihm in Gemeinschaft mit seiner ersten Frau Monika[1] mitbegründeten Kinderladen Eschersheimer Landstraße (Frankfurt a.M.), im eigenen Haus, erfahren konnte. Es gab Situationen, wo die Kinder an seinem Erwachsenenstatus zweifelten: Muss der denn wie ein Dreijähriger herumkrabbeln, wo er doch viel älter ist! Das hat ihm überhaupt nichts ausgemacht. Er genoss es. Und in seinem Lebensbericht ist davon die Rede, dass Wolfgang Abendroth, wenn er die Seiferts besuchte und (was nahe lag) ernsthafte politische Gespräche in Ruhe führen wollte, die situationsgebundene Ernsthaftigkeit sehr schnell begriffen hatte, dass er zuerst als Pferd die Runde machen musste, mit Anna auf dem Rücken, um dann in Ruhe reden zu können. Das mag sich nicht als Vorbild eignen, aber für Jürgen Seifert war das eine Alltagserfahrung, auf die er sich komplett eingelassen hat.

Seine Beziehung zu Kindern ist ein ganz eigenes Kapitel; es ist ja nicht nur die breite Sammlung von Kinderbüchern, die ihm das Ansehen eines Sammlers verschafft. Ein gutes Verhältnis zu Kindern zu haben bedeutet vielleicht nicht viel. Aber Jürgen Seifert war der Überzeugung, dass kindliche Kreativität den Erwachsenen eine Welt öffnet, die ihnen sonst verschlossen bliebe. Wenn man sich nur auf die Individualität der Kinder einlassen könnte, und zwar ganz vorbehaltlos, dann wäre das eine erfolgreiche Schatzsuche, wie es sie manchmal auch im Märchen gibt. Jürgen Seifert hat sich auf jedes einzelne seiner Kinder, auf Felix, Anna, Tatjana und Fyn voll und ganz eingelassen (selbst wenn ihm die von der Öffentlichkeit gestohlene Zeit häufig nur enge Spielräume ließ). So ist Felix ihm zum technologischen Lehrmeister geworden. In der Glocksee-Schule[2] hat er sich als Elternvertreter Verdienste erworben und in vielen Querverbindungen die Entwicklung seiner Kinder mit dem verknüpft, woraus sich die kleinen Gemeinwesen der Kinderkollektive gestalten. Und das gilt genauso für das begleitende Interesse, mit dem er Tatjanas Lebensweg begleitete und förderte – und dem jüngsten Sprössling, Tatjanas Sohn Fyn, vermochte er mittlerweile auch im Status des Großvaters mehr als Lebensweisheiten mit auf den Weg zu geben. Man kann schon sagen, dass Jürgen Seifert zu jedem seiner Kinder eine ausgeprägt eigene Beziehung hatte, weil er ein auf Kommunikation angewiesener Mensch war, also auch den Austausch von Gefühlen und Gedanken mit seinen Kindern als wichtigen Teil seiner eigenen Lebensproduktion betrachtete.

Signalisiert das Kontinuität im Verhalten und im Denken? Ja, in bestimmten Grundzügen und vor allem der lebendigen Verarbeitungsfähigkeit von menschlichen Krisensituationen durchaus. Die kleinen Kladden, wie gedankliche Poesiealben gebunden, enthalten durchaus Aufzeichnungen, die schon sehr früh dieses Bedürfnis nach Festigung der Weltsicht im Erfahrungsalltag zeigen.

Darin liegt, wie ich es sehe, ein Prinzip seiner Lebensgeschichte begründet, eine besondere Art des Maßverhältnisses, ja eine eigentümliche Dialektik, welche die Spannweite seiner Existenzweise zum Ausdruck bringt. Gewiss, der bedeutende Verfassungsjurist steht im Zentrum seiner öffentlichen Anerkennung und es wäre abwegig, seine hohe juristische Professionalität aus dem politischen Kampf um Verfassungspositionen, der immer auch das gesellschaftliche Machtgefüge und die Legitimationsgründe der Rechtsetzung betraf, wegzudenken. Das allein ist es aber nicht, was den philosophischen Juristen in der Tradition von Gustav Radbruch, Otto Kirchheimer und Fritz Bauer auszeichnete.

Was Jürgen Seifert unverwechselbar macht, ist ein anderer Zug dieses politischen Intellektuellen mit juristischer Grundkompetenz.

Schon in seinen Selbstverständigungskladden der Münsteraner Zeit bekommt ein Satz Heraklits die Wendung, um die Verfassung müsse man kämpfen wie um den Erhalt einer Stadtmauer, d.h. allen Willen daran setzen, räuberische Feinde abzuwehren. Bei Heraklit heißt es Gesetz, Jürgen Seifert verwandelt das mit guten Gründen in Verfassung. Aber ein solcher öffentlicher Kampf um Verfassung, dem er einen hohen Rang zuweist, kann in langen Fristen nicht gelingen, wenn in den gesellschaftlichen Näheverhältnissen zu wenig Arbeit auf den Beziehungsreichtum gewendet wird. Jürgen Seifert hat deshalb den Kampf um Verfassungspositionen, der, wie er betont, mit "nüchterner Leidenschaft" zu führen sei, mit derselben Ernsthaftigkeit und Umsicht betrieben wie die Gründung eines Kinderladens. Es ist in seinem Blick keine Hierarchie der Wertigkeit, denn Besonderes und Allgemeines haben einen eigentümlichen Lebenszusammenhang. Nähe und Distanz und die ihnen innewohnenden Verhältnisse gehören zu jener beziehungsreichen Einheit, die nur durch Gewalt auseinanderzusprengen ist. Das mag in seinem eigenen Lebenszusammenhang nicht immer idealtypisch ausgewogen gewesen sein – wo wäre das schon!

Aber die Gewissheit, dass menschliche Kraftquellen, die sich der Nähe der eigenen Kinder, der Liebesbeziehung, der Freundschaft verdanken, auch für die Beackerung jenes Feldes unverzichtbar sind, auf dem um das Allgemeine, den Gattungszusammenhang ebenso wie die Unversehrtheit des Gemeinwesens, gerungen wird – diese Gewissheit reicht bis in Grenzsituationen von Kindheit und Jugend zurück.

Was Verführung bedeutet, worin instrumenteller Missbrauch der eigenen Gedanken und Gefühle besteht – da hat sich bei Jürgen Seifert eine Idiosynkrasie entwickelt, eine gleichsam instinktgeleitete Abwehr, die einer Immunschranke gleichkommt. Er konnte den Menschen, in dem, wie sie auftraten und etwas äußerten, ansehen, ob sie sich als politische Menschenfänger betätigten, die Folgebereitschaft für ihre Zwecke erzeugen wollten. Ich habe keinen Menschen gekannt, der über ein ähnliches Sensorium verfügte.

Verführung und instrumenteller Missbrauch sind deshalb auch zentrale Themen seiner politischen Philosophie. So sind die Verführten (oder auch die sich selbst Verführenden, wie Ulrike Meinhof) immer bevorzugte Objekte seiner Erkenntnisneugierde gewesen. Immer wieder, bis in die letzten Publikationen hinein, ist Carl Schmitt, dieser anregende und gleichzeitig anrüchige Rechtsgelehrte, Objekt seines Nachdenkens gewesen. Schon in seinen Münsteraner Selbstverständigungskladden spielt dieser rechtskonservative Block, an dem er sich reibt, eine zentrale Rolle. Und dabei vor allem Carl Schmitts Definition des Politischen als der Herstellung konkret erlebbarer Freund-Feind-Verhältnisse.

Das ist, wie Jürgen Seifert unentwegt betont hat, eine tödliche Konfrontationsdefinition für ein demokratisches Gemeinwesen; wenn dieses seine eigene Identität nur durch Ausgrenzung der Anderen und der Fremden gewinnen kann, also durch eine strikte Feinddefinition, kann sich auch kein innerer Friedenszustand bilden. Zwar hatte Carl Schmitt eine subtile Unterscheidung zwischen öffentlichem Feind und privatem Feind gemacht. Wie immer bei ihm, in Rückbindung zur römisch-griechischen Definition; denn die Griechen unterschieden zwischen Echthrós und Polémios, was praktisch die Unterscheidung zwischen persönlichem Feind und Kriegsfeind bedeutete. Die Römer unterschieden zwischen Hostis, also öffentlichem Feind, und Inimicus als dem hassenswürdigen privaten Feind. Aber was heißt das schon? Für Carl Schmitt ist der Freund eine unpolitische Figur, für Jürgen Seifert eine hochpolitische. Ja, man kann sogar so weit gehen, dass die Politisierung der Freund-Figur ein wesentliches Element der Selbstfindung dieses politischen Intellektuellen ist.

Immer wenn Carl Schmitt Thema war, öffentlich oder in privaten Kreisen, merkt man Seifert die innere Erregung an, den Protest gegen diese Verarmung des Politischen und die Verdrehung des Wesensgehaltes von Feindschaft ebenso wie von Freundschaft. Jürgen Seifert rückt beide in ihrer jeweiligen politischen Dimension zurecht. Er sagt: "Die Behandlung des Gegners als Feind eliminiert den emanzipativen Gehalt einer sozialen Bewegung." Feindfixierung schließt Lernprozesse aus; sie gehören in das Arsenal von Vorurteilsbildung und legen Menschen auf unveränderliche Merkmale fest. Es ist aber gerade die Kraft der Erfahrungserweiterung, die den politischen Intellektuellen Jürgen Seifert auszeichnet.

Das mag einer der Gründe dafür sein, dass seine Interventionen überwiegend in Grenzbereichen von Gefährdungen stattfinden, es sind im buchstäblichen Sinne Notstandsaktionen – er selbst sprach manchmal, mit einem gewissen Anflug von Stolz, vom "Notstandsseifert". "Wo Gefahr ist, wächst das Rettende auch", dem Hölderlinschen Satz hätte er sehr viel Sympathien entgegenbringen können; ich kenne keine Äußerung dazu.

Aber die Aktionsfelder in solchen Grenzsituationen, ob es sich nun um den Kampf gegen die Notstandsgesetze, um die Interventionen für Peter Brückner oder andere Eingriffe handelt, haben für ihn stets den Sinn gehabt, das Politische aus der Staatsfixierung zu lösen und zum Medium einer tagespolitischen Urteilsbildung zu machen. Gerade das unterscheidet ihn von Carl Schmitt, der mit dem neuen "Nomos der Erde" immer auch die unterhalb der Rechtsebene legitimierte Gewalt ursprünglicher Besitzergreifung und der Herstellung von Raumhoheit meinte. Niemand innerhalb der demokratischen Linken hat eine so intime und so umfassende Kenntnis der rechtskonservativen Denkweisen gehabt wie Jürgen Seifert.

Zitate über Zitate von Arnold Gehlen, Heidegger, Carl Schmitt oder Ernst Jünger, und in allen steckt die Frage: Wie ist es möglich, dass Philosophen, Juristen, Schriftsteller dieser Produktivität und gedanklichen Reichweite der Faszination eines Verbrechensregimes anheimfallen konnten? Worin besteht der Konstruktionsfehler in diesen Biografien?

Das Thema ist schon angeschlagen in jenem denkwürdigen Studentenreferat vom 28. Januar 1955 in der Münsteraner Ratsschenke mit dem Titel: "Dezision und Nomos in Nachkriegsschriften Carl Schmitts."

Denn "Nomos der Erde" steht für ein Element der Rechtsbeugung und der gewalttätigen Umverteilung der Welt. Deshalb verteidigt Seifert, selbst kein Positivist im Rechtsdenken, mit so viel Leidenschaft und professioneller Kompetenz Rechtspositionen, die er nicht durch irgendwelche Legitimitätsvorstellungen aufweichen möchte. Zwar ist Naturrechtsdenken in seinen Gerechtigkeitsvorstellungen enthalten, sobald aber zu vermuten ist, dass in der Naturrechtsvorstellung von Gerechtigkeit Elemente in die Positivierung von Recht eingegangen sind, wird er zu einem entschiedenen Verteidiger positiven Rechts. Das ist auch unter Juristen eine eher querliegende Position. Der politisch Gebildete, philosophisch in jeder Hinsicht Informierte und der politischen Wissenschaft akademisch verpflichtete Jürgen Seifert liegt absolut quer zu den akademischen Disziplinen. Ihn Querdenker zu nennen, wäre ihm gewiss nicht akzeptabel erschienen. Denn der Rechtsgehalt des Rechts, wie Gustav Radbruch die Leitlinie rechtswissenschaftlichen Denkens formuliert hat, wäre ihm immer in den Sinn gekommen, wenn es ihm um die Deutung einzelner Gesetze gegangen wäre.

Ist so der mit braunem Gedankengut verquollene Block rechtskonservativer Philosophie der bedrohliche Hintergrund von Seiferts politischer Sozialisation, in der er sich Schritt für Schritt aus selbstverschuldeter oder auch fremdverschuldeter Unmündigkeit herausarbeitet, so stellt sich mir doch die Frage: Sind diese Denker vielleicht doch nur Stellvertreter – will er an diesen verstehen, was ihm an seinem Vater, einem hohen Beamten des Reichssicherheitshauptamtes, unverständlich geblieben ist; einem gewiss geliebten und geachteten Menschen, der ihm das offene Wort jedoch bis zu seinem Lebensende verweigert. Wie tief und fortwirkend diese Wunden sein können, wenn es nicht zu dem kommt, was Jürgen Habermas als "kooperative Wahrheitssuche" bezeichnet, zeigt Jürgen Seiferts große Erregung, als er den Speer-Film gesehen hatte. Hier hat einer seine hohe technische Intelligenz in stets vorauseilendem Gehorsam in den Dienst eines niederträchtigen Systems gestellt und durch nachträgliche Lebenslügen noch den Anschein des Widerstandes zu erzeugen versucht. Das erschien ihm besonders verachtenswürdig.

Jürgen Seifert gehört zu der nicht besonders großen Zahl von politischen Intellektuellen, die sich selbst nie in die Rolle des Konvertiten oder des Renegaten manövriert haben. Nun kann man sagen, wer nicht sektenanfällig ist und schnell zu orthodoxen Versteinerungen der Gedanken greift, um sich im Interesse der eigenen Identität den Feindeskreis übersichtlich und dauerhaft zu erhalten – der kann auf eine Lebensgeschichte zurückblicken, in der im Großen und Ganzen die Koordinaten stimmen und so etwas wie ein erfülltes Leben in rückblickender Bilanz angenommen werden kann.

Aber so einfach ist es offenbar nicht. Die politische Integrität, die wir an unserem gestorbenen Freund loben und feiern, ist auch Resultat eines aufwendigen und umwegigen Prozesses der Beziehungsarbeit und der Entwicklung eigentümlicher Produktionsmittel, die jedoch in eine Lebenshaltung eingebunden sind, für die Jürgen Seifert stets eine anerkennende Schwäche hatte, weil sie im guten Hegelschen Sinne als List zu verstehen ist. Bei diesem Großmeister der Dialektik lernte er jene Taktiken, die es einem ermöglichen, in die Kraft der Verhältnisse einzugehen, um sie für eigene Zwecksetzungen umzudrehen. Auch Seifert war darum bemüht, an die Stelle der Breitseite der Gewalt, die für Hegel nichts bewirkt als die Zerstörung von Wirklichkeit, die List vernünftigen Verhaltens zu setzen. Irgendwie hatte er einen großen Genuss daran, mit Hilfe von Fragen und Argumenten den Gegner so in die Enge zu treiben, dass er von seinen Anfangsbehauptungen abrücken musste. Ich habe Situationen erlebt, in denen Jürgen Seifert neben mir saß, z.B. bei Fakultätssitzungen, wo es hoch herging, um die Begründung eines Dissertationsgutachtens, und er mich von der Seite anstieß und sagte: "Stell ihm doch einmal diese Frage!" Als ich das tat und der andere in Verlegenheit geriet, strahlte er über das ganze Gesicht und schnalzte sogar etwas mit seiner Zunge. Jürgen Seifert hatte einen Schalk im Nacken.

Ich nehme an, nur Juristen werden wissen, was es mit dem Paragraphen 824 BGB auf sich hat, der von der Kreditgefährdung handelt. Ich habe nachgelesen, weil mir Jürgen Seiferts Äußerung unklar war, dieser Paragraph sei es gewesen, der ihm ein "Bestanden" in der Stenographie-Prüfung einbrachte. Ihm muss dieser Paragraph 824 BGB besonders am Herzen gelegen haben. Denn hier heißt es: "Wer der Wahrheit zuwider eine Tatsache behauptet oder verbreitet, die geeignet ist, den Kredit eines anderen zu gefährden oder sonstige Nachteile für dessen Erwerb oder Vorteile herbeizuführen, hat dem anderen den daraus entstehenden Schaden auch dann zu ersetzen, wenn er die Unwahrheit zwar nicht kennt, aber kennen muss." Es war nun offenbar die Situation, dass Jürgen Seiferts Stenographie nicht besonders reichhaltig war, er sich also auf einen Text konzentrieren musste. So übte er sich stenographisch in diesen Text ein, und die List, warum ich das in diesem Zusammenhang behandele, bestand darin, den Stenographieprüfer davon zu überzeugen, dass er diesen und nur diesen Text, den er auswendig gelernt hatte, in die Feder diktierte. Aber mir scheint es überhaupt nicht zufällig zu sein, dass es genau dieser Paragraph ist, der Jürgen Seifert besonders faszinierte; viele seiner juristischen Themen sind hier angeschlagen: Kreditgefährdung, Mitteilung und Verbreitung von Unwahrheit, Verpflichtung von Schadensersatz, schließlich die Maxime, sich nicht wegen angeblichen Nichtwissens herausreden zu können, sondern dazu verpflichtet zu sein, sich objektiv mögliches Wissen anzueignen.

Dem pfleglichen Umgang mit der Wahrheit entspricht der pflegliche Umgang mit den Methoden, sich Wahrheitshaltiges zu verschaffen. Das ist ein sorgfältiger und pfleglicher Umgang mit den Werkzeugen, was Seiferts Arbeitsweise charakterisiert, und ich habe in dem einen oder anderen Text entdecken können, wie einer, der eine Lehre als Werkzeugmacher absolviert hat, behutsam und sachgemäß mit den Werkzeugen seines Kopfes umzugehen versteht: mit Begriffen, Urteilen und Schlüssen, mit Quellengenauigkeit und der Einschätzung der Hebelwirkung von Gedanken. Er hat sich etwas angeeignet, was in der Tat ein kritischer Intellektueller zuerst lernen muss: kompetenten Umgang mit den Erkenntnismitteln, mit den Werkzeugen der Erkenntnisproduktion. Es ist das gewiss kein Erbteil seines Elternhauses, denn in dem konservativen Milieu des höheren Justizdienstes dürfte das Handwerk eher niedrig eingestuft worden sein. Die Verzögerung seiner Ausbildung und seiner akademischen Karriere, die Erfahrung des Luftwaffenhelfers, des kurzfristig Kriegsgefangenen, des Landarbeiters und des Werkzeugmachers mögen daher entscheidende Stufen in der Sicherung eines Kritikvermögens gewesen sein, das die Maßverhältnisse nie verloren hat.

Aber als kritischer Mensch wird man nicht einfach geboren; es ist ein aufwendiger Prozess, der in ungleichzeitigen Rhythmen verläuft und manchmal sogar erst im Alter einen konsistenten Zusammenhang gewinnt. Jürgen Seifert war nicht nur lange in der Humanistischen Union tätig und zeitweilig ihr Vorsitzender, er war in seiner Gesinnung zutiefst von dem Gedanken des Humanismus geprägt, von den Zielen humaner Lebensführung und menschenwürdigen Wissens. Auch in dieser Hinsicht hat er sich als Lernender geöffnet und nie in dem Wissen, das er einmal errungen hatte, verhärtet.

Wenn der Ich-Chronist, wie Seifert sich am Ende selbst verstand, in der Gegenwart eintrifft, bereiten ihm die Aufzeichnungen zunehmend Verlegenheit. Das Kapitel, das den Abschluss der biographischen Selbsterarbeitung ankündigt, hatte einen dunklen und dann doch wieder sehr klaren Hoffnungshorizont. Einen "anderen Anfang" bezeichnete er diesen Schlussakkord, zu dem es nur Andeutungen gibt. Das Liebesverhältnis zu Mechthild Rumpf ist der Beginn, aber ich glaube, es steckt darin ein sehr weit gefasstes Bekenntnis zu dieser Frau. Er muss gespürt haben, wie sie Ruhe in sein Haus gebracht hat, und ich weiß aus manchen freundschaftlichen Äußerungen, wie sie für diesen Hektiker Balsam gewesen sein muss. Das wäre jedoch zu wenig, um den anderen Anfang tragfähig zu machen. Jürgen Seifert hat zwar eine Ahnung von dem gehabt, worin das Denken der Frankfurter Schule besteht, aber es gibt keine Hinweise darauf, dass er ihre Ideen kannte, bevor er Mechthild Rumpf kennen lernte. Sie hatte ihn über alle juristischen Bezugspersonen der Frankfurter Schule hinausgehend in diese Denkweise eingeführt. Konfliktreich vielleicht, sogar wahrscheinlich, aber offenbar in dankbarer Anerkennung einer Frau, die genau wie er Hegels Satz "Umso schlimmer für die Tatsachen" zum erkenntnisleitenden Punkt der Wahrheitssuche gemacht hat und die Unbotmäßigkeit im Denken als verlässlichste Leitlinie betrachtete, mit möglichst wenig Irrtümern im Leben auszukommen.

In einem seiner letzten Aufsätze, dem in der Festschrift zu meinem 65. Geburtstag, fügt Jürgen Seifert noch einmal zusammen, was ihm Halt in dieser Gesellschaft der Umbrüche verschafft hat und worin die Energiequellen seiner politischen Interventionslust beruhen. Der Titel dieses Aufsatzes zeigt an, worum es ihm geht: "Urteilskraft als Bedingung des politischen Handelns und die Verantwortung für 'bloßes' Mitmachen." Der Aufsatz geht über Hannah Arendt und die Bedeutung von Freundschaft: "Das Öffentlich-Politische ist der Bezugspunkt solcher Freundschaft. Es geht nicht um Wahrheit, sondern um Urteilsbildung. Gespräche über das, was Hannah Arendt Polis nannte, benötigen für sie Offenheit. Zugespitzt formuliert sie: 'Wenn wir die Wahrheit besäßen, könnten wir nicht frei sein. Jeder Anspruch, die Wahrheit zu besitzen, würde die prinzipielle Gleichheit destruieren.' Das Politische kann in ihren Augen nicht gemacht oder hergestellt werden, sondern entfaltet sich nur in einem Raum des Miteinander-Sprechens, des Urteilens und des gemeinsamen Handelns. Dabei kommt es darauf an, vom Hier und Jetzt und vom Besonderen auszugehen." Das kann man guten Gewissens als eine Art Vermächtnis von Jürgen Seifert nehmen. Denn was ist das "Tagespolitische Kolloquium", bis vor seinem Tode veranstaltet, über 30 Jahre wissenschaftliche Analyse von Zeitungsmeldungen und Medienberichten, anderes – was ist das anderes als eine regelmäßige Abfolge von Exerzitien zur Erprobung und Übung politischen Urteilsvermögens! Öffentliche Urteilsbildung ist das einzige Mittel, der Verführung totalitärer Gesinnungen und Machtansprüche zu widerstehen. Und was hat es mit der Freundschaft auf sich?

Jeder hat Freundeskreise; für Jürgen Seifert hat Freundschaft, gerade im Widerspruch zu Carl Schmitt, für den der Freund ja eine politisch neutralisierte, private Kategorie war, konstitutive Bedeutung für seinen Begriff des Politischen. So hat mich seine Tochter Anna an eine offenbar erregte Diskussion mit ihm über das VIII. Buch der Nikomachischen Ethik erinnert. Hier stehen die Sätze, die für Jürgen Seifert, wie ich weiß, von zentralem Gewicht für seine Lebensgeschichte sind. Aristoteles sagt: "Freundschaft ist irgendwie eine Trefflichkeit menschlichen Wesens ... Sie ist in Hinsicht auf das Leben (in der Gemeinschaft) höchst notwendig. Denn ohne Freunde möchte niemand leben, auch wenn er die übrigen Güter alle zusammen besäße ... Freundschaft ist Hilfe ..." Jürgen Seifert war einer der anregendsten und aktivsten Teilnehmer eines Montags-Gesprächskreises in Hannover, in dem eine total gemischte Gesellschaft in unregelmäßigen Abständen zusammenkam, um sich über tagespolitische, aber auch grundsätzliche Probleme unserer Existenzweise zu verständigen. Freundschaft eröffnet Kritik ohne Trennung und Ausgliederung.

Todesahnungen? Ich weiß nicht. Paul Celans Lyrik hatte schon früh großen Einfluss auf Jürgen Seifert ausgeübt; mit des Dichters ausdrücklicher Erlaubnis hat er in der zweiten Nummer der von ihm mitbegründeten SDS-Zeitschrift "david"[3] die Todesfuge abgedruckt – lange bevor dieses Gedicht, in dem der Tod als Meister aus Deutschland beschworen wird, allgemein Verbreitung fand. Seiferts letzter Bücherwunsch war ein Gedichtband Celans. Dieser traf wenige Tage nach seinem Tode ein.

Jürgen Seifert gehörte, diese fremdartig und kalt klingende Ausdrucksweise sei hier erlaubt, zur Grundausstattung der Linken in einem sehr breiten Spektrum. In diesem öffentlichen Raum wird ein wesentliches Stück des geistigen Mobiliars fehlen. Er starb einen Tod, den man gnadenvoll nennen kann; als mich die Nachricht erreichte, fiel mir sofort eine Kantate ein, von der ich nicht weiß, ob sie von Bach stammt oder von einem anderen Komponisten seiner Zeit. Sie enthält unendlich Tröstendes: "Der Tod – des Schlafes Bruder." Für Jürgen Seifert galt es nun buchstäblich, aber für die ihm Nahestehenden ist es doch hart, diesen unwiderruflichen Tatbestand anzuerkennen. Viele trauern um einen nahestehenden Angehörigen, viele um einen Freund – der demokratischen Öffentlichkeit hinterlässt sein Tod eine schmerzliche Lücke. Man sagt so leichthin: Jeder Mensch ist ersetzbar. Da bin ich nicht so sicher. Manche sind nicht ersetzbar. Jürgen Seifert gehört dazu.

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