1. September 2007 Redaktion Sozialismus

Systembruch – nicht "punktuelle Härten"

Ende Oktober steht die deutsche Sozialdemokratie auf ihren Bundesparteitag so schlecht da wie nie zuvor in ihrer Geschichte. Ihr demoskopischer Absturz ist so weit fortgeschritten, wie er für eine so genannte Volkspartei nur gehen kann. Dass ihr nur noch 24 bis 29% der WählerInnen die Stimme geben, ist dabei noch nicht einmal die schlechteste Botschaft.

Perspektivisch bedrohlicher sind drei Befunde, die sich aus der jüngsten Umfrage des Instituts für Demoskopie Allensbach ergeben (FAZ, 15.8.2007). Erstens das weiter abbröckelnde Sympathiepotenzial der SPD. Allein von April bis August dieses Jahres hat sich der "Anteil derer, die die SPD als die sympathischste Partei benennen, ... von 34 auf 26% verringert." Zweitens das weiter erodierende Zukunftspotenzial der Partei: "Die Mehrheit der Bevölkerung ist überzeugt, dass die Schwäche der SPD andauern wird. Keiner anderen Partei stellt sie zurzeit eine ähnlich ungünstige Prognose. 54% erwarten, dass die SPD künftig an Bedeutung verlieren wird, nur 24% rechnen damit, dass die Sozialdemokraten die Trendwende schaffen werden." Drittens das fehlende Machtpotenzial einer Partei, die aus Regierungsverantwortung politisches Kapital schlagen will: "Im Allgemeinen nützt es einer Volkspartei, wenn sich in ihrer Regierungszeit Konjunktur und Arbeitsmarkt positiv entwickeln. Von der Stimmungsbesserung der Wirtschaft und der Bevölkerung profitiert jedoch nur die CDU/CSU – jedoch auch nur eingeschränkt – während die SPD für die positive Entwicklung keinerlei Lohn erhält."

Die Auseinandersetzung über die Gründe für die tiefe Krise der Partei hat längst begonnen. Zumindest auf der Ebene des Führungspersonals ist sie eindeutig entschieden. Gleichsam in Vorgriff auf seine Wahl zum stellvertretenden Parteivorsitzenden – und in voller Übereinstimmung mit seinem Co-Vize Frank-Walter Steinmeier – hat Peer Steinbrück die "reformpolitischen" Zauderer und Kritiker für den Zustand der Partei verantwortlich gemacht. "Den Leuten kommen wir im Moment wie eine Heulsuse vor: Wir ziehen eine Flunsch wegen der Popularität der Kanzlerin. Wir gucken verkniffen auf das Phänomen der Linkspartei. Wir klagen darüber, dass die Globalisierung uns erwischt, obwohl Deutschland davon profitiert. Wir heulen, weil wir Reformpolitik machen müssen. Wir heulen ein bisschen über Hartz IV und über die Agenda 2010... Da sagen die Menschen: Wenn die sich nicht vertrauen, warum soll ich ihnen vertrauen?" (FR, 18.8.2007)

Eine merkwürdige Bewertung. Seit 1998 befindet sich die SPD in Regierungsverantwortung, bis 2006 in führender und programmatisch prägender Rolle. Ihre Repräsentanten stehen ohne Ausnahme für die Kontinuität einer Politik, die mit der Auflösung der Deutschland AG, der Abwicklung des dynamischen Rentensystems (verknüpft mit den Namen Riester und Rürup) und des Radikalumbaus des Arbeitsmarktes (Hartz) einen Systembruch in der sozial-ökonomischen Entwicklung dieser Republik herbeigeführt hat. RepräsentantInnen, die auf dem Bundesparteitag mit klaren Mehrheitsverhältnissen in Spitzenämter gewählt werden. Und nun soll ausgerechnet jene marginalisierte Gruppe von Kritikern der Agenda 2010 für die Krise der Partei verantwortlich sein? Verantwortlich nicht nur für demoskopische Tiefststände, sondern auch dafür, dass Hunderttausende die Partei verlassen haben. Das ist – mit Verlaub – Klippschulmachiavellismus.

Die Gründe für die Krise der deutschen Sozialdemokratie liegen exakt im Systembruch einer Partei, die sich vom Projekt der Zivilisierung des Kapitalismus und der sozialen Ausbalancierung einer modernisierten Klassengesellschaft just in einer Zeit verabschiedet hat, in der eine für viele existenzbedrohende, für noch sehr viel mehr lebensstandard-, status- und zukunftsbedrohende "Kultur der Unsicherheit" in alle Poren der Gesellschaft implantiert worden ist. Der Gesundheitsexperte Karl Lauterbach hat Recht, wenn er fordert, dass die Überwindung einer Sozialordnung, die nach den Prinzipien der Zweiklassenmedizin strukturiert wird, ein sozialdemokratisches Projekt sein müsste. Die alte und neue Parteiführung will davon nichts wissen. Der AfA-Vorsitzende Ottmar Schreiner hat Recht, wenn er feststellt, dass der wirtschaftliche Aufschwung nicht nur bei den 7,4 Millionen ALG-II-BezieherInnen, sondern auch bei großen Teilen der SPD-WählerInnen nicht ankommt. Aber selbst in der Demokratischen Linken seiner Partei wird die Formel von der "Reformdividende" – als Eintrittsbillet in höchste Parteiämter – legitimiert. Und Recht hat der Präsident der Deutschen Rentenversicherung Bund, Herbert Rische, der vor beschleunigt steigender Altersarmut infolge einer Politik warnt, die dem Fetisch "Beitragssatzstabilität" mithilfe fortgesetzter Leistungskürzungen frönt. Aber die Zeiten, in denen RepräsentantInnen von Sozialverbänden zur bevorzugten Lobby der SPD gehörten, sind seit längerem vorbei. So reicht es dann eben nur zu der Alltagserkenntnis, dass mit "der gesetzliche Rente allein niemand seinen Lebensstandard im Alter halten" kann, um daraus die Schlussfolgerung zu ziehen: "Wer von den heute Beschäftigten privat vorsorgt, dessen Lebensstandard wird sich im Alter verbessern." Das ist O-Ton Kurt Beck, immerhin amtierender SPD-Parteivorsitzender.

Die Bilanz nach fünf Jahren "Systemreform" weist 7,4 Millionen Menschen, darunter knapp 2 Millionen Kinder aus, die mit ALG II auskommen müssen. Weitere 250.000 BürgerInnen leben von Sozialhilfe, weil sie nicht erwerbsfähig sind und über 600.000 BürgerInnen müssen Grundsicherungsleistungen in Anspruch nehmen, weil die Renten unter den ALG II-Sätzen liegen. Zu Recht titelte die taz "5 Jahre Hartz: Die Reform als Angstmacher".

Zugestanden: In der politischen Kommentierung der letzten Jahre fällt es mitunter schwer, Kritik nicht zu überreizen. Die SPD ist nicht der Ursprung allen Übels. Und sie ist auf der demoskopischen Treppe nach unten und angesichts des politischen Drucks von Seiten der Neuen Linken nervöser, in manchen Punkten auch druckempfindlicher geworden. Aber es geht nicht in erster Linie um die präzise Justierung einer Reformpolitik, wenn diese im Grundsatz falsch ist. Deshalb wird die SPD auch dann nicht die Position des sozialen Garanten der viel beschworenen "kleinen Leute" zurückerobern können, wenn sie in Zeiten (noch) sprudelnder Steuereinnahmen ein paar Millionen gegen Kinder-, Rentner- und Arbeitslosenarmut "investieren" will. Solange die SPD-Führung für eine Politik des sozialen Systembruchs steht, wird sie nicht mit punktuellen Korrekturen reüssieren können. Nach fünf Jahren Erfahrung mit der Agenda 2010 lautet die Bilanz, dass die Liberalisierung der Finanz- und Kapitalmärkte das durch die Produktivitätsentwicklung angeschlagene Ordnungsmodell des sozial regulierten (rheinischen) Kapitalismus nicht erneuert, sondern eine neue Variante eines entfesselten Kapitalismus geschaffen hat. In diesem ist nicht mehr garantiert, vom Verkauf der Arbeitskraft auch einigermaßen anständig leben zu können. Und in diesem Kapitalismus sind soziale Rechte keine Eigentumsrechte mehr, sondern werden zu Fürsorgeleistungen – oft mit repressiven und entwürdigenden Überprüfungen gepaart –, die durch marktkonforme Versicherungsleistungen aufgestockt werden sollen.

In diesem Kapitalismus musste das neusozialdemokratische Modell der Neuen Mitte scheitern. Deren Lebensentwürfe sind – wie eine Studie des Heidelberger Sinus-Instituts jüngst gezeigt hat – klar umrissen: Familie, Haus und Garten. Es ist die Hoffnung auf den kleinen Wohlstand – wozu auch die gelegentliche Urlaubsreise gehört –, die seit der Jahrhundertwende keine Stärkung, sondern wachsende Verunsicherung erfährt. Das Projekt der Neuen Mitte hat gerade nicht neue Aufstiegswege erschlossen, bürokratische Barrieren beseitigt und eine Modernisierung der meritokratischen, auf Leistungsgerechtigkeit zielenden Ordnung herbeigeführt, sondern die Sicherheit sozialer Bürgerrechte infrage gestellt. "Mitte-Menschen haben das in den vergangenen Jahren hochsensibel wahrgenommen, fürchten um den Erhalt dessen, was im Mittelpunkt ihres Lebensplans steht: eben Ansehen im Beruf und in Freundeskreisen, eine stabile Familie, ein gutes und sicheres Einkommen, ein eigenes Haus, schließlich Kinder, die es einmal noch ein Stückchen besser als man selbst haben sollen." (Franz Walter) Mit der Politik der Neuen Mitte wurde nicht nur keine soziale, milieu- oder klassenstrukturelle Neukomposition vorgenommen. Der "politische Witz" besteht – wie die Sinus-Studie zeigt – darin, dass die Kultur der Unsicherheit die Grundlage schafft für jenen modernisierten Konservatismus, dem sich die CDU insbesondere in der Familienpolitik angenommen hat.

Der westeuropäische sozialstaatlich regulierte Kapitalismus hatte gewiss stets gewichtige Defizite (keine gleichberechtigte Teilhabe der Frauen, Beschränkungen der Leistungen auf den Staatsbürgerstatus, Privilegien für bestimmte soziale Milieus wie Beamte etc.). Aber trotz dieser Defizite, fortbestehender Klassenverhältnisse und sozialer Ungleichheit hat die Mehrheit der Lohnabhängigen und der Bevölkerung insbesondere auf dem Höhepunkt der Entwicklung des Fordismus die Erfahrung gemacht, dass die existenziellen Risiken in einer kapitalistischen Ökonomie beherrschbar sind und kapitalistische Herrschaft durchaus mit Partizipations- und Kontrollrechten kompatibel ist. Mit der größten Sozialreform seit der Gründung der Republik, der Agenda 2010, wurde dieses gesellschaftliche Grundprinzip ausgehebelt.

Die SPD hat ihre Position, politischer Anwalt der Lohnabhängigen und Marginalisierten zu sein, selbst zur Disposition gestellt. In der Analyse des Instituts für Demoskopie Allensbach ist ein leichter Anflug von Mitleid nicht zu überlesen: "In dieser bedrängten Lage ist die SPD mit vielfachen Herausforderungen konfrontiert: sie muss Geschlossenheit und Ruhe bewahren, ohne dass daraus die Friedhofsruhe des Defätismus und Fatalismus wird. Sie will sich von dem Koalitionspartner abgrenzen und ihr Profil schärfen, ohne verstärkt Konflikte in die Tagesarbeit zu tragen und dadurch als Hemmschuh der Koalition zu erscheinen. Sie muss die Herausforderung von links annehmen, ohne sich in die Zwickmühle zwischen Populismus und Regierungsverantwortung zu begeben."

Zu Recht konstatiert das langjährige SPD-Mitglied, der Sozialexperte Rudolf Dressler: Es handelt sich um "eine Wahrnehmungsunwilligkeit und daraus resultierende Wahrnehmungsunfähigkeit bei der SPD, vor allem in den vorderen Reihen... Die Partei bringt sich selbst um die Ecke. Die handelnden Personen haben grenzenlose Angst vor einer Analyse des eigenen Tuns." Vielleicht werden ja weitere Niederlagen in den anstehenden Landtagswahlen von Hessen, Niedersachsen und Hamburg den Zustand der politischen Lähmung der SPD beenden.

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