26. August 2011 Redaktion Sozialismus

Systemkritik und die Alternative

Kategorie: Linksparteien

Gregor Gysi, Fraktionsvorsitzender der LINKEN im Bundestag, zeigt sich zu Recht überrascht: »Das erste Mal erlebe ich nun eine kapitalismuskritische Stimmung. Sie ist noch nicht antikapitalistisch, aber immerhin. Und das bei Leuten, bei denen man nie damit gerechnet hätte.«1 Die kapitalismuskritische Stimmung ist vielleicht durch die beharrliche Argumentation des vielstimmigen Chors im linken Lager verstärkt worden. Verursacht wurde der Meinungswechsel in Teilen der bürgerlichen Intelligenz durch die desaströse ökonomische Entwicklung seit dem Ausbruch der Großen Krise und die immer deutlicher enthüllte Hilflosigkeit der politischen Klasse.

Die Kritik am Neoliberalismus und dem durch ihn mitgestalteten Finanzmarktkapitalismus ist »hoffähig« geworden. Zwei Stimmen seien angeführt: So greift Tissy Bruns im »Tagesspiegel« auf die Standardargumentation der kapitalismuskritischen Linken zurück: »Der Finanzkapitalismus hat den Anspruch paralysiert, auf dem Primat der Politik zu bestehen. Im Krisensommer 2011 offenbart sich der desaströse Zustand unserer Demokratien. Eine übermächtige Finanzwirtschaft führt Politik und Eliten vor. Die Finanzwirtschaft durchdringt die Welt nun seit einem Vierteljahrhundert. Nicht finstere Diktaturen haben sie geschaffen. Sie ist ein originäres Kind der demokratischen, westlichen Nationen, die am Ende des letzten Jahrhunderts den ökonomisch Mächtigen die Fesseln ersparen wollten, die der Wohlstandskapitalismus ihnen auferlegt hatte. Verständlich. Neue Konkurrenzverhältnisse zeichneten sich ab. Jeder Staat meinte, ›seine‹ Wirtschaft optimal in Stellung bringen zu müssen, indem Kosten gesenkt, Verpflichtungen gelöst und außerdem sagenhaft viel Geld verdient werden konnte … Privatisierung und Deregulierung gewannen, pragmatisch getarnt, die Macht von Dogmen. ›Gegen die Märkte kann man nicht‹, befand Margaret Thatcher. Ihr Credo ›there ist no alternative‹ wurde zum Schlachtruf des neoliberalen, aber parteiübergreifenden Mainstreams. Die westliche Welt, Politiker nicht weniger als Ökonomen oder Philosophen, hatte beim Übergang von der alten Systemkonkurrenz in die Globalisierung ›die Märkte‹ mit dem höchsten Gütesiegel der Demokratie geadelt. Das Freiheitsbanner wurde an die siegreiche Marktwirtschaft übergeben. Denn die ›Freiheit der Märkte‹ garantiere Erfolg und Chancen in der globalisierten Weltwirtschaft … Dieser neue Kapitalismus hat die Ideale und Stärken der Demokratien in einem Maß untergraben, wie kein äußerer Feind es gekonnt hätte. Die ›Märkte‹ sind zur Parallelgesellschaft des 21. Jahrhunderts geworden. Sie können jenseits der für alle anderen gültigen Maßstäbe von Haftung und Verantwortung handeln.«2

Frank Schirrmacher, Mitherausgeber der FAZ, überträgt den massiven Zweifel von konservativen Vordenkern aus Großbritannien auf die bundesdeutschen Verhältnisse. »Das komplette Drama der Selbstdesillusionierung des bürgerlichen Denkens spielt sich gerade in England ab. In einem der meistdiskutierten Kommentare der letzten Wochen schrieb dort Charles Moore: ›Es hat mehr als dreißig Jahre gedauert, bis ich mir als Journalist diese Frage stelle, aber in dieser Woche spüre ich, dass ich sie stellen muss: Hat die Linke nicht am Ende recht?‹«3

In der Tat, die kleine Community der kapitalismuskritischen Linken argumentiert seit Jahrzehnten, dass der neo­liberale Umbau des in den Nachkriegsjahrzehnten erkämpften sozialregulierten Kapitalismus keine tragfähige Zukunft haben kann. Die finanzgetriebene Kapitalakkumulation hat die gesellschaftliche Wertschöpfung zu Höchstleistungen angespornt, aber den damit erwirtschafteten gesellschaftlichen Surplus einseitig den Vermögenden vorbehalten. Die wachsende soziale Spaltung ist keine Grundlage für eine entwickelte gesellschaftliche Ökonomie im 21. Jahrhundert. Der zur Perfektion gestaltete Diebstahl an fremder Arbeitszeit – so Karl Marx schon 1857 in seinem ersten »Rohentwurf« einer Kapitalismuskritik – treibt das System an die immanenten Schranken.4 Auch die Expansion des Kredits und das Gebirge an Ansprüchen auf künftigen gesellschaftlichen Reichtum können dem System keinen Ausweg eröffnen.

Fakt ist auch: Es kann keinen Kapitalismus ohne Bürgertum geben. Die Gier nach dem Diebstahl fremder Arbeitszeit untergräbt letztlich das Leistungsversprechen und desavouiert die vom Bürgertum gepriesene Äquivalenz. »Es war ja nicht so, dass der Neoliberalismus wie eine Gehirnwäsche über die Gesellschaft kam. Er bediente sich im imaginativen Depot des bürgerlichen Denkens: Freiheit, Autonomie, Selbstbestimmung bei gleichzeitiger Achtung von individuellen Werten, die Chance, zu werden, wer man werden will, bei gleichzeitiger Zähmung des Staates und seiner Allmacht. Und gleichzeitig lieferte ihm die CDU ihren größten Wert aus: die Legitimation durch die Erben Ludwig Erhards, das Versprechen, dass Globalisierung ein Evolutionsprodukt der sozialen Marktwirtschaft wird. Ludwig Erhard plus AEG plus Lehman plus bürgerliche Werte – das ist wahrhaft eine Killerapplikation gewesen.«5

Festzuhalten bleibt dennoch: Die Stunde der Erschütterung des kapitalistischen Systems ist nicht die Stunde der politischen Alternative von Links. Gysi fasst zusammen: »Und wir haben gute Vorschläge, wie diese Krise überwunden werden kann. Früher wurde uns angelastet, dass wir die Systemfrage stellen. Heute stellen sie ganz andere. 1990 habe ich gesagt, der Staatssozialismus ist zu Recht gescheitert. Aber der Kapitalismus hat nicht gesiegt, er ist bloß übriggeblieben. Damals fanden das viele ironisch. Heute sagt der Milliardär George Soros, wenn der Kapitalismus jetzt nicht reformfähig wird, gibt er sich auf … Die großen privaten Banken und Versicherungen spielen mit der Wirtschaft und mit der Politik. Wir brauchen öffentlich-rechtliche Banken mit anderen Krediten. Die Sparkasse macht uns nicht die Schwierigkeiten, die uns die Deutsche Bank bereitet. Und dann brauchen wir Euro-Bonds, also gemeinsame Staatsanleihen der Euro-Länder. Wenn wir die hätten, wäre der Euro sofort stabilisiert.«6

Gysi bringt hier eher einen unzureichenden Zwischenstand der Debatte um Alternativen zum Ausdruck. Es geht auch nicht um ein Spiel zwischen Finanzmärkten und Politik. Mit immer neuen Rettungspaketen versuchen Politiker in Europa und den USA die Schuldenkrise einzudämmen, drücken sich aber um die Lösung des Kernproblems. Ohne Restrukturierung der Realökonomie und Redimensionierung der akkumulierten Ansprüche auf den gesellschaftlichen Reichtum gibt es kein Ende der Krise. Häufig sind die ersten Reaktionen der Finanzmärkte auf neue Rettungsschirme »freundlich«, wohl in Anerkennung, dass ein gemeinsamer Nenner und ein wenig zusätzliche Zeit erkauft worden ist. Doch schon bald stellt sich die Unzulänglichkeit der »Rettungsoperationen« heraus. Auch Euro-Bonds wären vor allem ein Mittel zum Zeitgewinn.

Die ökonomisch-finanzielle Krise hat längst die Lösungsform »Zeitgewinn« überschritten und schlägt auf die demokratische Willensbildung der Gesellschaften durch. »Das bisherige Krisenmanagement war bemüht, Krisen durch Verlagerung der Probleme auf eine höhere Ebene mit größerem Vertrauensreservoir ›aufzuheben‹. Die Banken wurden von den Staaten gerettet; die kleinen Staaten von den großen. Diese Strategie kommt jetzt an ihr Ende. Der Vertrauensverlust ist mittlerweile überall angekommen. In der nächsten Stufe wird die Krise auf das soziale System übergreifen. Anzeichen finden sich bereits in steigender Arbeitslosigkeit, Auswanderung und Gewaltausbrüchen in besonders betroffenen Ländern. Egal, ob durch Sparpolitik, Schuldenschnitt oder Inflation, die bevorstehende massive Reduzierung von Vermögen und Einkommen wird Konflikte hervorrufen. Diese haben das Potential, auch das politische System zu erreichen, zunächst etwa durch stärkeren Zulauf zu populistischen Bewegungen wie dem Front National oder der Tea Party … Nachdem die Zuwächse des Sozialprodukts während der vergangenen dreißig Jahre vornehmlich den oberen Bevölkerungsschichten zugutekamen, stellt sich in der Schuldenkrise die Frage, ob und mit welchen Mitteln die Wohlhabenden versuchen werden, ihre Position auch um den Preis einer massiven sozialen und politischen Krise zu verteidigen. Wir können nicht ausschließen, dass sie die Schrift an der Wand auch weiterhin nicht verstehen wollen.«7

Auch der Ruf nach Gemeinschaftsanleihen, dem sich Deutschland und Frankreich vielleicht nicht länger entziehen könnten, klärt die Frage nicht: Können die akkumulierten gesellschaftlichen Ansprüche wirklich noch bedient werden? Hochverschuldete Euro-Länder wären weniger angreifbar durch die Finanzmärkte, Rettungspakete könnten kleiner ausfallen und die Zinslast verschuldeter Länder wäre geringer. Gemeinschaftliche Anleihen der Euro-Länder haben allerdings einen  Konstruktionsfehler: Sie mögen zwar Probleme bei der laufenden Refinanzierung einzelner überschuldeter Staaten reduzieren, bauen aber die Überschuldung nicht ab. Mit Euro-Bonds werden die Schulden der Peripherieländer durch Schulden der europäischen Gemeinschaft ersetzt. Das schafft unbestritten Luft. Es bleibt aber die Aufgabe der Restrukturierung der Ökonomie und der zielgerichteten Beschneidung der Ansprüche auf gesellschaftlichen Reichtum.

1 Gregor Gysi: »Heute stellen ganz andere die Systemfrage«, Interview, Der Tagesspiegel, 21.8.2011.
2 Tissy Bruns: »Die Welt ist aus den Fugen«, Der Tagesspiegel, 22.8.2011.
3 Frank Schirrmacher: »Ich beginne zu glauben, dass die Linke recht hat«, FAS, 14.8.2011.
4 Vgl. Karl Marx: »Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie«, MEW, Bd. 42, Berlin (DDR) 1983, S. 601.
5 Schirrmacher: »Ich beginne zu glauben...«, a.a.O.
6 Gysi: »Systemfrage...«, a.a.O.
7 Jens Beckert/Wolfgang Streeck: »Die nächste Stufe der Krise«, FAZ, 20.8.2011.

Zurück