1. Dezember 2003 Richard Detje und Otto König

Tarif & Politik

Die großen Unsicherheitsfaktoren in der Tarifbewegung 2004 sind die Unternehmer(verbände) und ihre politischen Vertreter. Letztere haben sich derart eindeutig vom deutschen Modell eines sozialstaatlich zivilisierten Kapitalismus verabschiedet, dass nun auch die Tarifautonomie zum Gegenstand des politischen Schacherns geworden ist.

Die Forderung des Bundeskanzlers nach Institutionalisierung "betrieblicher Bündnisse" in der Agenda-Rede vom März brauchte von der CDU/CSU/FDP-Opposition nur noch zugespitzt zu werden, um die weitere Verschlechterung der sozialen Lage der Arbeitslosen gegen die Teilaushebelung gewerkschaftlicher Schutz- und Gestaltungsfunktionen "verhandeln" zu können.

Da es dieselben Parteien sind, die vor gerade einmal zwei Jahren bei der Novellierung des Betriebsverfassungsgesetzes den Betriebsräten auch die minimalste Erweiterung von Mitbestimmungsrechten verweigert hatten, ist klar, wohin die Reise gehen soll. So zügig wie die Deregulierung in der Sozialpolitik und die Flexibilisierung in der Arbeitsmarktpolitik sollen nun auch die betrieblichen Macht- und Verteilungsverhältnisse umgekrempelt werden.

Ob durch direkte Absprachen oder durch enge Verwandtschaft im Geiste wird in Parteien und Wirtschaftsverbänden in konzertierter Aktion seit geraumer Zeit darauf hingearbeitet, die 35-Stunden-Woche, das Symbol gewerkschaftlicher Durchsetzungskraft Mitte der 1980er Jahre, zu kippen. "Die Deutschen müssen mehr arbeiten", lautet die Botschaft der Clements, Merkels, Westerwelles aus den mittlerweile zahllosen Talkshows.

Der Vorstoß erfolgt wohlüberlegt in der Druck- und Metallindustrie. In beiden Branchen soll durch tarifliche Öffnungsklauseln mit dem Betriebsrat (ohne Gewerkschaft) über die Verlängerung der Arbeitszeiten auf 40 Stunden auch in Form von Arbeitszeitkorridoren "verhandelt" werden können, selbstverständlich ohne Lohnausgleich. Die generelle Einführung von Samstagsarbeit, die Streichung des Freizeitausgleichs für Schichtarbeiter, die Kürzung der Zuschläge für Nacht- und Sonntagsarbeit stehen auf der Liste der Begehrlichkeiten ebenso wie die ertragsabhängige Gestaltung des Urlaubs- und Weihnachtsgeldes – all dies, "um die Kosten- belastung der Betriebe zu reduzieren" (Thomas Mayer, Hauptgeschäftsführer des Bundesverbands Druck und Medien).

Kaum ein "sachverständiger" Ökonom ist sich zu blöde, die Gefährdung der internationalen Wettbewerbsfähigkeit an die Wand zu malen, in einer Zeit, in der dieses Land Exportweltmeister mit der niedrigsten Entwicklung der Lohnstückkosten ist. Dass Deutschland in der Spitzengruppe der Länder mit den längsten Betriebsnutzungszeiten liegt, wird ignoriert, solange in Korea die individuelle Arbeitszeit höher ist.

Die Aussage, dass "längere Arbeitszeiten zu mehr Beschäftigung führen" (Hans Werner Busch, Hauptgeschäftsführer von Gesamtmetall), sollte eigentlich kein vernünftiger Mensch glauben, gehört aber zu den Lieblingszitaten der regionalen und überregionalen Presse – stattdessen stehen allein in der Metall- und Elektroindustrie bis zu 435.000 Arbeitsplätze zur Disposition, wenn bei gleichbleibenden Umsätzen entsprechend länger gearbeitet werden muss. Fünf Stunden unbezahlte Mehrarbeit entsprechen Lohn- und Gehaltskürzungen in der Größenordnung von bis zu 14%.

Ist es propagandistischer Wahn, quasireligiöser Eifer oder "nur" kaltes Machtkalkül, dass in den Verteilungsauseinandersetzungen immer irrationaler "argumentiert" wird? Eines dieser Argumente lautet, dass die "überteuerten" Tarifabschlüsse 2002/03 für den Verlust von Hunderttausenden von Arbeitsplätzen allein in der Metallindustrie verantwortlich seien. Im laufenden Jahr stiegen die Tarifeinkommen im gesamtwirtschaftlichen Durchschnitt um 2,3%. Nach Verrechnung mit übertariflichen Leistungen ergab sich nur noch eine Steigerung der Effektiveinkommen von rund 1% – was der Preissteigerungsrate entspricht und unterhalb der Produktivitätsentwicklung liegt. Anders formuliert: Der vermeintlich "überteuerte" Anstieg der Löhne und Gehälter brachte in diesem Jahr einen Rückgang (!) der realen Nettoeinkommen von 1%.

Die Forderung von Gesamtmetall, die Tarifabschlüsse in 2004 müssten unterhalb der Produktivitätsentwicklung (1,4%) liegen, entspräche der gesamtwirtschaftlichen Verteilung des laufenden Jahres.

Tatsache ist: Den Arbeitgebern und ihren Verbänden geht es in den aktuellen Auseinandersetzungen um grundlegende Weichenstellungen. Das bisherige System der "industriellen Beziehungen" soll einem Kapitalismus neuen Typs weichen, den einige als "flexiblen", andere als "Shareholder-Kapitalismus" beschreiben. Dieser Kapitalismus zeichnet sich dadurch aus, dass "der Markt" nicht mehr nur die Austauschbeziehungen zwischen den Unternehmen, sondern auch in ihrem Innern reguliert. Das Ideal ist die "atmende Fabrik", die in der Produktions- und Dienstleistungserbringung jeder Marktschwankung folgen soll: ausgestattet mit einem flexiblen Arbeitszeitregime, die Leistungsbedingungen nach Zielvereinbarungen ausgerichtet und die Entlohnung an die Ertragsentwicklung gekoppelt – selbstverständlich nach unten offen und nach oben gedeckelt.

Gewerkschaften, die nach wie vor gesamtwirtschaftliche Verteilungsauseinandersetzungen führen, sind ein gleichsam "systemischer" Widerstandsfaktor. Mit der Forderung nach Erhöhung der Löhne, Gehälter und Ausbildungsvergütungen um 4% orientiert sich die IG Metall erstens an einem Ausgleich der Preissteigerungen, also an Reallohnsicherung, und zweitens an der Teilhabe am bescheidenen Wohlstandsgewinn, wie er in der Produktivitätsentwicklung zum Ausdruck kommt. Dieser so genannte "neutrale" Verteilungsspielraum beläuft sich im nächsten Jahr voraussichtlich auf ca. 3,3%. Das wäre das Minimum des gesamtwirtschaftlich noch vertretbaren Verteilungsergebnisses. Dieses ändert sich noch durch den notwendigen Abschluss einer Strukturkomponente in Höhe von 1,39%, um mit der Einführung des Entgeltrahmenabkommens (ERA) die Angleichung der Arbeiter- und Angestelltenentgelte vornehmen zu können.

Doch selbst ein solcher Abschluss aktualisiert nur eine manifeste Problemlage. Bedingt durch die Reallohnverluste der letzten zehn Jahre und einer seit nahezu einem Vierteljahrhundert sinkenden Lohnquote ist es zur Herausbildung einer hartnäckigen Stagnation gekommen, die in Deutschland mindestens – sollte es im zweiten Halbjahr 2004 zu einem leichten Aufschwung kommen – vier Jahre das ökonomische Leben hat erstarren lassen. Nie zuvor in der deutschen Nachkriegsgeschichte haben die Reallohnkosten auf einem derart niedrigen Niveau wie seit 2001 gelegen.

Die Ausschöpfung des neutralen Verteilungsspielraums in der Tarifrunde 2004 würde zwar die Binnennachfrage nicht noch weiter schwächen, sie würde aber auch keinen Ausweg aus der Stagnation weisen. Eine produktivitätsorientierte Lohnpolitik "rechnet" sich in einer prosperierenden Wirtschaft; ihre Aufgabe liegt nicht in der Konjunktursteuerung, sondern in der gleichgewichtigen Verteilung des produzierten Wohlstands zwischen Lohnarbeit und Kapital. Wird dieses Ziel über eine längere Zeit verfehlt – sei es erzwungenermaßen infolge des Drucks der Massenarbeitslosigkeit oder dadurch, dass man fälschlicherweise glaubt, durch "moderate" Lohnpolitik Beschäftigung sichern zu können –, kommt es zu zusätzlicher Wachstumsschwäche und Stagnation, in der die Verteilungsspielräume immer kleiner werden.

Die IG Metall muss die Verteilungsverhältnisse insgesamt ins Visier nehmen – so Jürgen Peters auf dem Gewerkschaftstag in Hannover. Sie sollte damit in der Tarifbewegung 2004 beginnen. Die Erwartung kann nicht sein, die Demontage des Sozialstaats tarifpolitisch zu kompensieren. Erwartet wird aber, dass sich die IG Metall aktiver als im Herbst 2003 in die politischen Auseinandersetzungen einbringt: gegen die nächste Runde der Agenda 2010 und für eine zukunftweisende Sozialpolitik, die von allen Erwerbstätigen getragen wird (Bürgerversicherung) sowie für eine Steuerpolitik, die die Vermögenden und Spitzenverdiener zur Finanzierung des Gemeinwesens heranzieht. Tarifbewegung und politische Bewegung gehören zusammen – vor allem im Frühjahr 2004.

Otto König ist 1. Bevollmächtigter der Verwaltungsstelle Gevelsberg-Hattingen und Mitglied im Vorstand der IG Metall. Richard Detje ist Redakteur von Sozialismus.

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