26. Januar 2012 Richard Detje / Otto König

Tarifrunde 2012: Verteilungspolitik braucht neue Perspektiven

Der Öffentliche Dienst, die Metall- und Elektroindustrie (ME) sowie die Chemische Industrie stehen in den kommenden Monaten vor komplizierten Tarifauseinandersetzungen. Neben bereits laufenden Verhandlungen bei Metall über die mitbestimmte Begrenzung von Leiharbeit und die unbefristete Übernahme der Ausgebildeten geht es vor allem um mehr Geld.

Einkommensverluste gilt es auszugleichen und den Anspruch auf Verteilungsgerechtigkeit nicht fahren zu lassen. Kompliziert werden die Auseinandersetzungen vor dem Hintergrund einer unübersichtlichen wirtschaftlichen Situation. Zwischen Szenarien des Wiedereintauchens in die Krise, einer kurzen Delle im Auftragseingang, die bereits im Herbst wieder ausgebeult werden könne, und fortgesetzter Sonderkonjunktur im Exportgeschäft mit dynamisch wachsenden Schwellenländern wird in den Wirtschaftsprognosen alles geboten. Angesichts dieser »Volatilität« mutet die Knute der Austeritätspolitik im Öffentlichen Dienst wie eine Konstante an: aus unzumutbar wird unzumut­barer.

Wir wollen im Folgenden keine Vorausschau auf die kommenden Auseinandersetzungen wagen, sondern die Anlage der Tarifpolitik unter Krisenbedingungen diskutieren.

Rückblick 2011

Schon 2011 sollte es auch bei den Löhnen und Gehältern wieder »aufwärts« gehen. Die beiden vorangegangenen Krisenjahre hatten ganz im Zeichen erfolgreicher Arbeitsplatzsicherung der Stammbelegschaften gestanden – flankiert von einer umfänglichen Flexibilisierung der Arbeitszeiten (Kurzarbeit, Arbeitszeitkonten) und dadurch bedingten Einkommenseinbußen. Lohn­erhöhungen gab es überwiegend nur in Form von Pauschal- und Einmalzahlungen.[1] Exemplarisch der Tarifabschluss in der ME-Industrie aus dem Jahr 2010, der erst ab April 2011 wieder eine prozentuale Anhebung (2,7%) vorsah. Allerdings verbesserte sich die Auftragslage schneller als erwartet: 2010 stieg die gesamtwirtschaftliche Wertschöpfung um beachtliche 3,7%. Im Sommer 2011 erreichte die Produktion in der ME-Industrie wieder das Vorkrisenniveau, die Kapazität kletterte über Normalauslastung.

Trotz Exportboom war das kein »XXL-Aufschwung«[2] – auch wenn selbst führende Liberale und Christdemokraten ihr ramponiertes Ansehen damit aufzubessern trachteten, dass sie – zu Recht – eine Beteiligung der Beschäftigten an den wieder aufgehellten Unternehmensbilanzen forderten. Doch zu keinem Zeitpunkt verschwan­den die Krisenwolken vom ökonomischen Radarschirm – in Südeuropa verdichteten sie sich. Im Jahresverlauf 2011 schwächte sich die wirtschaftliche Entwicklung auch hierzulande wieder ab. Nach einem fulminanten Start in den Anfangsmonaten (5%) schrumpfte das BIP schließlich im Schlussquartal
(-0,25%).

Mit Forderungen zwischen 5-7% gingen die Gewerkschaften in die Tarifrunde 2011. Am besten lief es bei der IG BCE: Nach einer zuvor kurzen Laufzeit (11 Monate) konnten in einem verbesserten ökonomischen Umfeld 4,1% höhere Entgelte (für 15 Monate) herausgeholt werden. Insgesamt beliefen sich die 2011 wirksamen Tariferhöhungen nur auf 2% und lagen damit unter der Preissteigerungsrate von 2,3%.[3]  Die Verteilungsbilanz ist folglich negativ. Das tarifpolitische Ziel, den so genannten verteilungsneutralen Spielraum (2,3% Preis plus 1,3% Produktivität) auszuschöpfen, wurde deutlich verfehlt – wie alle Jahre zuvor seit 1996.[4] Wobei Branchen vom gesamtwirtschaftlichen Durchschnitt nach oben und unten abweichen. So konnte die IG Metall mit ihren Tarifabschlüssen den gesamtwirtschaftlichen Verteilungsspielraum annähernd ausschöpfen.[5]

Dass es in den Portemonnaies schließlich doch noch besser aussah, ist längeren Arbeitszeiten (Ende der Kurzarbeit, Überstunden) und außertariflichen Bonuszahlungen zu verdanken. Danach stiegen die Bruttolöhne um 3,4% (Monatsbasis) bzw. 2,8% (Stundenbasis). Nach langen Jahren wieder eine positive Lohndrift, während ansonsten die Verrechnung von außertariflichen Leistungen mit Tariferhöhungen (und damit eine negative Lohndrift) Praxis ist. Dies und die relativ stabile – allerdings prekarisierte – Beschäftigungsentwicklung sind die Grundlagen für steigende Konsumnachfrage im Binnenmarkt.

Neben dem deutlichen Unterschreiten des Verteilungsspielraums und einer positiven Lohndrift ist ein drittes Kennzeichen der Tarifrunde 2011 festzuhalten: »Die Abschlüsse zeigen insgesamt eine große Bandbreite, die den unterschiedlichen ökonomischen Rahmenbedingungen und tarifpolitischen Kräfteverhältnissen in den einzelnen Branchen und Tarifgebieten geschuldet ist. Aus Arbeitgebersicht ist gerade dies das hervorstechende und positive Merkmal der Tarifrunde. So kritisierte die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA) in ihrem Geschäftsbericht 2011 zwar die ›überzogenen Tarifforderungen‹, mit denen die Gewerkschaften ... in die Tarifrunde gestartet seien, lobten aber die ›differenzierten Tarifabschlüsse‹, die bewiesen, ›dass die Zeiten der Geleitzüge in der Tarifpolitik endgültig vorbei‹ seien«.[6]

Tarifpolitik in einer nicht endenden Krisenkonstellation

Die entscheidende Rahmenbedingung der Tarifpolitik der letzten Jahre ist eine nicht endende Krisenkonstellation. Die letzten beiden Tarifabschlüsse in der Metall- und Elektroindustrie in den Jahren 2008 und 2010 waren davon bestimmt. Bei genauerer Betrachtung gilt das sogar für das gesamte Jahrzehnt. Nach dem Platzen der New Economy-Spekulation 2000/2001 stagnierte die wirtschaftliche Entwicklung bis 2005. Die danach einsetzende Expansion brach Ende 2008 abrupt wieder ab. Seitdem erleben wir eine Entwicklung, die sich über verschiedene Kaskaden erstreckt: Immobilienkrise, Finanzkrise, Krise der Realwirtschaft, Schuldenkrise. Jede dieser Krisenetappen beinhaltet – unter dem Primat der Finanzmarktstabilisierung – Verteilungsrestriktionen und Umverteilungsprozesse, die tief in die Lebensverhältnisse einschneiden. Für eine große Zahl von Haushalten in Europa haben Immobilien massive Wertverluste erlitten – Deutschland ist da eine Ausnahme. Die Privatisierung der Sozialversicherung, insbesondere der Alterssicherung, erweist sich in der Vermögensbilanz als ein Flop mit wachsenden Unsicherheiten: Renditezusagen sind längst zurückgezogen. Die beschleunigte Prekarisierung der Arbeitsverhältnisse hat gut ein Drittel der abhängig Beschäftigten erfasst und mit einer verschärften Austeritätspolitik stehen Beschäftigung und Einkommen im Öffentlichen Dienst erneut unter verschärftem (auch Privatisierungs-)Druck. Sie alle bezahlen in den verschiedenen Krisenstadien nicht nur mit erhöhten Massensteuern, sondern zudem mit der baren Münze ihrer sozialen Existenz.

Die erste Schlussfolgerung, die wir mit anderen[7] daraus ziehen: Gewerkschaften brauchen ein »verteilungspolitisches Gesamtkonzept«, das neben der Primärverteilung – also der gleichsam klassischen Tarifpolitik zwischen Lohnarbeit und Kapital (erweitert um die öffentlichen Arbeitgeber etc.) – auch die Sekundärverteilung durch Steuern, Sozial-, Infrastruktur- und Arbeitsmarktpolitik etc. zum Gegenstand der Verteilungsauseinandersetzungen macht. Bei allen politischen Fortschritten in der Kritik neoliberaler Politik und mehr noch praktischen Fortschritten in der Auseinandersetzung um einen gesetzlichen Mindestlohn und die Re-Regulierung gesicherter Arbeitsverhältnisse (Leiharbeit) ist es bis heute nicht gelungen, einen überzeugenden Gesamtrahmen für eine übergreifende Politik unter dem Label »Gutes Leben« auszuarbeiten, der nicht nur normative Ansprüche formuliert, sondern diese zu Forderungen verdichtet und Kurs auf ihre tarif- und sozialpolitische Durchsetzung nimmt.

Unsere zweite Schlussfolgerung: Die gewerkschaftliche Tarifpolitik wäre gut beraten, sich auf die längere Dauer der gegenwärtigen Krisenprozesse einzustellen. Die Erwartung einer sich demnächst wieder einstellenden Prosperitätskonstellation oder auch nur eines länger währenden Konjunkturaufschwungs teilen wir nicht. Und doch gründet die klassische Entgeltpolitik, die sich am verteilungsneutralen Spielraum orientiert, auf dieser Grundlage: Ausgleich für das steigende Preisniveau und Teilhabe an der wachsenden gesellschaftlichen Reichtumsproduktion, ausgedrückt in steigender Produktivität.

Nehmen wir die erste Komponente: Was bedeutet es für die Tarifforderung, wenn die Preisentwicklung ganz widersprüchliche Signale sendet: einerseits fallend in einem krisenbedingt tendenziell deflationären Umfeld, andererseits steigend aufgrund realer oder spekulativer Knappheiten wie beim Ölpreis und auf Rohstoffmärkten?Da letzteres die Kostensituation der Unternehmen verschlechtert, ist absehbar, dass allein die Reallohnsicherung härter als bisher – im unternehmensverbandlichen Verständnis einer »produktivitätsorientierten« Tarifpolitik taucht die Preiskomponente schon nicht mehr auf – umkämpft sein wird.

Die zweite Komponente ist komplexer. Produktivität ist eine Wachstumskennziffer, die sich bei verbesserter Kapazitätsauslastung der Unternehmen und steigenden Investitionen positiv entwickelt. Allerdings kann die Kapazitätsauslastung auch optimiert werden durch entsprechendes Outsourcing und gesamtwirtschaftlich durch Kapazitätsabbau, nicht zuletzt mit der Folge steigender Arbeitslosigkeit. Was für die Beschäftigten ebenfalls maßgeblich ist, ist steigende Produktivität in Folge zunehmender Flexibilisierung und Intensivierung der Arbeit. Hier nun kommen wir zu des Pudels Kern: Letztlich geht es um die Produktivität der lebendigen Arbeit. Diese steigt beständig, was durch die krisenhafte Form der kapitalistischen Organisation der gesellschaftlichen Produktion jedoch immer wieder aufgezehrt oder zunichte gemacht wird. Im Kontext einer anderen Rationalität ist steigende Produktivität also durchaus mit niedrigen oder stagnierenden Wachstumsraten koppelbar und durch entsprechende Arbeitszeitverkürzung ohne gravierende arbeitsmarktpolitische Folgen organisierbar.

Was wir mit diesen – stark verkürzt notierten – Anmerkungen deutlich machen wollen: Geboten ist eine inhaltliche Klärung traditioneller Eckpunkte gewerkschaftlicher Entgeltpolitik. Die »lange Krise« setzt diese Debatte auf die gewerkschaftspolitische Tagesordnung.

Am Beispiel der IG Metall

Seit 2008 betreibt die IG Metall Tarifpolitik unter Krisenbedingungen – und unserer Einschätzung nach wird das in den nächsten Jahren die Grundmelodie bleiben. Gegenwärtig werden in den Tarifkommissionen die Forderungen für die Tarifrunde 2012 diskutiert, über die der IG Metall-Vorstand am 24. Februar beschließt. Nach der Prognose des Sachverständigenrats vom November 2011 – die den Rahmendaten der IG Metall zugrunde liegt – ist für 2012 gesamtwirtschaftlich mit einer Steigerung von 1,9% und einer Erhöhung der Stundenproduktivität von 1% zu rechnen. Der verteilungsneutrale Spielraum läge demzufolge bei 2,9%. Skeptischer ist da das IMK der Hans-Böckler-Stiftung: Deren Prognose zufolge dürften die Preise nur um 1,6% und die Stundenproduktivität um 0,2% steigen. Verteilungsneutraler Spielraum: 1,8%.[8] Im Grunde bieten beide Prognosen wenig Stoff für eine offensive Mobilisierung in der Tarifrunde 2012.

Nicht ganz zu Unrecht wird in der IG Metall argumentiert, dass der Blick allein auf das laufende Jahr die realen Verteilungsverhältnisse verzerrt. Für den Gesamtzeitraum 2011/2012 liegt der verteilungsneutrale Spielraum bei 6,5%, wovon durch den letzten Tarifabschluss erst 2,7% realisiert worden sind. Daraus folgernd besteht restierend aus 2011 und neu in 2012 ein Verteilungsspielraum von insgesamt 3,8%. Zusammen mit einer Umverteilungskomponente lässt sich damit eine Tarifforderung von sechs bis sieben Prozent begründen.

Ökonomen werden entgegenhalten, dass jeweils nur aus der laufenden Periode der Reichtumsproduktion, also 2012, verteilt werden kann – nicht nachträglich. Die auf zwei Jahre bezogene Forderung lässt sich nur politisch begründen, damit, dass der letzte Tarifabschluss zu niedrig war und dementsprechend Umverteilungsansprüche bestehen. Das macht Sinn: Umverteilung zur Korrektur falscher Verteilungsverhältnisse aus der vorlaufenden Periode.[9]

Vollkommen richtig ist das Argument, dass gerade 2012 in Zeiten einer erneuten rezessiven Entwicklung in Europa die Stärkung der Binnennachfrage in Deutschland zentral ist. Das gilt es in der Tarifrunde 2012 stark zu machen.

Die Debatte über ein verteilungspolitisches Gesamtkonzept unter anhaltenden Krisenbedingungen sollte dadurch aber nicht erledigt sein.

Richard Detje ist Redakteur von Sozialismus. Otto König ist Mitherausgeber von Sozialismus.

[1] Da diese nicht in den Entgeltsockel eingehen, werden sie auch bei nachfolgenden prozentualen Erhöhungen nicht berücksichtigt.
[2] So der frühere Bundeswirtschaftsminister Brüderle.
[3] Hierzu und folgend: R. Bispinck/WSI-Tarifarchiv: Tarifpolitischer Jahresbericht 2011: Höhere Tarifabschlüsse – Konflikte um Tarifstandards – Neue Tarifregelungen. Düsseldorf, Januar 2012.
[4] »Die Löhne in Deutschland haben seit 1996 bis zur Krise nicht mehr den Verteilungsspielraum ausgeschöpft (Horn/Stein 2010) und auch 2011 setzte sich diese Entwicklung fort«. G. Horn/A. Herzog-Stein/S. Tober/A. Truger: Den Bann durchbrechen. Wirtschaftspolitische Herausforderungen 2012. IMK-Report 70, Januar 2012, S. 9.
[5] Was bei negativer Lohndrift allerdings nicht für die Effektiveinkommen gilt.
[6 Bispinck/WSI-Tarifarchiv, a.a.O., S. 4f. Gabriele Sterkel und Jörg Wiedemuth haben darauf in aller Deutlichkeit hingewiesen und daraus Schlussfolgerungen für die Neuausrichtung der Tarifpolitik der DGB-Gewerkschaften gezogen. Siehe G. Sterkel/J. Wiedemuth: Neue solidarische Tarifpolitik, in: Sozialismus 9-2011, S. 26-31.
[7] C. Ehlscheid/K. Pickshaus/H.-J. Urban: Die große Krise und die Chancen der Gewerkschaften – Ein Beitrag zur Strategiedebatte, in: Sozialismus 6/2010, S. 43ff
[8] Arbeitskreis Konjunktur: Im Bann der Austeritätspolitik. Prognose der wirtschaftlichen Entwicklung 2012. IMK-Report Nr. 69, Dezember 2011, S. 12 und 17.
[9] Dass die Arbeitgeber damit kontern werden, dann auch die harten Krisenjahre 2009/2010 einzubeziehen, müsste nicht in einem Nullsummenspiel enden, sondern könnte den Blick auf die verteilungspolitische Gesamtbilanz schärfen. Dabei geht es für die IG Metall nicht – wie in anderen Branchen – um die Unterschreitung des gesamtwirtschaftlichen Verteilungsspielraums, sondern um die globalen, in erster Linie europäischen Folgen einer Tarifpolitik, bei der sich die Unternehmen den Überschuss der sektoralen Produktivität einseitig aneignen und daraus wettbewerbspolitisch Preisvorteile schöpfen können.

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