28. März 2011 Karl Georg Zinn

Technik als Prügelknabe politischer und ökonomischer Verantwortungslosigkeit

Das intensive Wirtschaftswachstum der vergangenen 250 Jahre, d.h. der Anstieg des statistischen Pro-Kopf-Einkommens, verdankt sich vor allem dem so genannten technischen Fortschritt. Ohne die Entwicklung der modernen Technik wäre auch das Bevölkerungswachstum – von einer Milliarde um 1800 auf heute sieben Milliarden – nicht möglich gewesen. Hierin mag bereits eine gewisse Ambivalenz der Anwendungsfolgen der Technik gesehen werden, denn der Anstieg der Weltbevölkerung wirkt sowohl als Hauptursache als auch als Begründung der Notwendigkeit weiteren Wirtschaftswachstums.


»Restrisiken« – legitimiert durch Technikabhängigkeit des Wachstums?

Bisher ist es nicht möglich gewesen, Wirtschaftswachstum vom Energieverbrauch zu entkoppeln. Um das Wirtschaftswachstum aufrecht zu erhalten, wurden auch Energietechniken eingesetzt, deren negative Folgen bekannt waren: CO2-Ausstoß beim Einsatz von Kohle, Erdöl und Erdgas sowie die als »Restrisiko« bezeichnete Möglichkeit eines Super-Gaus von Atomkraftwerken, für die jedoch keine statistisch berechenbare Eintrittswahrscheinlichkeit existiert. Für extreme, aber nicht völlig unmögliche Atomunfälle lässt sich das maximal mögliche Ausmaß der menschlichen Opferzahlen, der wirtschaftlichen Verluste und der geografischen Ausdehnung nicht seriös bestimmen. Gleiches gilt für das »zweite Restrisiko« der Atomkraft, nämlich den aus den bisher ungelösten Problemen der Endlagerung des Nuklearabfalls resultierenden, zudem sehr langfristig anhaltenden Havarie-Potenzialen. Dieses Risiko lässt sich auch nicht mehr durch die Abschaltung von AKWs aus der Welt schaffen.

Wegen der völligen Ungewissheit über den denkbaren Eintritt und die wirtschaftlichen Schäden bzw. monetären Schadenssummen eines atomaren Extrem-Gaus lassen sich AKWs auch nicht versichern. Streng marktwirtschaftlich betrachtet, dürften somit Atomkraftwerke in diesen Ordnungen gar nicht existieren. Dass es sie dennoch gibt, und viele Länder auch nach der japanischen Atom-Katastrophe an ihren Ausbauplänen für Atomkraft für eine unabsehbare Zeit festhalten wollen, ist auf politische Entscheidungen zurückzuführen, muss politisch verantwortet werden und folgt den von der jeweiligen Politik vertretenen Interessen. Technische Systeme, die sich wegen ihrer Gefährlichkeit und ihres potenziellen Schadensvolumens nicht versichern lassen, dürften unter zivilgesellschaftlichen Verhältnissen prinzipiell gar nicht real existieren, sondern könnten allenfalls als Science-Fiction-Szenarien in einer geistig vorgestellten Welt existieren, der die reale Entsprechung fehlt. Wenn super-gefährliche technische Systeme trotz ihres zivilgesellschaftlichen Legitimitätsmangels installiert, genutzt und zumindest temporär selbst von demokratischen Gesellschaften geduldet werden, mussten historische Bedingungen vorhanden gewesen sein, die durch Zwang und/oder Unkenntnis der illegitimen Technik zur realen Existenz verhalfen. Damit ergab sich eine Abhängigkeit von dieser Technik, die sich schließlich bis zur existenziellen Notwendigkeit, die Technik weiterhin zu nutzen, auswuchs. Es liegt also ein »Reuseneffekt« vor: Hinein geht es leicht, aber herauskommen ist (fast) unmöglich. Weil das Überleben der (anwachsenden) Weltbevölkerung von der Technik im Sinn dieses Reusen­effektes abhängig wurde, gewinnt die Hinnahme des »Restrisikos« der betreffenden Technik in der Pro-und-Contra-Abwägung ggf. das Übergewicht.

Genau diese Situation ist inzwischen eingetreten. Es ist eine paradoxe Situation, denn die Technik, die als Voraussetzung des Bevölkerungswachstums fungiert, erfährt gerade durch die Bevölkerungszunahme eine weitere Steigerung ihres »Restrisikos«. Auf den konkreten Fall der Atomkraft bezogen zeigt sich das daran, dass mit wachsender Bevölkerung bzw. Bevölkerungsdichte das als »Restrisiko« bezeichnete Zerstörungs- und Schadenspotenzial ebenfalls ansteigt. Die Möglichkeiten, »Restrisiko-Technik« durch höheren technischen Aufwand sicherer zu machen, sind weder durchgängig ausgeschöpft worden, noch gibt es absolute technische Grenzen zur Steigerung der Sicherheit. Doch mit steigendem Sicherheitsniveau steigen auch die Kosten der Sicherheit. Bekanntlich wurden in vielen Fällen Sicherheitsmöglichkeiten nicht voll realisiert, ja sogar vorgeschriebene Sicherheitsauflagen umgangen oder unzureichend erfüllt. In der Regel sind solche Verstöße gegen die Sicherheit gewinnwirtschaftlich motiviert. Was über Vertuschungen und Schlampereien von Tepco (Tokyo Electric Power Company), des Betreibers der Fukushima-Reaktoren, bekannt wurde, findet nur deshalb besondere Aufmerksamkeit, weil es zur Katastrophe kam.[1] Vergleichbare Sicherheitsmängel und Verstöße dürften sich jedoch weltweit bei etlichen AKWs finden.

Offensichtlich funktioniert die staatliche Aufsicht unzureichend. Wenn ein »Restrisiko-Fall« eintritt, tragen die unmittelbar Geschädigten, allenfalls noch die Gesellschaft als Kollektiv der Steuerzahler die Kosten. Unzulängliche staatliche Aufsicht und mangelhafte Kontrolle gegenüber der finanzkapitalistischen Spekulation bildeten auch notwendige Voraussetzungen für die Entstehung der großen Finanzkrise. Auch in diesem Fall eines finanzkapitalistischen Super-Gaus werden die Verluste vergesellschaftet. Wie konnte es dazu kommen, dass sich demokratische Staaten durch ihre Begünstigung von Wirtschaftsinteressen, durch die Kooperation zwischen Politik und Ökonomie zu solch gemeinwohlschädlicher Nachlässigkeit gegenüber den »Restrisiken« verstanden? Handelt es sich um einen heilbaren Betriebsunfall oder einen Systemfehler? Das ist hier nicht weiter zu diskutieren. Aber auf das allgemeine Phänomen einer gewissen Willfährigkeit demokratisch gewählter Regierungen gegenüber Wirtschaftsinteressen, einer Willfährigkeit mit Katastrophenpotenzial, sollte hier doch kurz hingewiesen werden.

Mit Blick auf die Vor- und Nachteile aller Techniken mit Restrisiken müssten künftig andere Entscheidungsverfahren praktiziert werden, als sie bisher angewandt wurden. Denkbar wären Volksabstimmungen, denen umfassende Informationen über das maximale Katastrophenpotenzial eines Restrisikos zugrunde liegen und denen ausführliche öffentliche Diskussionen darüber vorausgehen müssten. Eine Gesellschaft muss selbst darüber entscheiden können, ob sie Techniken mit »Restrisiken«, insbesondere im Fall der auch nur partiellen Irreversibilität installierter technischer Systeme, akzeptieren oder ablehnen will. Gegebenenfalls muss die Gesellschaft bei einer Contra-Entscheidung einen stagnierenden oder gar sinkenden materiellen Lebensstandard in Kauf nehmen, aber zumindest in den reichen Volkswirtschaften hieße das kaum mehr, als den systembedingten »Konsumismus« zurückzufahren. Restrisiken erstrecken sich weit in die Zukunft hinein, und es sind noch längst nicht alle »modernen« Techniken auf ihre Langfristwirkungen hin transparent gemacht worden. Beispielsweise könnte sich herausstellen, dass genveränderte Nutzpflanzen in einigen Jahrzehnten negative Folgen zeitigen, die für die dann lebende Generation katastrophale Ausmaße erreichen. Deshalb wäre es geboten, Kindern ein Stimmrecht zu geben, das je nach einer festzulegenden Altersgrenze entweder von den Eltern oder von den stimmberechtigten Kindern selbst ausgeübt wird. Gerade Deutschland mit seiner im internationalen Vergleich extrem niedrigen Geburtenziffer (1,34 Kinder pro Frau im Jahrfünft 2000/05) und einer entsprechend rasch alternden Bevölkerung wäre prädestiniert, bei Restrisiko-Entscheidungen seinen Kindern das Stimmrecht einzuräumen.


Steigender Ressourcenverbrauch infolge »Kannibalisierung«

Die Komplementarität zwischen Wirtschaftswachstum und Energieverbrauch steht außer Zweifel. Ob und in welchem Ausmaß sich durch technische Innovationen die Energieproduktivität steigern, somit der Energiebedarf pro Sozialprodukteinheit senken lässt, ist nicht genau vorhersehbar, wenn auch die weitere technische Entwicklung von der Politik in die­se Richtung gelenkt werden könnte. Es müsste jedoch der Rebound-Effekt unterbunden werden, sonst kommt es zu dem als »Jevons-Paradoxon« bekannten Mehrverbrauch der Ressource: Dank der Produktivitätssteigerung wird der Faktor (Energie) effizienter genutzt, sodass Stückkosten und Preis sinken, was zu einer Mehrnachfrage bzw. -produktion führen kann. Wenn mögliche Einsparungen durch steigende Faktorproduktivität infolge simplen Mehrverbrauchs bzw. Wachstums einfach »wegkannibalisiert« werden, wie sich bei einschlägigen Fällen immer wieder zeigte, erwiese sich die dank technischer Verbesserungen erreichte Produktivitätssteigerung als umwelt- und ressourcenpolitisch kontraproduktiv – eben als Bestätigung des Jevons-Paradoxons.

Es ist jedoch ganz unwahrscheinlich bzw. wohl physikalisch unmöglich, irgendeine Art von Wirtschaftswachstum ohne zusätzlichen Energieverbrauch zu erreichen, zumal auch die Umstellung von alten auf neue Energiesysteme (Investitions-)Wachstum erfordert. Der Übergang von »gefährlich« zu »ungefährlich« ist wachstumswirksam. Substitution ist nicht kostenlos möglich. Wenn also auch weiterhin Wachstum in den reichen Volkswirtschaften trotz ihres Bevölkerungsrückgangs stattfinden sollte, und in den ärmeren Ländern mit stark anwachsender Bevölkerung Wachstum zur Deckung der Grundbedürfnisse notwendig ist, wird auch der Energieverbrauch weiter steigen. Es ist also realistisch von einem anhaltenden globalen Wachstum von Wirtschaft und Energieverbrauch auszugehen, wie immer sie auch geografisch verteilt sein werden. Hierbei lässt sich der Anteil regenerativer Energien schrittweise erhöhen. Doch es erscheint praktisch ausgeschlossen, in den nächsten Jahrzehnten auf die traditionellen, umweltschädlichen, mehr oder weniger katastrophenträchtigen Energietechniken generell/weltweit zu verzichten. Möglich sind allerdings regenerative Leuchttürme, d.h. wohlhabende Volkswirtschaften können es sich leisten und sind technologisch in der Lage, die Umstellung auf regenerative Energie schneller und schließlich vollständig zu realisieren. Ihre Modellwirkung liegt auf der Hand und kommt den Modell-Ökonomien durch steigende Exporte von regenerativer Energietechnik auch selbst zugute.

Es mag einen psychologischen Zusammenhang zwischen der hohen Sensibilität für Restrisiken und der im Ausland als »German Angst« bekannten, uns nachgesagten mentalen Disposition geben. Was ist daran zu bemängeln? Angst ist ein natürliches Warnsignal, und wenn es versagt, hat das in der Regel nur negative Folgen. Die Diffamierungsrhetorik der Atomfreunde, die die berechtigte Atom-Angst als »hysterisch« attackiert, zeugt doch – wenn nicht von Angst – so doch von Verantwortungsschwäche. Die energiewirtschaftliche Umstellung bedeutet, der Technikentwicklung eine andere Richtung zu geben, nämlich Technik nicht mehr in erster Linie als Wachstumsstütze zu denken und zu entwickeln, sondern die Innovationsaktivitäten auf die Lösung der Umwelt-, Ressourcen- und Klimaprobleme zu konzentrieren. Wirtschaftswachstum brachte bisher zunehmende Umweltzerstörung, progressiven Verbrauch erschöpfbarer Naturressourcen und trug zum Klimawandel bei.

Es stellt sich daher die Frage, ob die auf weiteres Wirtschaftswachstum zielenden Techniken nicht mehr Schaden als Nutzen stiften, sodass eben eine Umorientierung von wachstumsorientierten zu wachstumsneutralen Einsparungs- und Schontechniken geboten ist. Eine solche Richtungsänderung des technischen Fortschritts vollzieht sich jedoch nicht durch technikendogene Entscheidungen und Prozesse, sondern verlangt politische bzw. gesellschaftliche Regulierung. Auch in der Vergangenheit wurde die Entwicklungsrichtung der Technik von technikexogenen Kräften bestimmt – eben jenen Kräften, die auf Wirtschaftswachstum setzten und dabei auch jene Problemkumulation in Kauf nahmen, die sich in Umweltzerstörung, Klimawandel usw. äußert. Auch künftig sind es technikexogene Einflüsse, die die Technikentwicklung bestimmen, aber notwendig ist eben eine Richtungsänderung.


Wessen Interessen sind maßgeblich?

Vor dem Hintergrund der allgemeinen Charakterisierung des Verhältnisses von Technik und Wirtschaftswachstum ist auch der aktuelle »Spezialfall« des japanischen Super-Gaus von Fukushima nicht als Technikversagen zu verstehen, sondern als Fehlanwendung von Technik durch technikexogene Interessen zu charakterisieren. Der Begriff »Restrisiko« stellt keine technikendogene Kategorie, keinen technischen Fachbegriff dar, sondern wurde der Technik sozusagen von technikexogenen Mächten zugewiesen. Diese von außerhalb der Technik erzwungene Zumutung traf zwar bei den Fachleuten auf zu geringe Abwehr oder wurde sogar opportunistisch gewendet, um der Technik materielle und immaterielle Zuwendung zu sichern, aber dieses partielle Versagen erklärt sich technik-soziologisch und ist kein technikendogener Makel.

Es ist ja leicht verständlich, dass die hoch qualifizierten, spezialisierten Arbeitskräfte eines AKWs analog etwa zu den Beschäftigten der Rüstungsindustrie um ihre Arbeitsplätze bangen, wenn »abgerüstet« wird. Die damit auftretenden sozialen Belange erfordern eine gerechte Antwort seitens der Gesellschaft, die es aus Vorteilsdenken lange zuließ, dass menschliche Existenzen an den Betrieb nunmehr als zu gefährlich verworfener Anlagen gebunden wurden. Es wäre zynisch, die im Betrieb gefährlicher Techniken Beschäftigten irgendwie für die »plötzlich« erkannte Gefährlichkeit der Technik in Verantwortung zu nehmen. Als abhängige Beschäftigte sind Forscher, Ingenieure und Techniker gleichen Zwängen wie andere Arbeitnehmer unterworfen und können sich kaum den Loyalitätsforderungen ihres Arbeitgebers entziehen. Unabhängige Wissenschaftler verfügen hingegen über weitaus größere Freiheitsspielräume. Allerdings unterliegen auch sie gewissen Verführungen, neigen zum Karriereopportunismus, beugen sich den Erfordernissen der Beschaffung kontingentierter »Drittmittel« oder zeigen sich aus anderen Gründen »zurückhaltend« bei der Erforschung oder Publikation von Wahrheiten, die den Machteliten unangenehm aufstoßen könnten.

Trotz dieser Unzulänglichkeiten auch im Bereich der »unabhängigen« Forschung ist es Faktum, dass die wichtigsten Beiträge zur kritischen Aufklärung der Öffentlichkeit über Umweltzerstörungen, Klimawandel, Technikmissbrauch und dergleichen katastrophenträchtige Folgen der von Politik und Wirtschaft zu verantwortenden Entscheidungen von Wissenschaftlern, Ingenieuren, Technikern und anderen fachlich Informierten kamen, und dann auch von zivilgesellschaftlich verantwortungsbewussten Medien aufgegriffen und verbreitet wurden. Ohne die­se Informationsgrundlage fehlte vielen Bürgerinitiativen und Nicht-Regierungsorganisationen das für ihre Überzeugungsarbeit erforderliche Wissen.


»Restrisiko« – späte Entdeckung eines Unwortes

In fast allen Fällen vermeintlichen Technikversagens lagen die eigentlichen Ursachen außerhalb der Technik. Technik­exogene, insbesondere wirtschaftliche Interessen, aber auch Prestigedenken, Ehrgeiz und dergleichen Motivationen führten zu Fahrlässigkeit, unzureichender Sicherheit, Fehlinformation, Vertuschung und zynischer Verharmlosung. Die »Titanic« war kein unsicheres Schiff. Ihr Untergang war nicht die Schuld der Ingenieure und Arbeiter, sondern des ehrgeizigen Kapitäns. Sein Ehrgeiz war ihm nicht angeboren, sondern gesellschaftlich vermittelt worden. Konkurrenzverhalten, nationalistisches Auftrumpfenwollen, immaterielle und materielle Vorteilserwartung und dergleichen kulturhistorisch zu erklärende Einflussfaktoren überspielten Verantwortungs- und Pflichtgefühl. Die Technik trägt nicht die Schuld an ihrem Missbrauch und der Missachtung der Risiken ihrer Anwendung. Technikexogene Motivation kann sich eben darüber hinwegsetzen, dass irgendein GAU, den die technischen Experten für möglich, also als nicht absolut auszuschließen beschrieben hatten, von technikexogenen Machtträgern einfach als völlig unwahrscheinliches »Restrisiko« deklariert wird, um die wirtschaftliche Nutzung der betreffenden Technik als »verantwortbar«, gar als notwendig zu sanktionieren. Der Begriff »Restrisiko« ist nichts weiter als eine propagandistische Leerformel, deren Interpretation durch die jeweiligen Interessen bestimmt wird.

Zusammenfassend ergibt sich, dass die Hinnahme von »Restrisiken« kein technisches, sondern ein politisches bzw. gesellschaftliches Problem darstellt. Die Sicherheitsrhetorik verschleiert den Zynismus, der erst im konsequent entfalteten Gedanken offenbar wird, dass mit der Hinnahme eines »Restrisikos« Tausende, Hundertausende, gar Millionen Tote in Kauf genommen werden, weil diese Möglichkeit als ausgeschlossen interpretiert wird. Wer aber hat die Macht, seine Entscheidungen mit solcher Interpretation zu legitimieren? Dem zynischen Bewusstsein entstammt die Kollateralschaden-Semantik. Einer lokalen Katastrophe infolge des Eintretens eines Restrisikos folgen immer die gleichen Bekundungen, Beteuerungen und Betroffenheitsriten, aber angesichts der auf mehrere Milliarden Menschen angewachsenen Weltbevölkerung verblasst sie letztlich zum demografisch unerheblichen Kollateralschaden des so genannten technischen Fortschritts.


Massenvertrauen – Spekulationskapital der »Restrisiken«-Profiteure

Wer sind die Interpreten der Restrisiko-Kategorie und wer fällt die relevanten Entscheidungen? Betroffen sind viele, aber die Macht, die relevanten Entscheidungen zu treffen, haben nur wenige. Den Wenigen wird von den Vielen in der Regel vertraut, dass es sich beim »Restrisiko« eigentlich um ein Null-Risiko handele. Die Atomlobby hat beispielsweise das Geld, um Werbeagenturen zu beauftragen, die Öffentlichkeit pro AKW zu beeinflussen. Selbst gezinkte Blog-Beiträge gehören zu der einschlägigen »Informationspolitik«.

Die Schuld am fahrlässigen Umgang mit Technik, an unzureichender Sicherheitspolitik, an der Zulassung von »Restrisiko-Technik« trifft politische und ökonomische Interessen. Sie bemächtigen sich der Wissenschaft und der Technik für Zwecke, die den Einsatz von Wissenschaft und Technik pervertieren. Vor allem sind es wirtschaftliche Interessen, die den Technik-Missbrauch i.w.S. befördern. Wirtschaftliche Interessen umfassen zwar als größte Teilmenge das Gewinninteresse, aber generell geht es um Wirtschaftswachstum, auf das auch viele abhängig Beschäftigte ihre Hoffnungen setzen. Demokratisch gewählte Regierungen, die den Kapitalinteressen Vorzug vor denen der Bevölkerung einräumen, können sich also bei ihrer kapitalfreundlichen Politik auch auf Arbeitsplatzinteressen stützen und sich auf diesem Weg Zustimmung verschaffen. Die Duldung auch von ganz üblen gewinnwirtschaftlichen Praktiken erscheint dann »beschäftigungspolitisch« legitimiert. Beispielsweise gehört dazu der technisch mögliche und politisch geduldete »geplante Verschleiß«[2] von Konsumgütern. Es sind die technik­exogenen Gewinninteressen, die dem geplanten Verschleiß zugrunde liegen, und er wird i.d.R. gegen das Selbstverständnis der abhängig beschäftigten Ingenieure und Techniker erzwungen. Auch folgen Konstruktion und Produktion von Massenvernichtungswaffen nicht einer technikendogenen Eigendynamik, sondern politische Interessen sind dafür entscheidend. Bei der Minimierung oder Umgehung von Sicherheitsvorgaben für technikhaltige Güter und Dienstleistungen ist ebenfalls nicht die Technik per se verantwortlich, sondern die betriebswirtschaftliche Kosten- bzw. Gewinnorientierung dominiert. Viele angeblich durch technisches Versagen verursachte kleine und große Katastrophen finden ihren eigentlichen Grund in der profitwirtschaftlichen Dominanz über den Technikeinsatz. Sicherheit kostet Geld. Die Kosten vermindern Gewinne, weshalb sicherheitstechnische Vorkehrungen minimiert werden oder auch ganz unterbleiben. Begünstigt wird das ggf. durch fehlende oder nachlässige (staatliche) Aufsicht, wobei nicht selten Korruption im Spiel ist. Beispielsweise ging die Ölkatastrophe von 2010 im Golf von Mexiko auf betriebswirtschaftlich motivierte Verantwortungslosigkeit zurück. Sicherheitsvorschriften wurden aus Kostengründen missachtet, was durch die »Großzügigkeit« der staatlichen Aufsichtsorgane erleichtert wurde. Die Hintanstellung der neuesten technischen Sicherheitskriterien bei der Verlängerung der Laufzeiten deutscher Atomkraftwerke hatte ebenfalls wirtschaftliche Gründe. Bekanntlich gelang es der deutschen Atom­industrie, eine ihr gewogene Regierung und deren parlamentarisches Fußvolk zu jener für die AKW-Betreiber sehr lukrativen Revision des bereits gesetzlich vorgesehenen Ausstiegs aus der Atomenergienutzung zu veranlassen, und erst die unerwartete japanische Nuklearkatastrophe machte diesem Zusammenspiel von Politik und Atomlobby ein Ende.[3]

Die menschliche Spezies erwies sich aufgrund ihrer Lern- und Anpassungsfähigkeit befähigt, auch unter »unmenschlichen« Bedingungen zu überleben, aber zugleich tragen jene innovationsträchtigen Fähigkeiten auch dazu bei, unmenschliche Verhältnisse herzustellen und überdauern zu lassen. Gegen diese historisch belegte Fehlentwicklung hilft nur die Vernunft. Sie muss sich nicht zuletzt gegen die kryptische Metaphysik der herrschenden Ökonomik wehren. Vielleicht sind gerade Ingenieure und Techniker am ehesten dazu prädestiniert, mit nüchterner Rationalität gegen die der Technik durch technikexogene Interessen aufoktroyierten menschenfeindlichen Zumutungen anzukämpfen.

Karl Georg Zinn ist emeritierter Hochschullehrer der Volkswirtschaftslehre der Rheinisch-Westfälischen Technischen Hochschule.

[1]  Wer die recht ausführliche Berichterstattung zur japanischen Katastrophe in den Medien verfolgte, kam nicht umhin, einen erheblichen Mangel an kritischem Nachfragen festzustellen. Dass die japanischen Medien sich anscheinend lange Zeit in obrikeitshöriger Zurückhaltung übten, anstatt durch angemessene Kritik an der durchaus »katastrophalen« Informationspolitik von Tepco und japanischer Regierung sich eindeutig auf die Seite der Opfer zu schlagen, sei hier nur festgestellt. Ärgerlich ist hingegen, dass die deutschen TV-Kanäle abgesehen von der wiederkehrenden Beschränkung auf simple Wiederholungen der offiziellen japanischen Verlautbarungen viel zu wenig auf mögliche Versäumnisse und Schlimmeres der Betreiberfirma Tepco einzugehen versuchten. So musste es bereits einen technischen Laien erstaunen, warum nicht zu ermitteln versucht wurde, warum in den Reaktorgebäuden, die weder durch die Erdbeben noch den Tsunami »umgeworfen« worden waren, die mit Dieselkraftstoff betriebenen Notstromaggregate ausfallen konnten. Die Reaktorbecken waren, soweit die Informationen zutreffen, nicht durch den Tsunami überschwemmt worden, also konnten wohl auch Notstromleitungen und andere Leitungen nicht zerstört worden sein, sofern sie »angemessen« ausgelegt worden waren. Insgesamt ergibt sich aus meiner subjektiven Sicht, dass sich die deutschen Medien in einer angesichts der Katastrophe völlig unangebrachten »Pietät« solch kritischer Betrachtungen zur japanischen Atomlobby und Atompolitik enthielten, was sicherlich auch im Interesse der deutschen Atomlobby gewesen sein dürfte. Denn so ließ und lässt sich der japanische Super-Gau leichter als Folge von der Naturkatastrophe »erklären«, und solche Naturereignisse sind in Deutschland in der Tat nicht zu erwarten bzw. nicht vorgesehen. Es könnte aber sein, dass Erdbeben und Tsunami nur deshalb den AKW-Gau auslösten, weil Tepco irgendwie und irgendwo geschlampt hatte, was ja nicht das erste Mal gewesen wäre.
[2] Es liegt in der Natur der Sache, dass der geplante Verschleiß möglichst verborgen bleiben soll. Deshalb werden solche Fälle als Spitze des Eisbergs nur gelegentlich bekannt – etwa der Verzicht auf die Produktion von Glühbirnen mit faktisch unbegrenzter Lebensdauer, auf laufmaschenfreie Nylonstrümpfe oder die per Programmierung begrenzte Zahl von Ausdrucken von Tintenstrahl- und Laserdruckern.
[3] Damit sind aber auch die monopolistischen oder oligopolistischen Strukturen des Energiemarktes in Frage gestellt und wirksame öffentliche Kontrolle ist neu gefordert worden.

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