1. Juni 2006 Bernd Riexinger

Trendwende

Der längste Arbeitskampf im öffentlichen Dienst ist zu Ende. Nach den Abschlüssen auf kommunaler Ebene konnte Mitte Mai auch mit der Tarifgemeinschaft der Länder eine Verständigung über Arbeitszeiten, Entgelte und die Übernahme des neuen TVöD erzielt werden. Damit ist die Gefahr eines tariflosen Zustands, der tariflichen und außertariflichen Spaltung der Beschäftigten und des Endes des Flächentarifvertrages gebannt. Im Folgenden wird zwei Fragen nachgegangen: Wie hoch sind die tariflichen und politischen Kosten des Abschlusses? Und: Welche Folgen sind aus der Aufarbeitung der Streiks zu ziehen?

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Es war richtig, dass ver.di den neunwöchigen Streik geführt und sich von Anfang an auf keinen Tarifabschluss auf dem Verhandlungswege eingelassen hat. Diese Entscheidung hat eine gewisse Risikobereitschaft vorausgesetzt, die sich jedoch gelohnt hat. Ver.di in Baden-Württemberg ist aus diesem Konflikt in jeder Hinsicht organisatorisch und politisch gestärkt herausgegangen. Der Streik hat jedoch auch organisatorische und strukturelle Schwächen deutlich gemacht, die in den kommenden Jahren zwingend behoben werden müssen. Im Streik machten die Beteiligten unverzichtbare Erfahrungen mit dem Gegner und mit ihrer eigenen Solidarität, auf die ver.di in der Zukunft zurückgreifen kann. Das Ergebnis ist ebenfalls ein Erfolg und entspricht dem Kräfteverhältnis, wie es sich im Laufe des Streikes herausgebildet und herausgestellt hat. Es wird von den Streikenden fast ausnahmslos als Erfolg und nicht als Niederlage begriffen.

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Der Streik spiegelt im Öffentlichen Dienst eine Trendwende im Bewusstsein vieler Beschäftigten wider, auf die gewerkschaftspolitisch aufgebaut werden kann. Allen Unkenrufen zum Trotz war das Thema Arbeitszeit mobilisierungs- und streikfähig. Der Bezirk Stuttgart hatte im Vorfeld eine Kampagne mit den Aktiven wichtiger Streikbetriebe entwickelt und durchgeführt, die vier Slogans beinhaltete:

38,5 bleibt – sonst streikt’s!

  Damit nicht noch mehr Menschen arbeitslos werden!

  Damit Arbeitsüberlastung nicht Gesundheit und Familie kaputt macht!

  Damit die Qualität der öffentlichen Dienstleistung nicht leidet!

  Damit die Jugend eine Zukunft hat!

Damit wird umrissen, was die Motivation der Streikenden war. Wichtigste Triebkraft war eindeutig das Ziel, weiteren Stellenabbau und damit eine Zunahme der Massenarbeitslosigkeit zu verhindern. Darin eingeschlossen ist das Ziel, der Jugend (dabei auch die der eigenen Kinder) die Zukunftschancen nicht völlig zu verbauen. Es ging nicht in erster Linie um die eigenen Arbeitsplätze. Die Beschäftigten in den Kindertageseinrichtungen haben zum Beispiel dafür gestreikt, dass ihre befristet eingestellten Kollegen/innen unbefristete Arbeitsverträge erhalten und nicht arbeitslos werden. Offensichtlich gibt es bei vielen Beschäftigten ein soziales Verantwortungsgefühl und Elemente von solidarischem Bewusstsein, das dem neoliberalen Selbstverständnis des marktorientiertem Ich-Menschen entgegenläuft. Bei vielen Streikenden herrschte auch das "Gefühl" vor, jetzt muss endlich mal Schluss sein mit den Angriffen auf unsere Tarifverträge und sozialen Standards. Darin spiegelt sich wider, dass immer mehr Menschen nicht mehr an die neoliberale Heilslehre der Deregulierung, der Reallohnsenkung, Privatisierung und Vermarktlichung aller Lebensbereiche glauben.

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Die Härte der Auseinandersetzung und das Gebaren der öffentlichen Arbeitgeber hat zu einer Politisierung großer Teile der Streikenden geführt. Nach mehreren Wochen Streik konnten die Streikenden erkennen, dass dies ein politischer Streik war, bei dem es nicht mehr allein um die Frage einer Arbeitszeitverlängerung ging. Viele Streikende machten die Erfahrung, dass sie auf einmal nicht mehr die "lieben Mitarbeiter/innen" waren, sondern von ihren Stadtführungen im Streik zu Gegnern erklärt wurden, die verantwortungslos ihre Interessen auf dem Rücken der Bürger/innen austragen wollen. Je länger die Auseinandersetzung ging, umso mehr rückte in den Vordergrund, dass nennenswerte Teile des Arbeitgeberlagers am liebsten gar keine Tarifverträge mehr wollen, wenn sie ihre Tarifdiktate nicht durchsetzen können. Der Streik wurde zunehmend ein Kampf um die grundlegende Stellung von ver.di (und den Beschäftigten) gegenüber den kommunalen Arbeitgebern. Im Laufe des Streiks hat das auch ein großer Teil der Beteiligten begriffen und sich selbst politisiert. Die Distanz zu den Politikern der etablierten Parteien ist bei den meisten größer geworden, hat aber nicht in Resignation, sondern in Aktivität umgeschlagen.

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Die Streikstrategie war den gegebenen Bedingungen angemessen, muss jedoch bei künftigen Auseinandersetzungen geändert bzw. weiterentwickelt werden. Im Kern gruppierte sich in allen größeren Städten der Streik um die Müllabfuhr/Stadtreinigung und – unterschiedlich – um einige weitere Arbeiterbereiche. Sie streikten unbefristet, in der Regel mindestens sechs bis sieben Wochen, und um sie herum streikten die anderen Beschäftigungsgruppen flexibel. So wurde im Stuttgarter Klinikum die Strategie entwickelt, die erste Woche einen Tag, die zweite zwei Tage, die dritte drei Tage usw. zu streiken. In den Kindertageseinrichtungen wurde wechselweise in den Stadtbezirken jeweils drei Tage gestreikt. Manche Verwaltungsämter streikten immer mal wieder einzelne Tage. Ebenso wurde in den meisten Landkreisen oder Städten mittlerer Größe verfahren. Diese Strategie ermöglichte es ver.di, den Streik so lange durchzuhalten. In Stuttgart streikten auf diese Art und Weise jeden Tag zwischen 1000 und 5000 Beschäftigte. Jede Woche wurde mindestens eine Demonstration organisiert und jeden Tag eine Streikversammlung durchgeführt, auf der alle wesentlichen Informationen ausgetauscht und die weitere Vorgehensweise besprochen wurde. Es gab Streikversammlungen für alle und auch Versammlungen der einzelnen Betriebe und Dienststellen. So entstand nicht nur eine beachtliche Streikdynamik, sondern auch eine demokratische Streikkultur, die stark dazu beigetragen hat, dass die Streikenden selbst zu den Hauptakteuren des Streiks wurden. So war auch eine wichtige Aussage bei der Auswertung der bezirklichen Streikleitung, dass die Gewerkschaft für ihre Kollegen/innen endlich wieder fass- und erfahrbar geworden ist.

Angestoßen durch die täglichen Versammlungen hat sich ein breites Spektrum von Aktivitäten entwickelt, in die viele Streikende einbezogen waren. Das ging vom Verteilen von Bürgerinfos, Plakate und Transparente für die Demos malen, Infostände organisieren, bis hin zur Vorbereitung von betriebsnahen Aktionen, kulturellen Beiträgen u.v.a.m. Es hat sich so etwas wie ein gewerkschaftlicher und kultureller Raum entwickelt, den die Streikenden gefüllt haben.

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Entscheidend war, dass neue Streikakteure dazu gekommen sind, insbesondere die ErzieherInnen in den Kindertageseinrichtungen, aber auch Beschäftigte in den städtischen Altersheimen und in anderen Ämtern. Bei den Erzieher/innen in Stuttgart hat sich während des Streiks der Organisationsgrad verdoppelt und von ca. 1800 Beschäftigten in den Kindertageseinrichtungen waren an jedem Streiktag 900-1200 beteiligt. 100-130 Kindertageseinrichtungen von 180 waren so bei jedem Streiktag geschlossen. Hierauf kann ver.di für die Zukunft aufbauen.

Nach mehreren Wochen Streik wurden die städtischen Müllabfuhren mit Privatisierung bzw. dem Einsatz von Privaten bedroht. In Stuttgart wurden nach der dritten Woche private Müllentsorger als Streikbrecher eingesetzt. Ver.di reagierte darauf mit der Blockade des Müllheizkraftwerkes und ab der siebten Streikwoche mit einer flexiblen Streikstrategie. Die Kollegen gingen einen Tag rein, einen Tag raus, einen Tag rein und zwei Tage wieder raus. So war der Einsatz der Privaten kaum noch kalkulierbar. In anderen Städten wurde der Streik bei der Müllabfuhr nach der sechsten bzw. siebten Woche beendet. Wir müssen künftig davon ausgehen, dass bereits in der ersten oder zweiten Woche bei der Müllabfuhr Private eingesetzt werden, sodass von Anfang an eine andere Streikstrategie entwickelt werden muss. Auf die Erfahrungen der flexiblen Streikstrategie, die hohe Disziplin erfordert, kann dabei zurückgegriffen werden. Die Organisierung der privaten Müllentsorger muss dabei ebenso große Priorität haben wie die Angleichung der Laufzeiten der verschiedenen Tarifverträge.

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Weitaus gravierender war jedoch die Schwäche von ver.di in den mittleren Städten und in den Landkreisen. Hier saßen zudem die Hardliner auf der Arbeitgeberseite. Die Streikstärke von ver.di in den großen Städten entspricht nicht der Struktur und Zusammensetzung des Arbeitgeberverbandes. Ver.di muss dringend Organisationsarbeit in den mittleren Städten und Landkreisen betreiben, um dort eine größere Streikfähigkeit herzustellen. Es ist davon auszugehen, dass sich die Arbeitgeber gerade in den großen Städten anders auf künftige Streiks vorbereiten werden, als auf diesen. Der Übergang zur so genannten flexiblen Streikstrategie (etwas irreführend, weil von Anfang an relativ flexibel gestreikt wurde) ist noch am ehesten in den ohnehin streikstärkeren Städten geglückt.

Eine weitere große Schwäche war die Abspaltung der Verkehrsbetriebe in einen eigenen Spartentarifvertrag. Die Einbeziehung des Verkehrs in den Streik hätte zu einem deutlich schnelleren Streikerfolg geführt. Der Weg in die Spartentarifverträge (abgesehen von der Energieversorgung sind es ja keine Sparten- sondern Absenkungstarifverträge) schwächt sowohl die Kampfkraft im Öffentlichen Dienst, als auch die in den Sparten. Obwohl der Verkehrsbereich sehr gut organisiert und kampferprobt ist, ist er als Defizitbereich enorm erpressbar (mit europäischen Ausschreibungen und Ausgliederungen). Bei der Härte der zu erwartenden Konflikte ist es höchst fraglich, ob er auf sich allein gestellt eine so lange Auseinandersetzung durchhalten kann. Es wird also auch im Interesse der Beschäftigten in diesem Bereich sein, wieder in die Tarifverträge des Öffentlichen Dienstes integriert zu werden. Eine Fortsetzung oder gar Erweiterung der Spartenpolitik wäre verheerend.

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Dass die Solidarisierung und Koordination mit der IG Metall nicht besonders geglückt ist, lag weniger an ver.di, als an der IGM. Dass es jedoch kaum spürbare praktische Solidarität der anderen Fachbereiche von ver.di gegeben hat – in einer für die Gesamtorganisation existenziellen Situation –, muss in ver.di aufgearbeitet werden (das bezog sich am wenigsten auf die gegenseitige Unterstützung der Hauptamtlichen vor Ort). Offensichtlich fehlt es an Bewusstsein über alle Fachbereiche hinweg, dass heute Tarifkonflikte in aller Regel politische Auseinandersetzungen sind, die auch eine politische Herangehensweise und Solidarität aller Bereiche von ver.di erforderlich machen. In den Städten, in denen am heftigsten gestreikt wurde, lief die politische und organisatorische Vorbereitung und Durchführung des Arbeitskampfes über die bezirklichen Streikleitungen, also in Strukturen außerhalb der ver.di-Matrix. Ver.di muss sich die Frage stellen, was die Matrix wert ist, wenn sie in entscheidenden Auseinandersetzungen keine Bedeutung hat und bei der Herstellung übergreifender Solidarität mehr oder weniger versagt.

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Die Sympathie für den Streik in der Öffentlichkeit blieb im Unterschied zur veröffentlichten Meinung relativ stabil. Die praktische Unterstützung der Öffentlichkeit oder auch der sozialen Bewegungen blieb jedoch weitgehend aus. Für künftige Auseinandersetzungen müsste ver.di vorher Strukturen (Gruppen, Personen des öffentlichen Lebens) aufbauen, die diesen Teil der Arbeit organisieren. Während des Streiks sind alle gewerkschaftlichen Kräfte so stark absorbiert, dass sie diese Arbeit nicht auch noch leisten können. Die Gruppen der sozialen Bewegungen und andere zivilgesellschaftliche Kräfte müssen sich jedoch auch die Frage gefallen lassen, warum sie diesen hochpolitischen und gesellschaftlich exemplarischen Tarifkonflikt so wenig beachtet und praktisch unterstützt haben.

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Obwohl das Ergebnis eine halbe Stunde Mehrarbeit bedeutet, ist es auch ein materieller Erfolg. Die 40-Stunden-Woche wurde verhindert und in der beschriebenen Konstellation hätte auch eine Fortsetzung des Streikes (mit abnehmender Beteiligung) kein besseres Ergebnis gebracht. Die Spekulation, dass eine Fortsetzung im Bündnis mit der IG Metall, der französischen Massenbewegung oder mit den Ländern einen größeren Erfolg gebracht hätte, wie es verschiedene Gruppen auf der Linken darstellen, ist auf Sand gebaut und definitiv falsch. Der IG Metall-Streik hat nicht stattgefunden und die französischen Proteste sind sehr schnell mit einem Erfolg zu Ende gegangen. An den Kräfteverhältnissen hätte das aktuell nichts geändert. Es war auch nicht mehr möglich, gar keinen Abschluss zu machen, wie es auch in unserem Bezirk nach drei bis vier Streikwochen noch diskutiert wurde. Neun Wochen Streik und ein andauernder tarifloser Zustand wäre von den Streikenden als Niederlage bewertet worden, genauso wie ein Ergebnis über 39 Stunden (das war die magische Grenze). Die überwiegende Mehrheit der Streikenden sieht deshalb diesen Kampf als Erfolg an. Auch dadurch, dass über das Ergebnis auf Streikversammlungen ausführlich diskutiert wurde und der Streik demokratisch zu Ende gebracht wurde. Selbst diejenigen, die bei der Urabstimmung mit "Nein" stimmten, haben keinen Groll gegen ver.di. Die gewerkschaftliche Bindung ist eindeutig größer geworden. Auf ein Streikfest des ver.di Bezirkes Stuttgart sechs Wochen nach Beendigung des Streiks sind immer noch über 500 Kollegen/innen gekommen und haben ausgelassen gefeiert.

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ver.di ist zumindest teilweise organisatorisch stärker geworden. Im Streik konnten in Stuttgart ca. 100 neue Vertrauensleute dazu gewonnen werden. Bei den aktuellen Vertrauensleutewahlen hat sich in einigen Streikbetrieben die Zahl der Kandidaten/innen verdoppelt und es wurden weitaus mehr Vertrauensleute gewählt als in der Vergangenheit. Es besteht eine große Chance, hier organisationspolitisch mittel- und langfristig in den Betrieben und Einrichtungen die Basisstrukturen zu stärken. Ein wenn auch kleinerer Teil der Streikenden beteiligt sich zwischenzeitlich an den politischen Veranstaltungen des Bezirks. Auf die im Streik erfolgte Politisierung könnte ver.di auch für den Widerstand gegen den Sozialabbau der großen Koalition zurückgreifen. Mit der Aufklärung über die Politik der großen Koalition und dem Aufbau von Gegenwehr muss deshalb jetzt begonnen werden.

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Dieser Streik war ein reiner Abwehrkampf. Aus heutiger Sicht hätte auch eine offensive Forderung (Arbeitszeitverkürzung) daran nichts geändert. Für die Zukunft müssen wir jedoch wieder eigene Forderungen entwickeln, für die gestreikt werden kann. Die nächste Herausforderung im Öffentlichen Dienst ist dabei mit Sicherheit die Gehaltsrunde Ende 2007/Anfang 2008. Diejenigen, die jetzt beim Streik dabei waren, wollen nicht mehr 14 Jahre auf den nächsten Arbeitskampf warten. Sie erwarten eine klare Positionierung für deutliche Gehaltserhöhungen und wissen genau, dass das ohne erneuten Streik nicht zu machen ist. Die rechtzeitige Vorbereitung verbunden mit den richtigen Konsequenzen aus dem aktuellen Streik könnte ein wichtiger Schritt heraus aus der Defensive sein.

Bernd Riexinger ist Geschäftsführer des ver.di-Bezirks Stuttgart.

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