1. September 2002 Ömer Turgut

Türkei: 12 Uhr Mittags

Jener Teil der politischen Klasse der Türkei, der an der Nato und den Segnungen der kapitalistischen Gesellschaftsformation ausgerichtet ist, will die türkische Gesellschaft endlich aus dem Zwielicht herausholen. Bei den auf den 3.November 2002 angesetzten Parlamentswahlen soll eine unumkehrbare Entscheidung in diese Richtung fallen. Die relativ positive Wirtschaftsentwicklung seit Jahresbeginn hat die politischen Verhältnisse in Bewegung gebracht.

Mit Blick auf eine nicht länger hinaus zu schiebende Vorleistung für eine Mitgliedschaft in der Europäischen Union und die richtige "Wahl" in der eskalierenden Auseinandersetzung zwischen der USA und dem Irak will jene an der Modernisierung der Türkei interessierte Fraktion des Kapitals zusammen mit den auf Modernisierung drängenden Teilen der Lohnabhängigen eine Richtungsentscheidung der türkischen Wahlbevölkerung erzwingen.

Als Träger der Operation war die von der linksnationalistischen Partei Ecevits DSP abgespaltene Partei "Neue Türkei" vorgesehen. Der frühere Aussenminister Cem hat zusammen mit den "innovationsfreundlichen" Teilen des Kapitals diese neue Allianz geschmiedet und zudem vorgezogene Neuwahlen erzwungen. Zu dieser neuen sozialdemokratischen Partei (YTP) sind mittlerweile 71 von 128 Parlamentsabgeordnete der Ecevit-Partei DSP übergelaufen. Zentrale Botschaft der neuen Partei: Reformen für die EU-Mitgliedschaft, Kampf an der Seite der USA gegen den Islamismus, insbesondere den Irak, und: "Die Demokratie wird den Bauch füllen."

Nach längerem Zögern ist der erfolgreiche Superminister Dervis aus der Regierung Ecevit ausgeschieden. Zur großen Überraschung trat er aber nicht der YTP bei, sondern hat sich der Republikanischen Volkspartei (CHP) angeschlossen, die als Konkurrent der sozialdemokratischen DSP die 10%-Sperrklausel bei den letzten Wahlen nicht überwinden konnte. Dervis, der populärste Politiker des Landes, will das symbolische Kapital des Krisenmanagers und Erneuerers für die Erneuerung der Landes nutzbar machen.

Allerdings ist sein Projekt, nach einer ersten Sanierung der türkischen Ökonomie auch eine Umgruppierung der Parteienlandschaft zu organisieren vorerst gescheitert. Die Bündelung der Wähler von CHP, DSP und YTP in einem parteipolitischen Bündnis wäre die Voraussetzung für eine Reform der politischen Institutionen und eine Fortführung des ökonomischen Sanierungskonzeptes. Denn auch die islamistisch geprägten Parteien suchen nach einem radikalen Ausweg aus der Krise; sie wollen allerdings in Absetzung von Europa und der Nato eher eine Anlehnung an die anderen islamistisch geprägten Staaten. Diese Spaltung der politischen Klasse und des Parteiensystems in mehr oder minder gemäßigte Islamisten und Anhänger der kapitalistischen Modernisierung ist der Grund für die hartnäckige Blockade von Gesellschaftsreformen.

Für Reformpolitiker galt bisher die die Devise: "keine finanzpolitische Fehler machen und keine Krise in der politischen Klasse provozieren". Bekanntlich hatte nur ein beträchtlicher Einsatz der kapitalistischen Hauptländer im Jahr 2001 den ökonomisch-politischen Absturz des Landes verhindert:
– Die Türkei erhielt ein großzügiges Umschuldungsprogramm unter Führung des Internationalen Währungsfonds (IMF). Dies war verbunden mit zusätzlichen Finanzressourcen in der Größenordnung von 20 Mrd. $.
– Der Wirtschafts- und Finanzexperte Dervis wurde mit breiter Unterstützung des In- und Auslandes als Superminister für Wirtschaft- und Finanzen inthronisiert.
– Ausgabenkürzungen im öffentlichen Bereich, die Neugestaltung des staatlichen Beschaffungswesens und die Stabilisierung des öffentlichen wie privaten Bankensystems wären ohne Intervention von Außen wohl nicht zustande gekommen.

Dass der erneute Reformanlauf der Koalitionsregierung unter Ecevit erfolgreich sein könnte, hing nicht nur am neuen Schuldenmanagement, der beschleunigten Privatisierung öffentlichen Eigentums und einer Belebung der Realökonomie, sondern an zwei weiteren, entscheidenden Faktoren: Innepolitisch musste sich die Koalition als stabil erweisen und ihren Reformkurs unbeschadet des wachsenden sozialen Widerstandes und der Intrigen innerhalb der politischen Klasse fortführen. Außenpolitisch setzte ein erfolgreicher Reformkurs voraus, dass sowohl die Konflikte im Nahen Osten (Palästina, Irak, Iran) als auch der Militäreinsatz in Afghanistan begrenzt bleiben.

Die ökonomische Sanierungskur war auch unter den deutlich verschlechterten weltwirtschaftlichen Rahmenbedingungen relativ erfolgreich. Während die türkische Ökonomie im Jahr 2001 noch um rund 7% (BIP) schrumpfte, ist sie im ersten Quartal um über 2% gestiegen und hat die Industrieproduktion fast wieder das Niveau vor der Krise erreicht. Der konsolidierte öffentliche Haushalt, der im Vorjahr noch einen Fehlbetrag von 16,4 Prozent (BIP) auswies, ist in der Finanzplanung für das laufende Jahr so angelegt, dass ein Defizit von gut 10% (BIP) zu finanzieren ist. Dies bedeutet, das von den unterstellten Steuereinnahmen rund 75% an die nationalen und internationalen Gläubiger gehen. Durch weitere Verkäufe von öffentlichem Eigentums soll die Neuverschuldung bei ca. 10% gehalten werden.

Anfangserfolge sind also nicht zu bestreiten. Im jüngsten BIZ-Bericht wird festgehalten: "Mitte April 2002 hatte die Lira gegenüber ihren Tiefpunkt von Mitte Oktober wieder um 30% aufgewertet, und der Zinssatz der inländischen Referenzanleihe war um mehr als 20 Prozentpunkte gefallen...Die Türkei konnte daher im ersten Quartal 2002 wieder an den internationalen Kapitalmarkt zurückkehren und bei rückläufigen Renditeaufschlägen (zwischen 550 und 700 Basispunkten) für etwa $ 1,5 Mrd. Staatsschuldverschreibungen begeben."

Die Preissteigerungsrate sollte gemäß Auflagen des IMF von knapp 70% im Jahr 2001 auf 35% im laufenden Jahr zurückgeführt werden. Diese Planziffer wird nicht erreicht werden, aber faktisch kann sich der Rückgang auf 41% auch schon als Erfolg sehen lassen. Der Internationale Währungsfonds wollte nicht nur eine Reihe von Privatisierungen von öffentlichen Unternehmen sehen, stärkere Fiskaldisziplin auf allen staatlichen Ebenen, sondern auch ein umfassende Reform der Steuergesetze und eine Modernisierung der öffentlichen Verwaltung. Immerhin waren die Kommissare vom IMF mit der Arbeit des Superminister Dervis so zufrieden, dass sie eine weiter Kredittranche von 1,15 Mrd. $ ohne weitere Auflagen freigegeben haben. Mit dieser Finanzspritze kann die Türkei das Schuldenmanagement bis zu den Parlamentswahlen bewegen. Der Superminister ist nach dieser Bestellung des Feldes zurückgetreten und macht für die CHP Wahlkampf.

Dass diese Machtprobe kompliziert sein würde, war allen Beteiligten klar. Zur Zeit sehen die Demoskopen die gemässigt islamistische Partei für Gerechtigkeit und Fortschritt als stärksten Faktor. Aber die Nato, der IMF und die westlichen Allierten hoffen, dass in der verbleibenden Zeit die Partei der "Neuen Türkei" zum Spitzenreiter aufsteigt und endlich die chronische Auseinandersetzung zwischen Islamisten und der von Militärs angeführten Modernisierungsfraktion aufheben kann. Durch den Beitritt von Dervis zur CHP haben diese Hoffnungen jedoch einen erheblichen Dämpfer erhalten.

Der Sanierungsprozess der Türkei ist in einer Legislaturperiode gewiss nicht zu leisten. Dervis will mit dem EU-Beitritt und der Zurückdrängung der Islamisten einen deutlichen Modernisierungschub organisieren. Bislang zieht die Türkei mit ihren 65 Millionen Einwohnern lediglich nur 1 Mrd.$ Auslandskapital an; bei Schaffung entsprechender Voraussetzungen müsste sich mehr Investitionskapital und damit eine wirkliche Durchkapitalisierung der türkischen Gesellschaft organisieren lassen.

Das größte Hindernis ist abgesehen von den gesellschaftlich-religiösen Blockaden die Staatsverschuldung. Zinsaufschläge von 5,5 bis 7% auf die riesige Staatschuld müssen erst erwirtschaftet werden. Bei einer Auslandsverschuldung von ca. 112% des BIP und inländischen öffentlichen Schuldtiteln von ca. 40% des BIP ist die Befreiung der türkischen Ökonomie von diesen Bleigewichten ein langwieriger Prozess. Bislang sind die westlichen Bündnispartner allerdings schon zufrieden, wenn es nicht – wie beim anderen Problemfall Argentinien – soweit kommt, dass die Bedienung der Schuldtitel ausgesetzt werden muss und die nationale Ökonomie weitgehend außer gesellschaftlicher Steuerung und Kontrolle gerät. Eine durchgreifende Sanierung ist noch nicht in Sicht und dürfte ohne Schuldenerlass letztlich auch nicht realistisch sein. Dass die Klassenstruktur der Türkei wie das gesamte politische System auch durch das große Gewicht des Finanzkapitals geprägt sind, macht den Ausweg eben nicht leichter. Unter solchen absurden Bedingungen müsste das Land enorme Anstrengungen unternehmen, um Status und Strukturen einer normalen kapitalistischen Metropole zu etablieren. Dass sich zugleich Teile der Bevölkerung von einer konsequenten Ausrichtung am Islam und entsprechenden Wirtschafts- und Bündnispartnern eine sozial verträglichere Entwicklung versprechen, dürfte eigentlich auch keinen Beobachter überraschen. Es wäre daher illusionär von den Neuwahlen in der Türkei eine politische Auflösung dieses gordischen Knotens zu erwarten.

Ausschlaggebend für die finanzielle und politische Unterstützung durch die hochentwickelten kapitalistischen Länder waren und sind politische Überlegungen. Die Türkei gilt als moderner islamischer Staat mit einer eindeutigen Ausrichtung auf das kapitalistische System und Einbindung in eine entsprechende Bündnis- und Militärkoalition. Die Türkei unterhält mit Israel eine breite Kooperation in der Rüstungspolitik und unterstützt die USA in ihrer Irak-Politik. Die Türkei hat die Führungsfunktion der internationalen Militärs in Afghanistan übernommen, obwohl das Land damit faktisch finanziell überfordert wird. Vor allem die USA wollen die Türkei zu einem Modellfall erheben: ein Staat, der laizistisch und trotzdem islamisch, ökonomisch und finanziell stabil ist; die Türkei soll einen Mindeststandard an Bürgerrechten realisieren und zudem selbst Einwanderungsland und vorgeschobener Posten der westlichen Verteidigungsallianz sein.

In der jetzigen Konstellation ist die Regierung nicht mehr entscheidungs- und handlungsfähig. Der Amtsverzicht einiger Minister und die Abspaltung etlicher Abgeordneten von der Linkspartei Ecevits versetzt das Parteiensystem und damit das gesamte politische System in Bewegung. Die spannende Frage der aktuellen Krise lautet: Wird durch diese Umgruppierung der politischen Kräfte das ökonomische Sanierungsprogramm gefährdet? Der kritische Punkt ist und bleibt die Verschuldung. Allein beim IMF hat die Regierung eine Kreditlinie von 19 Mrd. US$ durchgesetzt, von der bis November 2001 knapp 12 Mrd. $ in Anspruch genommen wurden. Ergänzend dazu kamen Finanzmittel von der Weltbank und von Finanzinstitutionen der hochentwickelten kapitalistischen Länder. Für den Zeitraum 2002 bis 2004 wird über eine Ausweitung der in Anspruch genommen Ressourcen und der Kreditlinie verhandelt. Die DB Research schätzt, dass die Türkei im laufenden Jahr 45% des Bruttoinlandsprodukts für Zinsen und Tilgungen aufwenden muss. Angesichts dieser Größenordnung stellt sich die Frage, ob dieses Verschuldungsniveau überhaupt tragbar und in den nächsten Jahren deutlich rückführbar ist.

Ömer Turgut lebt in Istanbul.

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